Montag, 10. Januar 2011

Was wir aus der Forschung wissen

In diesem Kapitel soll nicht versucht werden, einen Überblick über die zahlreichen Untersuchungen in bezug auf Encounter-Gruppen zu geben, da Dr. Jack Gibb diese Aufgabe bereits in bewundernswerter und objektiver Weise gelöst hat ). Er analysierte 106 Untersuchungen, darunter sieben frühere Forschungsberichte, und überprüfte 24 neuere Dissertationen zu diesem Thema, die an 13 verschiedenen Universitäten eingereicht wurden. Diese Entwicklung ist neu. Vor 1960 gab es an den Universitäten dieses Landes so gut wie niemanden, der sich für die intensive Gruppenerfahrung interessierte. Zwischen 1967 und 1969 wurden 14 Dissertationen über diesen Bereich verfaßt, und seither sind zahlreiche weitere in Arbeit.
Gibb weist darauf hin, daß die häufig getroffene Feststellung über die mangelnde Forschungsarbeit auf diesem Gebiet einfach nicht zutrifft. Er fand eine ganze Reihe von höchst qualifizierten Untersuchungen, die - verglichen mit Untersuchungen im Bereich der Psychologie - jedoch weniger durchdacht und in den Resultaten häufig widersprüchlich sind.
Ich möchte aus seinen Schlußfolgerungen einige Feststellungen zitieren und sie kurz von meinem Standpunkt aus kommentieren.
»Es liegen eindeutige Beweise dafür vor, daß intensive Gruppenerfahrungen therapeutische Wirkungen haben.« Gibb kommt aufgrund der Ergebnisse zahlreicher Untersuchungen zu diesem Schluß, und ich glaube, das zu Beginn dieses Buches aufgeführte Material wird ihn bestätigen. Ich persönlich würde die Feststellung vorziehen, daß die Gruppe psychologisch wachstumsfördernde Wirkungen hat, um die Nebenbedeutungen eines Wortes wie »therapeutisch« zu vermeiden.
»Es zeigen sich Veränderungen der Sensitivität, der Fähigkeit, mit Gefühlen umzugehen, der Richtungsweisung von Motivationen, der Einstellungen zum Selbst, der Einstellungen zu anderen und der Interdependenz oder gegenseitigen Abhängigkeit.«

