Montag, 10. Januar 2011

Was bringt die Zukunft?

Einige Möglichkeiten

Wie sieht angesichts der rapiden Verbreitung von Gruppen die Zukunft der Gruppenbewegung selbst aus, und welche Folgerungen ergeben sich für unsere zukünftigen Institutionen und unsere gesamte Kultur? Ich bin zwar kein Prophet, aber ich möchte doch versuchen, so tief wie möglich in meine Kristallkugel zu blicken. Betrachten wir zunächst den allgemeinen Trend zur Entwicklung von Gruppen. Welche Richtungen könnten dabei eingeschlagen werden?
Zuerst muß ich eingestehen, daß die Gruppe nur zu leicht immer mehr in die Hände jener Ausbeuter fallen kann, die vorwiegend des persönlichen, finanziellen oder psychologischen Vorteils wegen die Gruppenszene betreten haben. Die Modeanhänger, die Kultverehrer, die Nudisten und Manipulatoren, deren Bedürfnisse auf Macht oder Anerkennung gerichtet sind, könnten die Herrschaft über die Encoun-ter-Gruppe erringen. In diesem Fall wird sie ins Verderben geraten und von der Öffentlichkeit immer mehr als das gesehen werden, was sie dann ist: ein ziemlich betrügerisches Spiel, das nicht in erster Linie dem Wachsen, der Gesundung und der konstruktiven Veränderung dient, sondern dem Vorteil ihres Leiters.
Eine ebenso enttäuschende Möglichkeit wäre, daß sie aufgrund exzessiven Eifers und der Verwendung immer »abgelegenerer« Verfahren durch die Gruppenleiter vom Mann auf der Straße abgelehnt wird, ohne daß er den solideren und positiveren Kern der Sache je zu sehen bekommen hätte. Ich habe bereits gehört, daß Gruppen, die sich auf persönliches Wachsen konzentrieren, Teilnehmer zugunsten jener Gruppen einbüßen, die sich auf das Charisma ihres Leiters berufen oder Gelegenheit zu körperlichem Kontakt mit Mitgliedern beider Geschlechter bieten. In dem Maße, in dem diese Entwicklung den Vortritt hat, kann der Begriff »Encounter-Gruppe« zu einem Schimpfwort werden, ähnlich wie es vor Jahren dem Begriff der »progressiven Erziehung« erging. Es lohnt sich vielleicht, diese Parallele näher zu betrachten. Da progressive Erziehung ungemein populär wurde und immer mehr von Extremisten und Leuten mit wenig oder

