Montag, 10. Januar 2011

Die einsame Person - und ihre Erfahrungen in einer Encounter-Gruppe

Ich möchte mit einem kurzen Auszug aus einem Brief beginnen, den mir ein Freund nach seiner Erfahrung in einer Encounter-Gruppe schrieb:

»Da stehen wir nun, jeder von uns, arme und verwirrte Kinder, treiben durch ein Universum, das viel zu groß und viel zu komplex für uns ist, umarmen andere Menschen, die viel zu andersartig und viel zu kompliziert für uns sind und stoßen sie wieder zurück; wir suchen nach Befriedigung unzähliger vager und wechselnder Bedürfnisse und Wünsche, erhaben und niedrig zugleich. Und manchmal klammern wir uns einfach aneinander. Nicht wahr?« (James Flynn, Ph. D.)

Ich werde nur kurz auf den ersten Teil dieser Feststellung eingehen und mich mehr auf das Thema konzentrieren: »Und manchmal klammern .wir uns einfach aneinander.« Diesen Aspekt möchte ich untersuchen.
Ich glaube, daß die Menschen sich heutzutage ihrer inneren Einsamkeit bewußter sind als je zuvor in der Geschichte. Mir scheint, die Einsamkeit tritt offen zutage - genauso, wie wir uns wahrscheinlich der interpersonalen Beziehungen bewußter sind als jemals zuvor. Wenn man um das nackte Leben kämpft und nicht weiß, woher die nächste Mahlzeit nehmen, dann bleibt weder Zeit noch Neigung zu der Feststellung, daß man den anderen Menschen in einem tiefen Sinne sehr fremd ist. Aber mit zunehmendem Wohlstand, wachsender Beweglichkeit und zunehmend flüchtigeren interpersonalen Systemen anstelle eines ruhigen Lebens in der Heimat der Väter werden sich die Menschen ihrer Einsamkeit mehr und mehr bewußt.
Zwei Aspekte erscheinen mir hier wichtig. Erstens das Alleinsein, die Isoliertheit, die ein grundlegender Teil der menschlichen Existenz ist. Du kannst nie wissen, was es bedeutet, ich zu sein, und ich kann nie wissen, was es heißt, du zu sein. Ob wir uns einander voll und ganz mitteilen wollen oder große Bereiche für uns behalten - die Tat-

