Montag, 10. Januar 2011

Die Ausbildung von Gruppenleitern

Wie läßt sich eine einigermaßen vernünftige Relation zwischen der rapide wachsenden Zahl von Leuten, die an Gruppen interessiert sind, und der Anzahl fähiger Gruppenleiter herstellen? Woher werden die Leiter dieser Gruppen kommen? Das ist ein dringliches Problem. Wir brauchen Gruppenleiter für alle Bereiche, die im vorigen Kapitel erwähnt wurden. Meine Absicht ist es, einen bedeutenden Versuch zur Lösung dieses Problems zu beschreiben und zu diskutieren.


Das Programm von La Jolla.

Der Versuch wurde im Center for Studies of the Person in La Jolla gemacht, einem Institut, dem auch ich angehöre und dessen Programm ich aus verschiedenen Gründen beschreiben möchte: Erstens halte ich das Programm für eine einmalige Sache, die sich in vielfacher Hinsicht von den meisten Trainingsprogrammen unterscheidet, zweitens kann ich einigermaßen objektiv darüber berichten, da ich an seiner Entwicklung nicht beteiligt gewesen bin und auch jetzt darin nur eine untergeordnete Rolle spiele; drittens leuchtet mir die angewandte Methode sehr ein, und ich wünschte, sie fände weitere Verbreitung als bisher.

Philosophie und Methode

Dem Programm liegt eine Auffassung zugrunde, die in erster Linie die Beziehung von Personen zu Personen betont. In einer Ankündigung heißt es:
»Dem Programm liegt eine auf Personen bezogene Philosophie der Gruppenleitung zugrunde, eine Auffassung, die davon ausgeht, daß ein Maximum an Wachsen für die Gruppe wie für den Gruppenleiter erreicht wird, wenn der Gruppenleiter an seiner Gruppe als Person teilnimmt und nicht als irgendeine Art von Experte.«


Diese Philosophie erklärt, weshalb man jede Anstrengung unternimmt, um das Wort Training zu vermeiden. »Training« impliziert, daß eine Person in irgendein Handwerk, eine Fertigkeit oder eine Kunst solange eingeübt wird, bis sie sie berufsmäßig ausführen kann. Aber man kann ein Individuum nicht zur Person trainieren. Es ist sehr bedauerlich, daß viele Leiter von Gruppen aus historischen Gründen (erklärt in Kapitel 1) »Trainer« genannt werden. In dem Maße, in dem sie dieser Bezeichnung entsprechen, sind sie meiner Beurteilung nach ungeeignet für jede Art von Intensiv-Gruppe. Das Programm von La Jolla betont deshalb das Menschsein der Person, die als Gruppenleiter wahrgenommen wird, und die Tatsache, daß er um so erfolgreicher ist, je wirklicher er in Interaktionen mit anderen Personen ist.
All das bedeutet, daß das Programm von La Jolla formlos und persönlich, der Unterschied zwischen Mitarbeiterstab und Teilnehmern minimal ist. Ich weiß, daß diese Feststellung mißverstanden werden kann. Kenntnisse und Erfahrung des Mitarbeiters werden vor dem Teilnehmer nicht verborgen. Er weiß zum Beispiel, daß verlegenes Schweigen typisch für den Beginn einer Gruppe ist, und betrachtet das weder als privilegierte Information noch als etwas, das er mit der Gruppe teilen muß. Er ist ein Mitarbeiter, aber in erster Linie ist er ein Mensch.
Aus diesen Ansichten ergibt sich ein weiteres spezifisches Merkmal des Programms. Soweit wie möglich wird eine schriftliche Bestätigung der Teilnahme am Programm vermieden. Es gibt keine Diplome, keine Zertifikate, keine wie auch immer gearteten Bestätigungen, daß der Teilnehmer nunmehr ein »Experte« ist. Man hofft und glaubt, daß eine Person nach Beendigung des Programms für den Umgang mit ihren eigenen Gruppen etwas besser qualifiziert ist als zuvor. Das ist das ganze Ziel. Seine Gruppen daheim können Klassen, Firmenbelegschaften oder als Encounter-Gruppen bezeichnete Gruppen sein. Es besteht jedoch nicht die Absicht, aus den Programmteilnehmern Gurus für Encounter-Gruppen zu machen!
Einer der Gründe für diesen Grundsatz liegt darin, daß niemand garantieren kann, daß aus jedem Teilnehmer ein angemessener Gruppenleiter geworden ist. Wenn er kein Diplom und kein Zertifikat hat, das er sich zu Hause an die Wand hängen kann, dann wird man ihn nach dem beurteilen, was er ist, und selbst entscheiden, ob er für eine Gruppe nützlich ist oder nicht. Wenn er es nicht ist, kann er niemandem durch sein Diplom Achtung und Ehrfurcht einflößen.
In enger Verbindung zu diesem Grundsatz steht die Tatsache, daß auf die Empfehlungen und Zeugnisse potentieller Programmteilnehmer wenig Wert gelegt wird. Daher gibt es unter ihnen nicht nur Doktoren der Medizin und der Philosophie, sondern ebenso Leute ohne einen College-Abschluß. Alle sind einander als Personen gleich.
Nach dieser Darstellung des philosophischen Hintergrunds wollen wir uns nun einer sachlicheren Beschreibung des Programms zuwenden. Es sind Programme von einer, zwei, drei und vier Wochen ausprobiert worden, aber derzeit ist man der Auffassung, daß drei Wochen der beste Zeitraum sind. Die Anzahl der Teilnehmer ist zum Teil aus Gründen der Unterbringung auf etwa hundert Personen beschränkt. Drei Programme dieser Art werden jeden Sommer durchgeführt, da in dieser Zeit die meisten Gelegenheit haben, sich von ihren beruflichen Verpflichtungen freizumachen.