gar keinem Verständnis für die grundlegenden Prinzipien vertreten wurde, tat die Öffentlichkeit sie in Acht und Bann, und keine Schule wollte etwas damit zu tun haben. Heute wüßte ich keinen Erzieher, der öffentlich zugeben würde, daß er für eine progressive Erziehung eintritt. Daher ist sie scheinbar ausgestorben. Aber fast jede Veränderung, die in den letzten Jahrzehnten im Erziehungsbereich stattgefunden hat, läßt sich auf das Denken von John Dewey und auf die Prinzipien zurückführen, die der progressiven Erziehung zugrunde liegen.
Ich kann mir gut vorstellen, daß es den Encounter-Gruppen, dem Sensitivitäts-Training und allen anderen Gruppen ähnlich ergehen könnte. Man würde sie verdammen, und damit stürben sie aus. Aber die wichtigsten Elemente - die Entstehung von Vertrauen in kleinen Gruppen, das Mitteilen des Selbst, das Feedback und der Sinn für Gemeinschaft - würden bleiben und unter anderen Bezeichnungen zu jenen Veränderungen und zu jener Kommunikation führen, die wir alle so dringend brauchen.
Eine weitere, etwas bedrohlichere Möglichkeit besteht darin, daß die ganze Richtung von einer Gesellschaft unterdrückt wird, die sich anscheinend immer stärker gegen Veränderung wehrt und keinen Wert auf die individuelle Freiheit des Denkens und des Ausdrucks legt, auf Spontaneität und andere persönliche Merkmale, die in Encounter-Gruppen gefördert werden. Gegenwärtig ist die Wahrscheinlichkeit einer Machtübernahme durch die extreme Rechte in diesem Land größer als die durch die extreme Linke. Aber beides würde die Existenz der Encounter-Gruppe ausschließen, da in jedem Fall strenge Kontrolle, nicht Freiheit das zentrale Element wäre. Im heutigen Rußland oder selbst in der Tschechoslowakei wäre eine Encounter-Gruppe unvorstellbar, obwohl einiges darauf hindeutet, daß viele Menschen in diesen Ländern sich nach eben dieser Freiheit des Ausdrucks sehnen, zu der die Encounter-Gruppe ermutigt. Noch viel weniger kann man sich in der John Birch Society, bei den Minutemen oder dem Ku-Klux-Klan oder anderen organisierten rechten Gruppen eine Encounter-Gruppe vorstellen. Nein, die Encounter-Gruppe kann nur in einer grundsätzlich demokratischen Umgebung gedeihen. Wenn es in diesem Land zu einer diktatorischen Machtergreifung kommen sollte - und es tritt immer deutlicher zutage, daß diese Möglichkeit besteht -, dann wäre die gesamte Bewegung der intensiven Gruppenerfahrung das erste, was unterdrückt und verboten würde.
Da ich von Natur aus optimistisch und voller Hoffnung bin, kann ich mich nicht allzu lange bei diesen düsteren Visionen aufhalten. Sicherlich besteht ebenso die reale Möglichkeit, daß die Gruppenbewegung weiter wächst und immer mehr Einfluß gewinnt. Was dann? In diesem Fall werden wir, so glaube ich, eine noch größere Vielfalt der Formen erleben. Ich kann nicht weit genug voraussehen, um mir noch andere Formen als die in diesem Buch bereits erwähnten vorzustellen: Gruppen, die sich mit der Bildung von Teams befassen, mit der Entwicklung einer wirklichen Gemeinschaft, mit der Erweiterung des Bewußtseins, mit Meditation und Kreativität. Ich bin sicher, daß es in Zukunft noch viel mehr Möglichkeiten mit anderen Akzenten geben wird, aber einige der essentiellen Qualitäten der Encounter-Gruppe wird man sicher beibehalten. Dies werden dann die neuen Wege zu einem Leben sein, das voll und lebendig gelebt werden kann, auch ohne die Hilfe von Drogen.
Ganz sicher wird es einmal noch bessere Methoden geben, um der Person zu einem differenzierten, aber realistischen Verhalten in ihrer eigenen Umgebung zu verhelfen. Mit diesem Problem wird man sich nicht nur in der Gruppe, sondern auch im Anschluß an dieselbe befassen. Man wird Gruppen zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zusammenrufen, nicht um den alten Glanz der ersten Begegnung erneut aufleuchten zu lassen, sondern um festzustellen, welche Veränderungen stattgefunden haben. Kurz gesagt, es wird mehr und andere Ansätze geben, um die Individualisierung, die Einsicht und das Selbstvertrauen, das in der Gruppe begann, auch weiterhin zu fördern.
Geist und Klima der Encounter-Gruppe werden, glaube ich, eine weniger an äußere Form gebundene Verbreitung finden. Barbara Shiel hat uns an einem Beispiel gezeigt, wie das in einem Klassenzimmer aussehen kann 22), und ich habe gelernt, das gleiche Klima in einem College-Seminar zu fördern. Da gibt es keine organisierte Encounter-Gruppe. Da gibt es lediglich die Freiheit des Ausdrucks von Gefühlen und Gedanken zu jedem persönlich wichtigen Problem. Es bedarf einer etwas größeren Vorstellungskraft, um sich auszumalen, wie es in einem College oder in einem Industriebetrieb aussähe, wenn sie von diesem Klima durchdrungen wären. Und wenn man an eine bürokratische Einrichtung wie beispielsweise die Regierungsstelle, die sich mit den Angelegenheiten der Indianer befaßt,oder an das State Departement denkt, dann ist die Phantasie fast überfordert. Aber unmöglich ist deshalb nichts.
Wir werden einige dieser Möglichkeiten noch eingehend betrachten, wenn wir näher auf die verschiedenen Folgerungen für die Zukunft eingehen.