Diese Begriffe müssen in dem Sinne verstanden werden, in dem Gibb sie benutzt. Sensitivität impliziert größere Bewußtheit der eigenen Gefühle sowie der Gefühle und Vorstellungen anderer. Sensitivität ist auch Offenheit, Authentizität und Spontaneität.
»Die Fähigkeit, mit Gefühlen umzugehen«, bezieht sich in erster Linie auf die eigenen Gefühle und die Kongruenz zwischen Gefühlen und Verhalten.
»Richtungsweisung der Motivation« meint Konzepte wie Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung und innere Lenkung.
»Einstellungen zum Selbst« heißt Selbstakzeptierung, Selbstschätzung, Kongruenz zwischen wahrgenommenem und idealem Ich und Vertrauen.
»Einstellungen gegenüber anderen« schließt Verminderung autoritären Verhaltens, größeres Akzeptieren anderer, geringere Betonung von Struktur und Kontrolle sowie stärkeren Nachdruck auf Beteiligung am Management ein.
»Interdependenz« bezieht sich auf interpersonale Kompetenz, auf Teamarbeit zur Problemlösung und auf das Ziel, ein gutes Gruppenmitglied zu werden.
Da dies alles gewöhnlich die großen Hoffnungen eines Gruppenleiters konstituiert, ist es außerordentlich interessant festzustellen, daß Veränderungen in dieser Richtung tatsächlich stattfinden. Die bisher besten Untersuchungen bestätigen es.
»Die Untersuchungsergebnisse bieten keinen Grund zu der Annahme, daß die Mitgliedschaft bei Gruppen in irgendeiner Weise einzuschränken ist.«
Einer der häufigsten Mythen in bezug auf Gruppen besagt, daß nur bestimmte Leute in Gruppen aufgenommen oder die Teilnehmer von Gruppen sorgfältig ausgesucht werden sollen. Das stimmt mit meiner Erfahrung absolut nicht überein. Auf diesbezügliche Fragen pflege ich zu antworten, daß eine sehr sorgfältige Auswahl getroffen und niemand zugelassen werden soll, der keine Person ist! Es freut mich, daß eine Analyse aller vorhandenen Untersuchungen diesen meinen Standpunkt bestätigt.
»Gruppen ohne Leiter sind als Trainingsgruppen wirksam.«
Zu diesem Punkt sind am Western Behavioral Sciences Institute in La Jolla eingehende Untersuchungen angestellt worden, die eindeutig bewiesen haben, daß der Gruppenprozeß in Gruppen mit Leitern und in Gruppen ohne Leiter ähnlich verläuft. Es ist meines Erachtens eine noch immer offene Frage, ob die Gruppe ohne Leiter ebenso wirksam ist wie die geleitete Gruppe, aber sie ist zumindest nützlich und wirksam. Diese Feststellung eröffnet den Weg zu einer weit größeren Gruppenpraxis. Ich bin der Auffassung, daß eine Gruppe ohne Leiter einer geleiteten Gruppe entschieden vorzuziehen ist, wenn der Gruppenleiter die am Ende des 3. Kapitels erwähnten negativen Merkmale aufweist.
»Um eine optimale Wirkung zu erzielen, muß das Gruppentraining der beruflichen, sozialen und familiären Umgebung der Person entsprechen.«
Diese Feststellung ist ein starkes Argument für die von Gibb als »eingebettete« Gruppe bezeichnete Gruppenzusammensetzung, bei der eine enge und beständige Beziehung zwischen den Gruppenmitgliedern besteht. Meine eigenen Erfahrungen bestätigen diesen Punkt. In enger Beziehung dazu steht die Schlußfolgerung:
»Wirksame Beratungsbeziehungen auf kontinuierlicher Basis sind zumindest ebenso wichtig wie der determinierende Einfluß innerhalb der Gruppensitzungen auf den Teilnehmer.« In diesem Punkt haben viele Gruppenprogramme versagt. Eine dem Wesen der Gruppe und der jeweiligen Situation entsprechend fortlaufende, nachträgliche Beratung ist von größter Wichtigkeit, aber nur selten der Fall. Hier liegt auch einer meiner Haupteinwände gegen die sogenannten »Wachstums-Zentren« (»growth centers«), die häufig intensive Gruppenerfahrungen für eine Woche oder ein Wochenende, aber keine Möglichkeit einer nachträglichen Beratung bieten.