sache bleibt, daß unsere Einzigartigkeit uns voneinander trennt. In diesem Sinne muß jeder Mensch allein leben und allein sterben. Wie er damit fertig wird - ob er seine Isoliertheit akzeptieren und sogar stolz auf sie sein kann, ob er seine Einsamkeit nutzt, um sich schöpferisch auszudrücken, oder ob er sie fürchtet und ihr zu entfliehen versucht - ist eine wichtige Frage, auf die ich aber nicht näher eingehen werde.
Ich möchte statt dessen von der Einsamkeit sprechen, die eine Person empfindet, wenn sie merkt, daß sie keinen echten Kontakt zu anderen Personen findet. Dazu können viele Faktoren beitragen: Die generelle Unpersönlichkeit unserer Gesellschaft, ihre Schnellebigkeit und ihre Ungereimtheiten - alles Elemente der Einsamkeit, die um so deutlicher hervortreten, je dichter wir zusammenleben. Und dann die Angst vieler Menschen vor jeder engen persönlichen Beziehung. Das sind nur einige der Faktoren, die dazu führen können, daß ein Individuum sich von anderen ausgeschlossen fühlt.
Aber ich glaube, es gibt noch einen tieferen und allgemeineren Grund für die Einsamkeit. Um es kurz zu sagen, eine Person fühlt sich am einsamsten, wenn sie einen Teil ihrer äußeren Schale, ihrer Fassade, abgelegt hat - das Gesicht, mit dem sie der Welt bislang begegnet ist - und sicher ist, daß niemand sie verstehen, akzeptieren oder den entblößten Teil ihres inneren Selbst lieben kann.
Jeder lernt früh im Leben, daß er eher geliebt wird, wenn er sich so verhält, wie die anderen es von ihm erwarten, statt seinen eigenen Gefühlen spontan Ausdruck zu geben. Deshalb beginnt er sich eine Schale äußerer Verhaltensweisen zuzulegen, über die er in Beziehung zur Welt tritt. Diese Schale kann relativ dünn sein, eine Rolle, die er bewußt spielt, wissend, daß er - als Person - ganz anders ist als diese Rolle. Sie kann aber auch vielfach gepanzert sein und von der Person selbst als wahres eigenes Selbst betrachtet werden, wobei die innere Person völlig in Vergessenheit geraten ist.
Wenn das Individuum nun etwas von dieser Abwehrschale hat fallenlassen, dann ist es der wahren Einsamkeit am meisten ausgesetzt. Vielleicht hat es seine Fassade oder einen Teil von ihr absichtlich aufgegeben, um sich selbst ehrlicher begegnen zu können. Oder seine Abwehr ist durch äußere Angriffe durchbrochen worden. In jedem Fall ist sein inneres, privates Selbst - ein kindliches Selbst, voller Gefühle, mit Fehlern und positiven Qualitäten, mit kreativen wie destruktiven Impulsen - entblößt und ungemein verwundbar. Das Individuum ist überzeugt, daß niemand dieses verborgene Selbst zu verstehen oder zu akzeptieren vermag, daß kein Mensch dieses seltsame und widersprüchliche Selbst, das es immer zu verbergen versucht hat, lieben oder mögen kann. Deshalb stellt sich bei ihm ein tiefes Gefühl der Entfremdung von anderen ein, ein Gefühl, das besagt: »Wenn irgend jemand mich kennenlernt, wie ich wirklich und im Innersten bin, dann kann er mich unmöglich respektieren oder lieben.« Dieser Einsamkeit ist es sich bitter bewußt.
Lassen Sie es mich etwas anders formuliern. Einsamkeit grenzt an Verzweiflung, wenn eine Person sich eingesteht, daß der Sinn des Lebens nicht in der Beziehung seiner äußeren Fassade zur äußeren Realität liegt und liegen kann. Wenn ich glaube, daß die Bedeutung meines Lebens in der Beziehung meiner Rolle als Psychologe zu Ihrer Rolle als Erzieher, Karrierefrau oder was auch immer zu finden ist, wenn ein Priester annimmt, die Bedeutung seines Lebens läge in der Beziehung zwischen seiner Rolle als Priester und seiner Kirche als einer Institution, dann besteht die Wahrscheinlichkeit, daß jedes dieser Individuen an einem bestimmten Punkt zu seinem Kummer feststellen muß, daß dies keine angemessene Basis und kein ausreichender Grund zum Leben ist.
Einsamkeit gibt es auf vielen Ebenen und in vielen Abstufungen, aber der schmerzlichsten und heftigsten Einsamkeit fühlt sich jenes Individuum ausgesetzt, das aus dem einen oder anderen Grunde ohne seine gewohnte Abwehr als verletzbares, erschrecktes, einsames, aber wirkliches Selbst überzeugt ist, daß es von einer urteilenden und verurteilenden Welt zurückgewiesen wird.


Die Einsamkeit im Innern

Es steht außer Zweifel, daß das Individuum in einer Encounter-Gruppe häufig Heilung von seiner Entfremdung, seinem Mangel an Beziehungen zu anderen findet. Das geschieht auf verschiedenen Wegen. Der erste Schritt ist nicht selten die körperliche Erfahrung der Gefühle der Isolation, die es bislang vor sich verborgen hat. Ein lebendiges Beispiel bietet der Fall von Jerry, einem tüchtigen Geschäftsmann ls). Verwirrt von den Bemerkungen einiger anderer Gruppenmitglieder, sagte er in einer der ersten Sitzungen: »Ich betrachte mich selbst mit einiger Befremdung, denn ich habe zum Beispiel keine Freunde und brauche sie offenbar auch nicht.« In einer späteren Sitzung hörte er, wie Beth, eine verheiratete Frau, über die Entfremdung zwischen ihr und ihrem Mann sprach und dabei erklärte, daß sie sich nach einer tieferen und kommunikativeren Beziehung sehnte. Plötzlich begann es in seinem Gesicht zu zucken, und seine Lippen zitterten. Roz, ein anderes Gruppenmitglied, sah das, ging auf ihn zu und legte ihm den Arm um die Schultern, und Jerry brach in ein buchstäblich unkontrollierbares Schluchzen aus. Er hatte in sich eine Einsamkeit entdeckt, von der er nichts geahnt hatte und vor der er sich mit einer gepanzerten Fassade aus Selbstgenügsamkeit geschützt hatte.
Ein junger, ziemlich selbstsicherer und im Umgang mit anderen Personen fast ein wenig hochnäsiger Mann führte über seine Reaktionen in einer Encounter-Gruppe Tagebuch. Er berichtet, wie er dazu kam, sein nahezu kriecherisches Verlangen nach Liebe und sein Bedürfnis nach menschlichem Kontakt zu akzeptieren und durch dieses Akzeptieren eine Veränderung einleitete. Er schreibt:

»In der Pause zwischen der dritten und der vierten Sitzung fühlte ich mich sehr müde. Eigentlich wollte ich mich hinlegen, aber statt dessen trieb es mich förmlich zu anderen Leuten, mit denen ich eine Unterhaltung begann. Ich fühlte mich wie ein ängstlicher kleiner Hund, der hofft, gestreichelt zu werden, aber gleichzeitig fürchtet, daß man ihn verjagt. Schließlich ging ich doch auf mein Zimmer, legte mich hin und merkte, daß ich traurig war. Manchmal wünschte ich mir, mein Zimmerkollege käme herein und würde mit mir reden, und wenn jemand an meiner Tür vorbeiging, hoffte ich, die Person träte ein und spräche mit mir. Ich erkannte mein tiefes Verlangen nach Güte und Freundlichkeit.«

Nach dieser Akzeptierung seines einsamen Selbst begannen sich seine Beziehungen zu ändern.
Joe, ein College-Student aus einer anderen Gruppe, wurde an einem Punkt immer niedergeschlagener. Er saß schweigend da, den Kopf in seine Hände gelegt, die Augen geschlossen und von der übrigen Gruppe vollständig isoliert. Zuvor hatte er einen sehr lebendigen Eindruck gemacht, von den Schwierigkeiten bei der Durchführung eines von ihm geleiteten Projekts berichtet und erzählt, wie sehr es ihn ärgere, daß die College-Verwaltung ihn nicht wie eine Person behandelt. Aber dann war er mehr und mehr in sich zurückgesunken. Es bedurfte einiger Überredung seitens der übrigen Gruppenmitglieder, bis er sich langsam wieder öffnete und sagte, was ihn traurig machte. Der Hauptpunkt war, das niemand ihn mochte. Einige Fakultätsmitglieder hatten ihn gern, weil er gute Noten hatte. Einige Leute aus der Verwaltung schätzten ihn, weil er bei dem oben erwähnten Projekt gute Arbeit leistete. Seine Eltern interessierten sich überhaupt nicht für ihn und wünschten ihn so weit wie möglich fort. Er sagte: »Selbst die Mädchen, die ich kenne, wollen zwar mit mir ins Bett, aber sie wollen nicht mich.« Er sah sich der Tatsache gegenüber, daß er zwar als guter Student geachtet und seiner Leistung wegen respektiert wurde, seine innere Person, sein wahres Selbst sich jedoch unverstanden und ungeliebt fühlte. Als einige aus der Gruppe, die ihn gut kannten, die Arme um ihn legten und seine Hände ergriffen, drang diese nichtverbale Kommunikation langsam zu ihm durch und überzeugte ihn allmählich, daß einige Menschen ihn vielleicht doch mochten.
Es geschieht nicht nur in Encounter-Gruppen, daß man seine Einsamkeit erfährt. In dem Film Rachel, Rachel führt die fünfund-dreißigjährige Lehrerin ein eingeengtes, eingesperrtes, aber scheinbar zufriedenes Leben. Ihre Einsamkeit entdeckt sie erst, als sie mit lächelndem Gesicht die Bridgefreundinnen ihrer Mutter begrüßt, mit strahlender Fassade herumgeht und Süßigkeiten verteilt. Dann geht sie auf ihr Zimmer und weint herzzerreißend über ihren vollständigen Mangel an engem Kontakt zu irgendeinem lebenden menschlichen "Wesen.