Implikationen für das Individuum
Auch hier kann ich nur die Tendenzen in die Zukunft übertragen, die ich bereits in der Gegenwart sehe. Sicherlich wird die Bewegung der Encounter-Gruppe zu einer wachsenden Gegenkraft zur Enthumani-sierung unserer Gesellschaft anwachsen. Wir leben in einer zunehmend unpersönlichen Welt der wissenschaftlichen und industriellen Technisierung, in der die Auffassung vorherrscht, daß der Mensch nur eine Maschine sei. Ein weiteres Element ist die wachsende Computerisierung der Industrie, Regierung, Erziehung und selbst der Medizin. Das ist nicht notwendigerweise von Nachteil, es bestätigt nur immer wieder die entpersönlichte Vorstellung, die der Mensch von sich selbst als einem mechanisch registrierten Objekt hat, mit dem sich ausschließlich Maschinen und Bürokraten befassen.
Hier hat die Encounter-Gruppe tiefgreifende Implikationen. Je mehr sich die Bewegung verbreitet, je mehr Individuen sich als einmalige Personen erfahren, um die sich andere einmalige Personen kümmern, desto mehr Wege werden sich auftun, um eine enthumanisierte Welt zu humanisieren. Das Individuum wird nicht länger einfach eine IBM-Lochkarte sein oder eine Reihe von Fakten, die ein Computer speichert. Es wird eine Person sein und sich als solche behaupten, und das wird zweifellos weitreichende Folgen haben.
In ähnlicher Weise kann die Encounter-Gruppe einen Versuch darstellen, die Isolation und Entfremdung des heutigen Menschen zu überwinden. Wer als Person die Erfahrung einer intensiven Begegnung mit einer anderen Person gemacht hat, ist nicht länger völlig isoliert. Die Erfahrung wird nicht unbedingt ihre Einsamkeit verringern, sie wird ihr aber zumindest beweisen, daß diese Einsamkeit kein unvermeidliches Element ihres Lebens ist. Und da die Entfremdung zu den beunruhigendsten Aspekten des modernen Lebens gehört, ist dies eine wichtige Implikation.
Mir scheint, daß die Gruppenerfahrung als ein Weg zu persönlicher
Erfüllung und zum Wachsen in Zukunft für das Individuum eine noch größere Bedeutung haben wird. Wenn die materiellen Bedürfnisse weitgehend befriedigt sind, was in unserer Überflußgesellschaft für viele Leute bereits zutrifft, dann wenden sich die Menschen der psychologischen Welt zu und suchen nach mehr Glaubwürdigkeit und Erfüllung. So sagte ein Gruppenteilnehmer: »Mir wurde eine völlig neue Lebensdimension eröffnet, und ich sah plötzlich eine Unzahl von Möglichkeiten in meinen Beziehungen zu mir selbst und zu allen, die mir lieb sind. Ich fühle mich jetzt wirklich lebendig.« Dieses Ziel, das Leben voller zu leben und seine Möglichkeiten in all ihrer Vielfalt zu entwickeln, scheint eine der großen Befriedigungen zu sein, denen der Mensch zustrebt. Unter den vielen verschiedenen Wegen, die er ausprobiert, um ein intensiveres Leben zu leben, ist die Encounter-Gruppe bereits heute ein viel begangener Weg, den er in der Zukunft wahrscheinlich noch mehr nutzen wird.
Eine der begrenzten, aber trotzdem sehr wichtigen Möglichkeiten der Encounter-Gruppe besteht darin, zur Lösung der Probleme in den Beziehungen zwischen Mann und Frau beizutragen. Was soll aus der Ehe werden, wenn in einigen Teilen Südkaliforniens drei von vier Ehen vor dem Scheidungsrichter enden? Was soll mit den Kindern aus diesen Ehen geschehen? Wie sieht die Zukunft der Familie aus? All diese Fragen lassen sich nicht durch Warnungen, Gesetze oder intellektuelle Diskussionen lösen. Vielleicht finden sich neue Antworten, wenn Männer und Frauen vor oder in der Ehe so tief wie nur möglich ihre eigenen, interpersonalen Beziehungen und das, was sie aus ihnen machen wollen, in der Erfahrung einer Gruppe erforschen. Hier lassen sich auch - besonders in der Familiengruppe - die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und ihre Unzulänglichkeiten erforschen und zukünftige Lösungen finden.