»Um optimal wirksame Erfahrungen zu erzielen, sollten die Gruppensitzungen kontinuierlich verlaufen.«
Auch dies bestätigt die Erfahrung vieler Gruppenleiter, daß man in zwanzig oder vierzig, über eine Woche oder ein Wochenende verteilten Stunden mehr erreicht, als wenn diese Stundenzahl durch eine Sitzung pro Woche auf mehrere Monate verteilt wird. Gibb weist auch darauf hin, daß die Gesamtzeit der Gruppe »länger sein sollte als üblich«, da die Untersuchungen zeigen, daß längere Gruppen eine größere Wirkung haben.
»Es gibt kaum einen Grund für die unter Laien weitverbreitete Besorgnis wegen der traumatischen Auswirkungen des Gruppentrainings.«
Es tut gut zu hören, daß dieses Gespenst zur Ruhe gekommen ist, denn nicht nur unter Laien, sondern häufig auch unter Psychologen und Psychiatern ohne Gruppenerfahrung geistern viele »Horrorgeschichten« über die entsetzlichen psychologischen Auswirkungen von Gruppen. Bei unserer Arbeit mit einer großen Schule, von der im nächsten Kapitel die Rede sein wird, gab es alle möglichen Gerüchte über Leute, die durch die Gruppenerfahrung so verstört waren, daß sie ihre Arbeit nicht wieder aufnehmen konnten. Als man diesen Gerüchten nachging, stellte sich heraus, daß sie fast ausschließlich von Leuten stammten, die selbst nie mit einer Gruppe in Berührung gekommen waren und nur das weitergaben, was sie von irgendwelchen »anderen« gehört hatten. Gibb berichtet von einer sehr sorgfältigen Untersuchung und Befragung von 1200 YMCA-Leitern, die an Gruppen teilgenommen hatten. Innerhalb der Organisation hatte sich das hartnäckige Gerücht verbreitet, daß es aufgrund der Gruppenerfahrung zu »ernsthaften psychologischen Störungen« gekommen sei. Es stellte sich schließlich heraus, daß nur vier von den 1200 Teilnehmern die Erfahrung negativ empfunden hatten. Als die Untersuchenden mit diesen vier Leuten sprachen, kamen drei von ihnen zu dem Schluß, daß es trotzdem eine nützliche Erfahrung gewesen sei. Nur einer (von 1200) blieb dabei, daß die Erfahrung für ihn negativ war, aber seine Arbeit führte er weiterhin mit Erfolg durch.
Diese Schlußfolgerung wird durch meine eigene Erfahrung bestätigt. Ich erkläre mir die immer wieder auftauchenden Gerüchte damit, daß viele Personen sich von der Möglichkeit einer Veränderung bedroht fühlen und ahnen, daß das Ergebnis einer Gruppenerfahrung in vielen Fällen eine Veränderung bedeutet. Wenn sie also hören, daß jemand in einer Gruppe geweint, eine schlaflose Nacht verbracht oder im Anschluß an die Erfahrung eine schwierige Periode seines Lebens durchgemacht hat, wie es bei Ellen (5. Kapitel) der Fall war, dann schließen sie daraus sofort, daß Gruppen schlecht und psychologisch destruktiv sein müssen. Auf diese Weise schützen sie sich selbst vor der Möglichkeit einer Veränderung.
Jeder an der intensiven Gruppenerfahrung Interessierte ist Dr. Gibb für seine umfassende, sorgfältige und vollständige Analyse aller im Bereich der Gruppenarbeit gemachten Untersuchungen zu größtem Dank verpflichtet, und ich empfehle jedem, der sich mit der Forschung auf diesem Gebiet befassen möchte, seinen Rat einzuholen.
Um dem Leser ein Gefühl für die sehr unterschiedlichen Arten von Forschung auf diesem Gebiet zu geben, möchte ich zwei Beispiele anführen, die Gibb aus verschiedenen Gründen nicht in seine Arbeit aufgenommen hat. Das erste ist eine streng empirische Untersuchung über das Wesen des Gruppenprozesses, ein Gebiet, das noch kaum erforscht worden ist. Das zweite ist nach professionellen Maßstäben eine weitaus »freiere« Untersuchung der Ergebnisse aus der Gruppenarbeit, die in erster Linie auf phänomenologischem Material beruht.