Auswahl

Die Entscheidung über die Teilnahme liegt weitgehend bei den Teilnehmern selbst, obwohl Personen vorgezogen werden, die sich bereits mit wichtigen Gruppen befassen. Im allgemeinen kommen die Teilnehmer der Sommerprogramme aus einflußreichen Positionen in amerikanischen Institutionen. Es sind College-Direktoren, Volksschul-Verwalter, sehr viele Lehrer, Psychologen, Berater, Studenten und Geistliche der verschiedenen Konfessionen. Es kommen aber auch einige Leute aus dem Ausland und in zunehmendem Maße Ärzte und Fürsorger.

Elemente des Programms

Obwohl das Programm von Jahr zu Jahr verschieden ist und allen Veränderungen offen steht, sind drei wichtige Elemente von Anfang an geblieben: Erfahrung als Teilnehmer an mehr als einer kleinen Encounter-Gruppe; kognitive Sitzungen, die die Teilnehmer mit einer Vielzahl von Ansätzen zur Gruppenarbeit bekanntmachen und Gelegenheit zur Leitung einer Wochenend-Gruppe zusammen mit einem Gruppenleiter des Programms bieten.
Diese drei Elemente möchte ich ein wenig ausführlicher beschreiben. Von den hundertfünfzig Stunden des Programms entfällt etwa die Hälfte auf direkte Erfahrung in Encounter-Gruppen. Die Leiter dieser Gruppen haben umfassende Erfahrung in der Arbeit mit Gruppen und mindestens einmal an einem Sommerprogramm in La Jolla teilgenommen. In letzter Zeit ist der Versuch gemacht worden, den Teilnehmern Erfahrung in mehreren Encounter-Gruppen zu vermitteln, was verschiedene Vorteile hat. Der Teilnehmer merkt, daß die Zusammensetzung seiner ersten Gruppe nicht zufällig optimal war und daß der Prozeß nicht nur ausschließlich bei dieser Gruppe in Gang kam. Er lernt die Trauer kennen, die den Abschied von Personen begleitet, denen er sehr nahe gewesen war. Er stellt fest, daß auch eine zweite oder dritte Gruppe nur langsam anläuft und die gleichen Anfangsschwierigkeiten zu überwinden hat, obwohl alle Mitglieder gerade eine bedeutende Gruppenerfahrung hinter sich haben. Man kann nicht auf »sofortige Intimität« hoffen, sondern muß erneut zu gegenseitigem Vertrauen gelangen. Ein weiterer Vorteil ist, daß jede Person alle Teilnehmer des Programmes besser kennenlernt.
Letztes Jahr wurden mehrere intensive Begegnungen für alle Teilnehmer veranstaltet, die große Zustimmung fanden und ausgesprochen erfolgreich verliefen. Wenn die Teilnehmer ihre Erfahrung mit der Encounter-Gruppe gemacht haben, kann sich die intime Atmosphäre einer solchen Gruppe auch auf eine viel größere Gemeinschaft übertragen.
Ich erinnere mich sehr lebhaft an eine derartige Begegnung, an der ich selbst teilnahm. Über neunzig Personen bildeten eine lebendige und offene Encounter-Gruppe. Die Spannungen zwischen zwei leitenden Mitarbeitern des Programms wurden von den Teilnehmern erlebt, aber nicht verstanden, und so ermutigten sie die beiden, ihre Spannungen aufzudecken. Die ganze Gruppe nahm an dem zunächst zögernden, dann aber offenen und tränenreichen Ausdruck von Gefühlen teil, und die heilende Wirkung der gesamten Gruppe war ebenso bemerkenswert wie die Enthüllungen der beiden Mitarbeiter, die sich als das zu erkennen gaben, was sie waren, nämlich Menschen. Unter entsprechenden Umständen kann zweifellos auch eine große Anzahl von Personen zu einer einheitlichen Encounter-Gruppe werden, die genauso wirkungsvoll ist wie die übliche kleine Gruppe.
Der kognitive Teil des Programms richtet sich zum Teil nach den Wünschen und Bedürfnissen der Teilnehmer und wechselt daher von Programm zu Programm. Er umfaßt jedoch gewöhnlich Gespräche, Diskussionen und Veranstaltungen wie die folgenden:
Theoretische und praktische Sitzungen.
Die Leitung einer Demonstrationsgruppe und Diskussion derselben. Ein auf Personen bezogenes Modell der Gruppenleitung. Strukturierte Ansätze zur Gruppenarbeit. Gruppenraum-Simulation als ein Lernansatz. Psychodrama.
Theoretische Überlegungen in Beziehung zu Gruppen.
Anwendungsmöglichkeiten zur Behebung von Rassenkonflikten.
Hintergründe und Notwendigkeiten der Forschung.
Beziehungen zur Drogenszene.
Der Prozeß der Gemeinschaftsbildung.
Spezielle Anwendungsprobleme in
erzieherischen Institutionen, Beratung,
religiösen Institutionen, Familien.