Bedeutung für unsere Gesellschaft

Offensichtlich liegt eine der bedeutendsten Implikationen der Encounter-Gruppe in der Tatsache, daß sie dem Individuum hilft, sich Veränderungen anzupassen. Nur sehr wenige Leute scheinen erkannt zu haben, daß der heutige und erst recht der Mensch der Zukunft vor der Frage steht, wie schnell sich der menschliche Organismus an die Veränderungen gewöhnen kann, die sich dank der Technik förmlich überstürzen. Toffler spricht in einem ausgezeichneten Artikel vom »Zukunftsschock« und meint, daß die Menschen bei dem Versuch, sich an die unglaublichen Veränderungen der heutigen Zeit anzupassen, eines Tages zusammenbrechen werden. Er bringt dafür ein Beispiel, das mich sehr beeindruckt hat. Er sagt, man könnte die Existenz des Menschen als etwa acht mal hundert Lebenszeiten von ungefähr sechzig oder mehr Jahren sehen, die sich über einen Zeitraum von fünfzigtausend Jahren erstrecken. Von diesen achthundert wurden volle sechshundertfünfzig in Höhlen verbracht. Nur während der letzten siebzig Lebenszeiten war eine effektive Kommunikation von einer Lebenszeit zur anderen möglich - durch die Erfindung der Schrift. Erst in den letzten sechs Lebenszeiten haben die Menschen ein gedrucktes Wort gesehen. Erst in den letzten vier war es möglich, die Zeit einigermaßen präzise zu messen. Erst in den beiden letzten hat irgend jemand irgendwo einen Elektromotor benutzt. Und die überwältigende Mehrheit aller materiellen Güter unseres heutigen täglichen Lebens wurden in der Gegenwart, in der achthundertsten Lebenszeit entwickelt23).« Die Technologie zwingt der Menschheit eine Geschwindigkeit der Veränderung auf, der der menschliche Organismus kaum gewachsen ist. Zweifellos ist die Encounter-Gruppe mit ihren verschiedenen Ablegern eine große Hilfe und trägt dazu bei, daß das Individuum sich seiner Gefühle in bezug auf Veränderung bewußt wird und aus der Veränderung eine konstruktive Möglichkeit macht. Das ist der Grund, weshalb einige der zentralen Kapitel dieses Buches der Frage gewidmet wurden, wie sich Menschen und Organisationen verändern. Dieses Problem wird im Laufe der Zeit wahrscheinlich immer dringlicher, und alles, was dem Menschen hilft, sich Veränderungen anzupassen, wird zweifellos von großer Bedeutung sein.
In ähnlicher Weise kann die Encounter-Gruppe uns als Instrument zur Veränderung von Institutionen helfen, der Zukunft zu begegnen, denn institutionelle Veränderungen sind ebenso wichtig wie persönliche Veränderung. Hier können die im letzten Kapitel besprochenen Anwendungsmöglichkeiten von großer Wichtigkeit sein. Wenn Regierung, Schulen, Kirchen, Industrie und Familie nicht mit großer Bereitwilligkeit auf die Notwendigkeit von Veränderung reagieren, dann ist unsere Gesellschaft dem Untergang geweiht. Was wir brauchen, sind nicht veränderte Institutionen, sondern Bereitschaft zur Veränderung innerhalb der Institutionen, Bereitschaft zu ständiger Erneuerung der organisatorischen Formen, institutionellen Strukturen und Richtlinien. Diesem Ziel sind einige Ableger der Gruppenbewegung sehr nahe gekommen.
Die Zukunft bedarf vielleicht noch dringlicher als die Gegenwart eines Instruments zur Handhabung interpersonaler und intergrup-paler Spannungen. In einer Gesellschaft, die von Rassenkrawallen, Studentenunruhen und unlösbaren internationalen Spannungen zerrissen wird, ist ein solches Instrument zur Verbesserung der Kommunikation von immenser Bedeutung. Wie andere neue soziale Erfindungen, so ist auch diese in Spannungssituationen nur allzu selten ausprobiert worden, aber wenn die Zukunft mit derartigen Konflikten einigermaßen erfolgreich fertig werden will, dann muß sie dieses Instrument weit häufiger einsetzen. Ich kann sagen, daß wir mit vielen Arten von Spannungen gearbeitet haben, mit rassischen Kontroversen, mit Konflikten zwischen Schülern, Lehrkörper und Schulverwaltung, mit Konflikten in Arbeiter-Management-Situationen usw. Diese Arbeit hat gezeigt, daß es Lösungen für solche Situationen gibt. Die Frage für die Zukunft lautet, ob wir das Instrument in größerem Umfang anwenden können.