Der Prozeß der Encounter-Gruppe

Unter den wenigen Untersuchungen über das Wesen des Veränderungsprozesses in einer Encounter-Gruppe ist die von Meador wahrscheinlich die beste  ). Sie basiert auf einer Gruppe, die sich an einem Wochenende zu fünf Sitzungen von insgesamt sechzehn Stunden traf. Alle Sitzungen wurden gefilmt ). Die Gruppe bestand aus acht Mitgliedern und zwei Gruppenleitern. Aus dem Filmmaterial wählte Meador (nach unparteiischen und vorher festgelegten Richtlinien) für jede Person zehn zweiminutige Segmente aus - jeweils eins aus der ersten und eins aus der zweiten Hälfte jeder Sitzung. Auf diese Weise erhielt die Gruppe von jeder Person zehn zweiminutige Tonfilmsegmente - insgesamt achtzig solcher Ausschnitte. Die zehn Segmente für jedes Individuum wurden willkürlich und nicht in der richtigen Reihenfolge zusammengefügt. Dreizehn Gutachtern, die weder etwas von der Gruppe wußten noch ahnten, aus welcher Phase welches Segment stammte, wurden die Ausschnitte anschließend vorgeführt.
Zur Einschätzung benutzten sie Rogers Prozeß-Skala  ), eine siebenteilige Skala, die ein Kontinuum psychologischer Aktivität zwischen Rigidität und Stabilität von Gefühlen, Selbst-Kommunikation, Deutung von Erfahrung, Beziehungen zu Leuten, Beziehung zu eigenen Problemen, Veränderung und Spontaneität in diesen Bereichen darstellt. Nach einer Einweisung in den Gebrauch dieser Skala anhand von anderem Filmmaterial begannen die Gutachter die achtzig Segmente einzuschätzen, was nicht einfach war, da die Skala ursprünglich zur Beurteilung des Prozesses in der Einzeltherapie entwik-kelt worden war und die Gutachter sich in ihren Beurteilungen in keiner Weise sicher fühlten. Eine Analyse ihrer Schätzungen ergab jedoch ein zufriedenstellendes Maß an Zuverlässigkeit, das heißt, sie schätzten die Segmente in nahezu ähnlicher Weise ein.
Die Tabelle auf Seite 128/129 bedeutet dem Leser kaum etwas, wenn er nicht über die Skala, nach der die Personen eingeschätzt wurden, Bescheid weiß. Deshalb sollen die verschiedenen Stufen des Prozesses hier kurz beschrieben werden.
Stufe eins. Kommunikation ist etwas Nebensächliches. Es besteht eine mangelnde Bereitschaft zur Selbst-Kommunikation. Gefühle und persönliche Bedeutungen werden weder erkannt noch als solche angeeignet. Die Konstrukte sind extrem rigid. Enge Beziehungen werden als gefährlich gedeutet.
Stufe zwei. Gefühle werden bisweilen beschrieben, aber als nicht angeeignete, vergangene Objekte, ohne Bezug zum Selbst. Das Individuum steht seiner subjektiven Erfahrung fern. Es kann widersprüchliche Feststellungen über sich selbst als Objekt treffen, ohne die Widersprüche zu bemerken. Zu Themen, die nicht das Selbst betreffen, drückt es sich etwas freier aus. Es erkennt gelegentlich, daß es Probleme oder Konflikte hat, die aber als außerhalb des Selbst wahrgenommen werden.
druck des Selbst als eines Objekts wird freier. Es kann über das Selbst als ein reflektiertes Objekt kommuniziert werden, das vorzugsweise bei anderen existiert. Persönliche Konstrukte werden bisweilen als Konstrukte gesehen und ihr Wert in Zweifel gezogen. Die Erkenntnis beginnt sich durchzusetzen, daß Probleme eher innerhalb der Person liegen als außerhalb von ihr.
Stufe vier. Gefühle und persönliche Bedeutungen werden frei beschrieben als gegenwärtige Objekte, die dem Selbst zugehören. Intensive Gefühle werden immer noch als nicht gegenwärtig beschrieben. Vage wird erkannt, daß vor dem Bewußtsein geleugnete Gefühle in der Gegenwart durchbrechen können, aber diese Möglichkeit erschreckt. Unwillig und ängstlich wird zugegeben, daß man Dinge erfährt. Widersprüche bei Erfahrungen werden deutlich erkannt und bereiten Sorgen. Persönliche Konstrukte beginnen sich zu lockern. Gelegentlich wird festgestellt, daß Erfahrung so gedeutet wurde, als habe sie eine bestimmte Bedeutung, daß aber diese Bedeutung weder absolut noch der Erfahrung innewohnend ist. Mitunter wird Selbst-