Das dritte Element des Programms, die gemeinsame Leitung von Wochenend-Gruppen, erwies sich als ein gewagtes, aufregendes und im ganzen erstaunlich erfolgreiches Unternehmen. Die Teilnehmer, die sich zur gemeinsamen Leitung einer Gruppe imstande fühlen, suchen sich einen Partner und melden ihren Wunsch an, eine Gruppe selbständig zu leiten. Man verschickt Mitteilungen an viele Personen und Institutionen im Raum von San Diego und im übrigen Südkalifornien, die auf Wochenend-Workshops zu niedrigen Preisen aufmerksam machen (Einschreibungsgebühren und Lebenskosten). In den Mitteilungen wird ausdrücklich darauf verwiesen, daß die Gruppenleiter sich noch in der Ausbildung befinden.
Als dieses Unternehmen zum erstenmal geplant wurde, machte ich eine kleine Rechnung auf und versuchte zu beweisen, woran das Projekt notwendigerweise scheitern müsse. Ich ging davon aus, daß man mindestens fünf- bis sechshundert Personen brauchen würde, um genügend Gruppenmitglieder zu haben, und das zu erreichen schien mir unmöglich. Zu meiner Überraschung meldeten sich sechshundert Personen für das erste und achthundert für das nächste Wochenende. Das zeigt meiner Ansicht nach nur zu deutlich, wie groß das Bedürfnis der Leute nach größerer Intimität und besserer Kommunikation ist. In den ersten drei Jahren nahmen