Aufforderung an die Wissenschaft

Eine erregende Frage für die Zukunft ist die Aufforderung, die die Encounter-Gruppe an die Wissenschaft stellt. Hier liegt eindeutig ein kraftvolles und dynamisches Phänomen vor. Die Wissenschaft hat immer dann Fortschritte gemacht, wenn sie sich mit solchen potenten Situationen befaßte. Aber kann man eine menschliche Wissenschaft entwickeln, die imstande ist, die realen und subtilen Probleme angemessen zu erforschen, die in einer Encounter-Gruppe auftauchen? Bislang habe ich das Gefühl, daß die Forschung - so sehr auch in ihr gearbeitet wird - nur schwache und im wesentlichen überholte Versuche gemacht hat. Was dringend gebraucht wird, ist die Entwicklung einer phänomenologischen humanen Wissenschaft für dieses Gebiet.
Wie soll das geschehen? Ich weiß es nicht, aber ich kann einen Vorschlag machen. Angenommen, wir beschäftigten alle Versuchspersonen als Forscher! Angenommen, der kluge Forscher würde seine Versuchspersonen zu Mitforschern machen, statt die Veränderungen in ihnen auf die eine oder andere fragwürdige Weise zu messen. Es ist längst zur Genüge bewiesen, daß die sogenannte naive Versuchsperson ein Produkt der Einbildung ist. In dem Augenblick, in dem eine Person Gegenstand psychologischer Untersuchung wird, macht sie sich ihre eigenen Gedanken über Zweck und Absicht der Untersuchung. Je nach Temperament und Einstellung zu dem Forscher beginnt sie nunmehr entweder zu helfen, das zu finden, was er ihrer Ansicht nach sucht, oder sie vereitelt die Absicht der Untersuchung. Warum soll man all dem nicht aus dem Wege gehen und die Versuchsperson in das Forschungsteam aufnehmen?
Lassen Sie mich versuchen, das konkreter auszudrücken, und zwar anhand einer Überlegung, wie sich der Prozeß der Encounter-Gruppe und der Prozeß der Veränderung im Individuum tiefer oder humaner erforschen ließe.
Man versammle eine Anzahl von Leuten ohne Erfahrung mit En-counter-Gruppen und erkläre ausdrücklich, daß man zusätzlich zu der Erfahrung ihre Hilfe wünsche, um mehr über sie herauszufinden. Am Ende jeder Sitzung oder jedes Tages ließen sich jeder Person zwei Fragen stellen, die sie mündlich oder schriftlich beantworten könnte. Diese Fragen würden etwa lauten: (1) »Haben Sie das Gefühl, daß Sie jetzt in Ihren Gefühlen, Reaktionen, Einstellungen und Verhaltensweisen genau die gleiche Person sind wie zu Beginn dieser Sitzung? Wenn ja, dann sagen Sie es. Wenn Sie jedoch Veränderungen -gleichgültig, ob große oder kleine — bei sich feststellen, dann beschreiben Sie sie, so gut Sie können, und sagen Sie auch, was der Grund oder die Ursache für diese Veränderungen Ihrer Meinung nach ist.« (2) »Haben Sie das Gefühl, daß die Gruppe die gleiche ist wie zu Beginn dieser Sitzung? Wenn ja, sagen Sie es einfach. Wenn Sie spüren, daß die Gruppe sich in irgendeiner Weise verändert hat, beschreiben Sie diese Veränderung oder diese Veränderungen, so gut Sie können, und sagen Sie, warum sie Ihrer Meinung nach aufgetreten sind.«
Ein Mitarbeiter würde sofort mit einer ersten Analyse dieses Materials beginnen und die ähnlichen oder kontrastierenden Feststellungen der Teilnehmer zu beiden Fragen zusammenstellen. Am letzten Tag der Gruppe könnten diese zentralen Themen, Veränderung oder Nicht-Veränderung mit den Teilnehmern diskutiert werden. Ich glaube, daß ein Verfahren dieser Art zu tieferer Kenntnis und Einsicht in den Prozeß der Veränderung in Gruppen führen würde, als wir sie bislang besitzen.
Es würde mich überhaupt nicht stören, wenn jemand sagte: »Aber das ist doch nicht Wissenschaft!« Wenn Untersuchungen sachlich, mitteilbar und replikabel sind, dann sind sie auch wissenschaftlich. Ich bin überzeugt, daß wir über viele menschliche Geheimnisse mehr erfahren würden, wenn wir uns offen und ehrlich der Intelligenz und Einsicht der betroffenen Person bedienten. Das heißt nicht, daß dies die einzige Antwort wäre. Es könnte aber ein Weg sein zur Entwicklung einer Wissenschaft, die dem Studium der menschlichen Person angemessener ist.