Stufe drei. Es werden vielfach Gefühle und persönliche Bedeutungen beschrieben, die aber weiter zurückliegen und nicht hier und jetzt gegenwärtig sind. Diese zurückliegenden Gefühle werden häufig als schlecht und nicht akzeptabel dargestellt. Das Erfahren von Situationen wird meist in der Vergangenheitsform beschrieben. Der Aus-
Verantwortlichkeit für Probleme ausgedrückt. Das Individuum ist manchmal bereit, das Risiko einzugehen, auf einer gefühlsmäßigen Basis in Beziehung zu anderen zu treten.
Stufe fünf. Viele Gefühle werden im Augenblick ihres Auftretens frei ausgedrückt und auf diese Weise in der unmittelbaren Gegenwart erfahren. Diese Gefühle werden angeeignet oder akzeptiert. Zuvor geleugnete Gefühle dringen jetzt ins Bewußtsein, aber das Individuum hat Angst davor, daß dies geschieht. Es wird teilweise erkannt, daß unmittelbares Erfahren ein möglicher Wegweiser für das Individuum ist. Widersprüche werden erkannt und angezeigt durch Bemerkungen wie: »Mein Verstand sagt mir, daß es so ist, aber ich glaube das irgendwie nicht.« Es taucht der Wunsch auf, »mein wahres Selbst« zu sein, gleichzeitig wird die Gültigkeit vieler persönlicher Konstrukte in Frage gestellt. Das Individuum spürt, daß es für die in ihm existierenden Probleme eine bestimmte Verantwortung hat.
Stufe sechs. Zuvor geleugnete Gefühle werden jetzt unmittelbar erfahren und akzeptiert. Derartige Gefühle müssen nun nicht mehr geleugnet, gefürchtet oder bekämpft werden. Diese Erfahrung ist für das Individuum häufig dramatisch und befreiend.
Es wird jetzt voll und ganz akzeptiert, daß Erfahrung ein eindeutiger und nützlicher Wegweiser zu den latenten Bedeutungen des Individuums mit sich selbst und mit dem Leben ist. Außerdem wird erkannt, daß das Selbst jetzt zu diesem Erfahrungsprozeß wird. Das Selbst wird kaum mehr als Objekt gesehen. Das Individuum fühlt sich häufig ein wenig »unsicher«, wenn es seine soliden Konstrukte als Deutungen erkennt, die sich in ihm niederlassen. Das Individuum geht das Wagnis ein, in Beziehung zu anderen es selbst zu sein und darauf zu vertrauen, daß eine andere Person es als das akzeptiert, was es ist.

Ergebnisse

Die Ergebnisse der Untersuchung von Meador anhand der kurz beschriebenen Skala waren überwältigend. Alle acht Gruppcnmitglieder zeigten größere Flexibilität und Ausdrucksfreudigkeit. Sie kamen ihren Gefühlen näher, begannen ihre Gefühle unmittelbar auszudrük-ken und zeigten größere Bereitschaft zu Beziehungen auf einer gefühlsmäßigen Basis, alles Merkmale, die die Gruppe anfänglich nicht aufgewiesen hatte. Meador schreibt in einem kurzen Artikel zu dieser Untersuchung: »Es ist eindeutig, daß diese Personen, die einander anfänglich völlig fremd waren, zu einer Ebene der gegenseitigen Beziehungen gelangten, die für das Alltagsleben nicht charakteristisch ist.« Diese Untersuchung vermittelt uns ein klares Bild von mindestens einer Facette des Gruppenprozesses.
Eine phänomenologische Untersuchung der Folgen
Vor einigen Jahren hatte ich aufgrund der zahlreichen Gerüchte über die psychologischen Schädigungen durch Gruppen das Gefühl, es sei von Berufs wegen meine Aufgabe, diesen Gerüchten nachzugehen. Ich begann mit einer systematischen Befragung von mehr als fünfhundert Personen, ehemaligen Teilnehmern an den von mir geleiteten Gruppen oder an größeren Workshops, für die ich die Verantwortung getragen hatte. Ich verschickte Fragebogen, auf die 481 (82 °/o) der Angeschriebenen antworteten. Einige der verbliebenen 18 °/o machte ich ausfindig und stellte fest, daß zwischen ihnen und denen, die geantwortet hatten, kein wesentlicher Unterschied bestand. Die meisten dieser Personen wurden zwischen drei und sechs Monaten nach ihrer Erfahrung in einer Encounter-Gruppe befragt. Zwei fanden, daß die Erfahrung höchst negativ gewesen war und ihr Verhalten in einer ihnen unliebsamen Weise verändert hatte. Eine geringe Anzahl der Befragten meinte, die Erfahrung sei ziemlich wirkungslos gewesen oder habe keine wahrnehmbare Veränderung ihres Verhaltens herbeigeführt. Eine ebenfalls geringfügige Anzahl fand, sie habe ihr Verhalten geändert, diese Veränderung sei aber nicht von großer Dauer gewesen. Die überwältigende Mehrheit war der Ansicht, die Erfahrung habe zu konstruktiven Resultaten geführt; sie bezeichneten die Erfahrung als sehr positiv und erklärten, ihr Verhalten verändere sich seither fortlaufend in positiver Richtung.
Ich glaube, diese Fragebogenaktion wird an Bedeutung gewinnen, wenn ich die detaillierten Resultate und die persönlichen Feststellungen aus einer der befragten Gruppen wiedergebe. Die Gruppensitzungen fanden in einem Sommer-Workshop statt und dauerten fünf Tage. 110 Personen nahmen daran teil, darunter 50 Schulberater; die übrigen Gruppenteilnehmer waren entweder Lehrer oder Eltern.
Dieser Workshop wies einige ungewöhnliche Merkmale auf. Da eine Anzahl von Teilnehmern vormittags an Schulungskursen teilnahmen, fing der Workshop mit einem Mittagessen an, dem eine einstündige allgemeine Sitzung folgte. Die einzelnen Encounter-Gruppen begannen nachmittags und setzten sich bis zum Abend und bisweilen über Mitternacht hinaus fort. Wer nicht an Schulungskursen teilnahm, hatte vormittags Gelegenheit, sich Filme oder Tonbänder von Beratungs-Interviews anzusehen oder anzuhören.
Da der Morgen für die Gruppenleiter frei war, konnte jeden Vormittag eine zweistündige Encounter-Gruppe für alle Mitarbeiter abgehalten werden. Am Mittwoch (der Workshop begann am Montag) waren alle Mitarbeiter mutig genug, sich nicht nur vormittags unter sich zu treffen, sondern ihre Gruppe im großen Gemeinschaftssaal und in Anwesenheit der 110 Teilnehmer fortzusetzen. Die Gruppenleiter äußerten beträchtliche Befürchtungen hinsichtlich dieser Maßnahme, aber für die Teilnehmer war es eine nützliche Erfahrung.
Und nun wollen wir sehen, wie die Teilnehmer ihre Workshop-Erfahrung mehrere Monate später beurteilten. Die rein zahlenmäßigen Ergebnisse werden zuerst aufgeführt, aber die nachfolgenden frei ausgedrückten Feststellungen scheinen mir persönlich weit interessanter und belehrender. Jedem Teilnehmer wurde ein vollständiger Bericht über die Ergebnisse zugesandt.