»Was ich wirklich hin, ist nicht liebenswert«

Ein wichtiges Element, das die Leute in ihrer Einsamkeit eingesperrt sein läßt, ist die Überzeugung, daß ihr wirkliches, ihr inneres Selbst -das Selbst, das vor anderen verborgen bleibt - ein Selbst ist, das niemand lieben kann. Den Ursprung dieses Gefühls aufzuzeigen ist nicht schwierig. Die spontanen Gefühle eines Kindes und seine echten Einstellungen sind von den Eltern oder anderen so oft mißbilligt worden, daß es mit der Zeit sich selbst diese Einstellung zu eigen gemacht hat und glaubt, daß seine spontanen Reaktionen und das Selbst, das es in Wirklichkeit ist, eine Person ausmachen, die niemand lieben kann.
Vielleicht zeigt ein Vorfall, der sich in einer Gruppe von High

schooI-Mädchen und einigen ihrer Lehrer ereignete, wie Einsamkeit nach und nach zutage tritt und von dem Individuum wie auch von der Gruppe entdeckt wird und welche Angst selbst eine äußerlich entschieden liebenswerte Person vor der Tatsache hat, daß man ihr inneres Selbst nicht akzeptiert. Sue machte den Eindruck eines ziemlich ruhigen, aber offenbar sehr aufrichtigen und offenen Mädchens. Sie war eine gute Schülerin und Leiterin einer Organisation, deren Mitglieder sie ihrer Tüchtigkeit wegen gewählt hatten. Zu Anfang der Wochenend-Gruppe sprach sie über ihre derzeitigen Probleme. Sie zweifelte an ihrem religiösen Glauben und an einigen ihrer Wertvorstellungen, sie fühlte sich sehr unsicher und gelegentlich sogar verzweifelt, wenn sie nach Antworten auf die Fragen suchte, die diese Zweifel in ihr wachriefen. Sie wußte, daß sie die Antworten in sich selbst finden mußte, aber sie schienen sich ihr zu entziehen, und das machte ihr Angst. Einige Mitglieder der Gruppe versuchten sie zu beruhigen, aber das zeigte kaum eine Wirkung. An einer anderen Stelle sprach sie davon, daß häufig andere Schüler mit ihren Problemen zu ihr kamen. Sie hatte das Gefühl, ihnen nützlich gewesen zu sein, und es befriedigte sie, wenn sie anderen helfen konnte.
Am nächsten Tag wurden einige sehr bewegende Gefühle ausgedrückt, und die Gruppe verharrte eine geraume Zeit in tiefem Schweigen. Dieses Schweigen unterbrach Sue schließlich mit einigen intellektuellen Fragen, die absolut vernünftig waren, aber in diesem Augenblick völlig unpassend wirkten. Ich spürte intuitiv, daß sie nicht das sagte, was sie in Wirklichkeit sagen wollte, aber ihre Fragen enthielten keinerlei Hinweis auf ihre eigentliche Mitteilung. Ich fühlte den Wunsch, zu ihr zu gehen und mich neben sie zu setzen, aber dieser Impuls schien mir irgendwie verrückt, denn nichts deutete darauf hin, daß sie Hilfe suchte. Der Impuls war jedoch so stark, daß ich das Risiko einging, mich erhob und sie fragte, ob ich mich neben sie setzen dürfte, wohl wissend, daß die Möglichkeit bestand, von ihr zurückgewiesen zu werden. Sie machte mir Platz, und sobald ich neben ihr saß, setzte sie sich auf meinen Schoß, beugte den Kopf über meine Schulter und begann zu schluchzen.
»Seit wann weinst du?« fragte ich sie.
»Ich habe nicht geweint.«
»Nein, ich meine, seit wann du im Innern weinst.« »Seit acht Monaten.«
Ich hielt sie einfach fest wie ein Kind, bis ihr Schluchzen allmählich nachließ. Einige Zeit später konnte sie über ihre Sorgen sprechen.
Sie hatte das Gefühl, daß sie anderen helfen konnte, daß aber niemand sie lieben und daher niemand ihr helfen konnte. Ich schlug ihr vor, sich umzusehen und die Gruppe zu betrachten, dann würde sie sehr viel Liebe und Zuneigung in den Gesichtern der anderen bemerken. Dann erzählte ein anderes Gruppenmitglied, eine Nonne, daß sie in ihrem Leben eine ähnliche Periode der Zweifel, der Hoffnungslosigkeit und des Gefühls, nicht geliebt zu werden, durchgemacht habe. Schließlich sprach Sue über die Scheidung ihrer Eltern. Sie vermißte ihren Vater sehr, und es bedeutete ihr viel, daß ein Mann ihr seine Zuneigung gezeigt hatte. Offenbar hatte ich intuitiv richtig gehandelt, aber ich habe keine Ahnung, wie es dazu kam. Sue war ein Mädchen, das wahrscheinlich jeder als charmante und liebenswerte Person bezeichnen würde, aber sie selbst empfand sich als nicht liebenswert. Meine Zuneigung und die der übrigen Gruppenmitglieder trugen viel dazu bei, diese Vorstellung zu ändern.
Aus den Briefen, die ich seither von ihr bekommen habe, geht deutlich hervor, daß die Erfahrungen dieser Liebe und Zuneigung seitens der Gruppe ihr über die Verzweiflung hinweggeholfen haben. Sie hat immer noch Zweifel und Fragen, aber die Hoffnungslosigkeit und das Gefühl, allein und ungeliebt zu sein, sind verschwunden.