Philosophische Werte.

Die Encounter-Gruppe hat eine eindeutig existentielle Implikation hinsichtlich der zunehmenden Tendenz, das Hier und Jetzt der menschlichen Gefühle und des Lebens zu betonen. Dieser existentielle Gehalt spiegelt viel von der derzeitigen Entwicklung unseres philosophischen Denkens und realen Lebens wider. Er illustriert den philosophischen Standpunkt von Maslow und May und einigen ihrer berühmten Vorläufer wie Kierkegaard und Buber. Er stimmt überein mit der aufregenden Theaterentwicklung einer Inszenierung wie Hair, die auf eine neue Art der unmittelbaren persönlichen Anteilnahme am Theater abzielt. Er steht in engem Bezug zu dem, was in Kunst, Musik und Literatur geschieht. Ich fühle mich außerstande, das alles in vollem Umfang darzulegen, aber es ist offensichtlich, daß die Encounter-Gruppe in einer Welt, die entsprechend einer in zunehmendem Maße existentiellen Philosophie lebt, einen entscheidenden Beitrag leistet.
Schließlich sollte diese Art der Gruppe in der Zukunft dazu beitragen, unsere Wertvorstellungen in bezug auf den Menschen selbst zu klären. Was ist unsere Vorstellung vom Menschen? Was ist das Ziel der Entwicklung der Persönlichkeit? Welches sind die Merkmale des optimalen Menschen? Ich bin sicher, daß aus diesem Buch eines klar hervorgeht: Gruppenmitglieder reagieren in einem freiheitlichen und förderlichen Klima spontaner und flexibler, sie treten in engere Beziehung zu ihren Gefühlen, werden Erfahrungen gegenüber offener und gelangen zu besseren interpersonalen Beziehungen. Das ist die Art von Mensch, die aus der Erfahrung mit der Encounter-Gruppe hervorgeht. Aber dieser Mensch steht in direktem Gegensatz zu vielen religiösen, gesellschaftlichen und politischen Standpunkten und ist nicht unbedingt das Ideal oder das Ziel des durchschnittlichen Menschen unserer Gesellschaft. Hier liegt ein Problem vor, das in der

Zukunft offener und eingehender Überlegungen bedarf. Wir haben die Möglichkeit, selbst zu wählen, welche Art von Person wir schaffen wollen.

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