Anmerkungen

Im Folgenden gebe ich einige Reaktionen auf den Fragebogen wieder, die auf die verschiedenen Aspekte der Workshop-Erfahrung Bezug nehmen.
»Bewußtseinsstrom.«
Die meisten Leute reagierten vorwiegend positiv:
»Dies war eine der wichtigsten Erfahrungen, die ich je gemacht habe. Meine Gefühle in bezug auf Dinge und Leute sind seither eher >aus einem Guß<. Ich glaube, am besten läßt sich das ausdrük-ken, wenn ich sage, daß ich mich >befreit< fühle. Mein Leben ist viel reicher geworden, seit meine Sensitivität, meine Erfahrung und meine Wahrnehmung der Erfahrung anderer gewachsen sind.«

»Ich kann die Erfahrung, die ich während des Workshops machte, immer noch nicht ganz fassen. Ich sehe mich in einer völlig neuen Perspektive. Vorher war ich, was persönliche Beziehungen betrifft, eine annehmbare, aber sehr kühle Person. Die Menschen kamen auf mich zu, aber ich hatte Angst, sie an mich herankommen zu lassen, da ich mich bedroht fühlte und fürchtete, etwas von mir selbst hergeben zu müssen. Seit der Workshop-Erfahrung habe ich keine Angst mehr, ein Mensch zu sein. Ich drücke mich ziemlich offen aus, man hat mich gern, und ich kann andere lieben. Ich habe gelernt, meine Emotionen als Teil meiner selbst zu akzeptieren und zu mögen.«