Das Wagnis eingehen, das eigene innere Selbst zu sein
Wie aus einigen dieser Beispiele deutlich hervorgeht, kann die tiefe individuelle Einsamkeit, die Teil des Lebens so vieler Menschen ist, nur behoben werden, wenn das Individuum das Wagnis eingeht, anderen Individuen gegenüber sein wahres Selbst zu zeigen. Erst dann kann es feststellen, ob es menschlichen Kontakt schließen oder die Bürde seiner Einsamkeit erleichtern kann.
In dem oben bereits erwähnten Film Rachel, Rachel kommt dieser Augenblick, als Rachel bereit ist, ihre sexuellen Gefühle zu akzeptieren und sich einem jungen Mann hinzugeben, den sie zweifellos idealisiert hat. Die Liebesaffäre ist nicht das, was man als Erfolg bezeichnen würde, und Rachel wird von ihrem Freund verlassen. Dennoch hat sie gelernt, daß sie einem anderen Menschen nur wirklich begegnen kann, wenn sie bereit ist, ein Wagnis einzugehen. Diese Erfahrung bleibt ihr und stärkt sie als Person auf dem Wege in eine unbekannte Welt.
Ich kann darüber sehr persönlich reden, weil die Fähigkeit, ein

Risiko einzugehen, zu den Dingen gehört, die ich selbst in Encounter-Gruppen gelernt habe. Ich habe gelernt, daß es grundsätzlich nichts gibt, wovor man sich fürchten müßte, auch wenn ich nicht immer dieser Erkenntnis entsprechend lebe und handle. Wenn ich mich so gebe, wie ich bin - wenn ich ohne Abwehr, ohne Schutz und Schild einfach ich selbst sein kann und die Tatsache akzeptiere, daß ich viele Unzulänglichkeiten und Fehler habe, häufig voreingenommen statt aufgeschlossen bin und oft Gefühle habe, die durch die Umstände nicht gerechtfertigt sind, dann kann ich viel realer, viel wirklicher ich selbst sein. Und wenn ich keine Waffen trage und nicht versuche, anders zu sein, als ich bin, dann lerne ich viel mehr - auch aus Kritik und Feindseligkeit - und komme den Leuten viel näher. Aufgrund meiner Bereitschaft, verwundbar zu sein, bringen mir andere Menschen weitaus mehr echte Gefühle entgegen, so daß es sich immer lohnt, diese Bereitschaft zu riskieren. Ich genieße das Leben deshalb viel mehr, wenn ich nicht defensiv bin und mich nicht hinter einer Fassade verstecke, sondern einfach versuche, mein wirkliches Selbst auszudrücken und zu sein.
Diese Bereitschaft zu dem Wagnis, das eigene innere Selbst zu sein, ist zweifellos einer der Schritte zur Befreiung von der Einsamkeit, die in jedem von uns existiert. Ein College-Student drückte das sehr gut aus, als er sagte: »Ich fühlte mich heute in der Gruppe völlig allein und gleichzeitig völlig entblößt. Die anderen wissen jetzt viel zuviel von mir, dachte ich. Aber dann tat es mir auch gut zu wissen, daß ich mich nicht mehr hinter meiner kühlen Fassade verstecken mußte.«
Die einsame Person ist zutiefst davon überzeugt, daß man sie nicht mehr akzeptiert oder liebt, wenn ihr wahres Selbst bekannt wird. Es gehört zu den faszinierendsten Augenblicken im Leben einer Gruppe, wenn man sieht, wie diese Überzeugung langsam schwindet. Die Feststellung, daß eine ganze Gruppe von Leuten es viel einfacher findet, sich um das wahre Selbst statt um die äußere Fassade zu kümmern, ist nicht nur für die betreffende Person, sondern auch für die übrigen Gruppenmitglieder eine bewegende Erfahrung.