ungefähr achttausend Menschen an diesen Wochenend-Gruppen teil, und die nachträglichen Reaktionen waren fast einheitlich positiv und häufig sogar enthusiastisch. Bisweilen schienen die Erfahrungen in diesen Wochenend-Gruppen besser gewesen zu sein als die Erlebnisse in Gruppen unter weit erfahreneren Händen.
Bei den achttausend Personen, die bislang an diesen Gruppen teilgenommen haben, kam es in keinem Fall zu einem wie auch immer gearteten psychologischen Zusammenbruch während der Wochenenden. In zwei Fällen kam der Zusammenbruch viel später, aber es fragt sich, ob das nicht der normale Prozentsatz einer gleich großen Bevölkerungszahl im gleichen Zeitraum ist.
Ich habe über die bisweilen erstaunlichen Erfolge dieser Wochenend-Gruppen lange nachgedacht und bin dabei auf einige Punkte gestoßen, die für die Gruppenleitung vielleicht wichtig sind. Die Leiter dieser Gruppen, deren Erfahrungen von null bis beträchtlich reichen, sind zwei Wochen lang in einer oder mehreren Encounter-Gruppen gewesen, ehe sie ihre erste Wochenend-Gruppe leiten. Das heißt, daß sie ihren Gefühlen gegenüber offen und sich ihrer selbst bewußter sind als gewöhnlich. Sie sind viel mehr daran gewöhnt, sich selbst voll und unmittelbar als Person einzusetzen. Wenn sie mit einer Gruppe von Fremden zusammentreffen, um die Entwicklung des Gruppenprozesses in Gang zu bringen, sind sie daher so voll und ganz »gegenwärtig«, wie ein Individuum es nur sein kann. Jeder ist ein Mensch, der versucht, mit sich selbst in Berührung zu kommen, jeder bemüht sich als die Person, die er ist, mit den anderen an dem Gruppenprozeß teilzunehmen. Er steht irgendwo zwischen dem Punkt, an dem er angefangen hat, und dem Ziel, das er anstrebt. Ich glaube, diese Offenheit, Bewußtheit und Empfänglichkeit — diese Echtheit und Spontaneität - sind teilweise die Gründe dafür, daß diese Wochenend-Gruppen fast immer sehr erfolgreich waren.
Ein weiterer Grund ist vielleicht noch in der Tatsache zu sehen, daß diese in der Ausbildung befindlichen Gruppenleiter keine »Experten« sind. Gruppenteilnehmer lassen sich von Personen, die sie als Experten wahrnehmen, nur zu leicht einschüchtern. Hier sind sie aber ausdrücklich darauf hingewiesen worden, daß die Gruppenleiter keine Fachleute sind, und deshalb fällt es ihnen oft leichter, ihre Masken fallen zu lassen. Außerdem fühlen sie sich für die Gruppe mehr verantwortlich. Bemerkenswert ist, was an gegenseitiger Hilfe geleistet wird. Der Gruppenleiter bemüht sich, für die Gruppe von Nutzen zu sein, aber die Gruppenmitglieder kommen ihm auch zu
Hilfe, wenn sie spüren, daß seine Funktion nicht förderlich ist. So gibt es Wachsen auf beiden Seiten.
Diese gemeinsame Leitung von Wochenend-Gruppen ist vielleicht der wichtigste Teil des ganzen Programms. Der Teilnehmer hat in seiner eigenen kleinen Gruppe gelernt, daß er tief und persönlich berührt werden und sich für Veränderungen öffnen kann. An den Wochenenden lernt er nun, daß er andere veranlassen kann, ebenso berührt zu werden und sich ebenso für Veränderungen zu öffnen. Er geht mit dem Wissen, daß er Gelegenheit zum Wachsen schaffen kann.

Die Beziehungen daheim

Im letzten Teil des Programms wird besonders betont, wie sich die Erfahrung daheim nutzen läßt. Die Teilnehmer werden dazu angehalten, ihre Erfahrungen aus dem Sommer in den bereits bestehenden Rahmen einzubauen, statt neue Encounter-Gruppen aufzubauen. Gemeinsam überlegt man, wie sich die neuen Einstellungen und Fähigkeiten verwenden lassen, um institutionalisiertes Leben persönlicher und den Bedürfnissen der Betroffenen angemessener zu gestalten. Man beschäftigt sich auch mit der Frage, wie sich die Atmosphäre einer Encounter-Gruppe auf das Familienleben übertragen läßt, denn man ist überzeugt, daß das Programm seinen Zweck nur dann erreicht hat, wenn sich die Funktion des Individuums in seiner eigenen Umgebung verbessert hat. Noch gibt es kein Instrument, um zu messen, wieweit das Ziel erreicht worden ist, aber die ständig wachsende Nachfrage nach Teilnahme an diesem Programm zeigt, daß die meisten das Gefühl haben, ihnen sei in dieser Richtung geholfen worden. Die meisten Anmeldungen für neue Programme gingen von persönlichen Kontakten zu Personen aus, die schon an früheren Programmen teilgenommen hatten, und das scheint ein gutes Zeichen zu sein.


Schluß

Meiner Ansicht nach steht dieses Programm in ziemlichem Kontrast zu vielen Ausbildungsprogrammen für Gruppenleiter in verschiedenen Teilen dieses Landes. Es legt keinerlei Wert auf die manipulative, interpretierende und hochspezialisierte Begutachtung, die bei der Ausbildung von Gruppenleitern immer mehr Raum einzunehmen scheint.
 
Es legt keinen besonderen Akzent auf die »Übungen«, die für viele Gruppenleiter zu einer großen Trickkiste geworden sind. Statt dessen konzentriert es sich weitgehend auf die Entfaltung der Personen und die Verbesserung ihrer interpersonalen Beziehungen. Seine Philosophie wie auch sein Ansatz zur Ausbildung förderungswürdiger Personen sind für jeden der Betrachtung wert, der auf diesem Gebiet tätig ist.

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