Für einige Leute war die Erfahrung nicht ganz so positiv:
»Im großen und ganzen hat mich der Workshop ziemlich enttäuscht. Ich hatte mit einer weitaus sorgfältigeren Auswahl der Teilnehmer gerechnet. Da dies nicht der Fall war, nutzten mir die Encounter-Gruppen nichts. Für mich hatte das alles zuviel Lagerfeuer-Atmosphäre-!, und mir fehlte es an Sachlichkeit.«
Frage 1. Der Einfluß, den die gesamte Workshop-Erfahrung auf mich und mein Verhalten hatte. (Wie der Leser der Fragebogenauswertung entnehmen konnte, erklärten viele Teilnehmer, daß sich ihr Verhalten als Folge des Workshops verändert hat, besonders in der Beziehung zu anderen. Hier einige Anmerkungen.)
»Ich bin den Problemen meiner Schüler gegenüber offener und entnehme ihren Stimmen eher, ob sie mir etwas sagen wollen oder nicht. Meinen Freunden, Kollegen und Schülern fällt es sichtlich leichter, mir zu sagen, was sie empfinden. Bei einer Auseinandersetzung mit meinem Mann gelang es mir, eine Atmosphäre zu schaffen, die es ihm ermöglichte, seine Gefühle frei auszudrücken, und das hat mich am meisten gefreut.«
»Ich erwartete mir von der Workshop-Erfahrung eine neue und bessere Beziehung zu meiner Frau sowie mehr Toleranz und Verständnis auf meiner Seite für unsere Unterschiedlichkeiten (Werte, Interessen usw.). Ich glaube, das ist eingetroffen. Sie sagt, sie habe eine Veränderung in unserer Beziehung bemerkt, aber ich fürchte, daß ich allmählich wieder in meine alten Gewohnheiten zurückfalle, wenn auch nicht so tief wie zuvor.« »Ich bin sicher, daß sich meine Ansichten über Leute, mit denen ich zusammenarbeite, geändert haben, und ich glaube, ich gehe auftauchende Probleme bei meiner Arbeit wenn nicht kreativer, dann doch zumindest anders an als früher.«
Frage 2. Die Wirkung, die die kleine Gruppe auf mich hatte. (Die überwältigende Mehrheit aller Teilnehmer war der Ansicht, daß es eine sehr bedeutungsvolle, positive und in ihren Auswirkungen konstruktive Erfahrung war.)
»Für mich war diese Erfahrung so etwas wie eine zweite Geburt. Sie brachte neues Leben in ein Leben, das in Mittelmäßigkeit zu ersticken drohte. Ich kann heute Dinge tun, die ich früher nicht einmal in Erwägung gezogen habe.«
»Teilweise war es sehr schmerzlich, aber das zwang mich dazu, mich selbst ehrlicher zu sehen, und der spontane Ausdruck von Gefühlen gab mir eine bislang nicht gekannte Art von Freiheit.« »Ich verstehe mich selbst und meine Beziehung zu anderen seither viel besser.«

Andere Reaktionen waren nicht ganz so positiv:

»Mir schien, daß wir in der langen Zeit nur wenig erreicht haben. Ich glaube, wenn wir mehr Zeit gehabt hätten, wäre es eine sehr wichtige Erfahrung gewesen.«
»Ich glaube, ich habe in der Gruppe einige gute Freunde gefunden. Ich bin aber nicht sicher, ob die anderen mein Denken, meine Einstellung oder das, was ich als Person bin, so ganz verstanden haben.«

Eine Person beschreibt die Erfahrung so:

»Absolute Enttäuschung, keinerlei Organisation, keine Instruktionen. Alles in allem eine unerfreuliche Erfahrung ohne jede Anregung.«

Und eine andere schreibt:

»Meine Erfahrung mit der Gruppe war sehr enttäuschend, da wir nie an den Punkt kamen, wo wir Interesse füreinander zeigen


1 ic

konnten. Zwei Mitglieder hatte ich besonders gern, aber im Grunde fühlte ich mich in der Gruppe nie wohl. Ich langweilte mich, wurde unruhig und ermüdete schnell. Außerdem hatte ich Heimweh nach meiner Familie und fragte mich immer wieder, weshalb ich eigentlich gekommen war.«
Frage 3. Die Auswirkungen der allgemeinen Sitzungen allein. (Wieder ist die Mehrzahl der Reaktionen positiv und nur in wenigen Fällen negativ.)
»Meiner Ansicht nach waren die allgemeinen Sitzungen das Beste am ganzen Workshop.«
»Ich habe festgestellt, daß die allgemeinen Sitzungen wenig Bedeutung für mich hatten. Die Filme klärten einiges auf und trugen zu meinem Verständnis für die verschiedenen therapeutischen Ansätze bei, aber an den Inhalt der längeren Sitzungen kann ich mich kaum noch erinnern.«
»Die Gruppensitzungen der Mitarbeiter beeindruckten mich sehr, da die meisten Gruppenleiter tatsächlich praktizierten, was sie predigten.«

Frage 4. Der Einfluß des Workshops auf die Bewußtheit meiner eigenen Gefühle und der Gefühle anderer. (Sehr viele Teilnehmer reagierten positiv.)

»Seit der Workshop-Erfahrung habe ich auffallende Veränderungen in verschiedenen Bereichen meiner Beziehungen zu anderen festgestellt. Ich glaube, das wichtigste ist, daß sich mein Vertrauen zu mir selbst und zu meinen innersten Überzeugungen gefestigt hat. Seit ich wieder unterrichte, stelle ich zu meiner großen Freude fest, daß ich viel mehr Mut aufbringe, wenn es darum geht, meinen Überzeugungen entsprechend zu leben und zu handeln.« »Einige der Probleme, mit denen ich in den Workshop kam, beschäftigen mich noch immer, aber meine Einstellung ihnen gegenüber ist eine andere geworden. Ich habe jetzt das Gefühl, daß ich mit ihnen fertig werden kann. Andere Probleme haben sich fast gänzlich gelegt - zumindest sind die Symptome verschwunden. Im Augenblick ist für mich das wichtigste, daß ich das Gefühl habe, mich zu bewegen - und zwar in der richtigen Richtung.« »Es war, glaube ich, die lohnendste Erfahrung meines Lebens. Seit dem Workshop sind meine interpersonalen Beziehungen echter und sinnvoller geworden, und ich habe mir selbst gegenüber eine weit positivere Einstellung gefunden.«

Einige Reaktionen waren gemischt:
»Heute bin ich über die Ergebnisse dieser fünf Tage sehr glücklich, aber das war ich nicht immer. Es gab Zeiten, in denen ich dachte, ich würde mich nie wieder erholen. In den ersten Tagen nach dem Workshop waren meine Angst und mein Leid größer als je zuvor. Ich kam mir völlig nackt vor und mußte immer wieder an das denken, was ich nun über mich wußte oder was mir langsam bewußt wurde. Das beschäftigt mich auch heute noch sehr stark.« »Im Verlauf der Sitzungen kam es mir vor, als würde ich etwas lernen. Es war, als lernte ich, die wahren Gefühle der Gruppenmitglieder zu >riechen<. Nie im Leben habe ich ein Gefühl so gern gehabt. Es machte mir nichts mehr aus, wenn jemand wütend auf mich wurde, solange ich merkte, daß dieses Gefühl echt war - irgendwie fand ich die Wut dann sogar befriedigend. Dagegen haßte ich die Person, die meine Gefühle objektiv analysierte wie ein Berater, der seine Arbeit tut, ohne etwas von den Dingen zu fühlen, die ich fühlte.«

Einige Leute reagierten ganz anders:
»Ich habe schon an anderen Workshops dieser Art teilgenommen und weder in diesem noch in den anderen irgendwelche Veränderungen bei mir festgestellt. Die meiste Zeit wartete ich auf etwas und versuchte den anderen in der Gruppe zu helfen, den Sinn der Veranstaltung zu begreifen und etwas zu tun.«


Mein eigener Kommentar

Meiner Denkweise entspricht diese persönliche, phänomenologische Art der Untersuchung weit mehr als der traditionelle empirische Ansatz. Psychologen tun Untersuchungen dieser Art häufig als »reine Selbstdarstellungen« ab, obwohl sie den besten Einblick in das gewähren, was die Erfahrung den Teilnehmern bedeutet hat, und das erscheint mir weitaus wertvoller als die Erkenntnis, daß die Teilneh

mer, verglichen mit einer Kontrollgruppe von Nichtteilnehmern, einen signifikanten Unterschied von 0.05 aufweisen oder nicht aufweisen. Ich glaube, daß diese naturalistische Art der Untersuchung durchaus der fruchtbarste Weg zu mehr Wissen über diese subtilen und unbekannten Bereiche sein kann.

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