Nehmen wir zum Beispiel den Geschäftsmann Jerry, von dem bereits die Rede war und der stolz verkündete, er brauche keine Freunde, bis er dann seine Einsamkeit erlebte und erkannte. In einer der letzten Sitzungen sagte er zögernder, als ich es wiedergeben kann: »Ich glaube, es ist möglich, daß die anderen einem entgegenkommen, wenn man selbst bereit ist, ihnen entgegenzukommen. Ich meine, es ist möglich, daß das geschieht. Ich weiß nicht, warum es mir so schwerfällt, das zu sagen. Das einzige, worauf ich mich beziehen kann, ist das Gefühl, das ich hatte, als Beth von ihrem Problem sprach - und die Reaktion von Roz holte mich irgendwie zurück in die Gruppe - oder zurück zu den Menschen und zu den Gefühlen anderer Leute. Sie sind beteiligt. Sie können es sein. Die Leute können sich mit dir befassen, gleichgültig wer und wie du bist. Das habe ich erkannt. Und aus dieser Gruppe werde ich die Uberzeugung mitnehmen, daß nicht nur hier, sondern überall die große, große Möglichkeit besteht, daß dies geschieht.« Als Jerry das sagte, war er den Tränen nahe, und alle anderen Gruppenmitglieder schienen tief bewegt.
Seine Worte enthalten eine tiefe Wahrheit: Er wurde zu den Menschen und zu den Gefühlen anderer Leute zurückgeholt. Das Individuum kann erst dann das Gefühl entwickeln, als Person respektiert und geliebt zu werden, wenn es merkt, daß es als das geliebt wird, was es ist, und nicht als das, was es mit seiner Maske vorgibt zu sein. Erst dann kann es Fühlung zu anderen aufnehmen und mit anderen in Fühlung bleiben. Es gehört mit zu den generellen Resultaten einer Encounter-Gruppe, daß eine Person zu neuem Respekt vor dem Selbst gelangt, das sie wirklich ist. Sie hat nicht mehr das Gefühl, ein Schwindler zu sein oder die anderen ständig betrügen zu müssen, um geliebt zu werden. Aber dieser neue Respekt vor dem eigenen Selbst geht nach der Gruppenerfahrung nicht selten wieder verloren, und nicht jedes Gruppenmitglied verliert seine Einsamkeit in der hier beschriebenen Weise. Dennoch scheint es mir ein Anfang zu sein.
Ich hoffe, diese Beispiele machen deutlich, daß die intensive Gruppenerfahrung dem Individuum oft Gelegenheit bietet, in sein Inneres zu blicken und die Einsamkeit seines wahren Selbst zu erkennen, das hinter seiner Alltagsfassade oder hinter dem Schutz seiner Rolle existiert. Es kann diese Einsamkeit voll erfahren und zugleich erleben, daß diese Erfahrung von anderen Gruppenmitgliedern akzeptiert und respektiert wird. Es kann Aspekte seiner selbst ausdrücken, deren es sich bislang geschämt hat oder die ihm allzu privat erschienen. Zu seiner Überraschung wird es feststellen, daß die Gruppenmitglieder auf sein wirkliches Selbst viel wärmer reagieren als auf die äußere Fassade, mit der es der Welt sonst begegnet. Dieses wahre Selbst können die anderen lieben, auch wenn es noch so fehlerhaft und unvollkommen ist. Wenn sich in einer Gruppe ein solches wahres Selbst einem anderen wahren Selbst nähert, dann kommt es zu der Ich-Du-Beziehung, die Martin Buber so gut beschrieben hat. Die Einsamkeit vergeht, die Person empfindet den echten Kontakt zu

en

der anderen Person; das Gefühl der Entfremdung, das so sehr Teil ihres Lebens gewesen ist, schwindet.
Ich bin sicher, daß es viele andere Wege gibt, um mit der Einsamkeit, der Entfremdung und der Unpersönlichkeit in unserer Gesellschaft fertig zu werden. Ein Künstler kann seine Einsamkeit und sein echtes inneres Selbst in einem Gemälde oder in einem Gedicht ausdrücken und hoffen, daß er irgendwann und irgendwo die Wärme des Verstehens und der Anerkennung findet, die er braucht. Der Anblick echter Gefahr kann die Einsamkeit der Menschen ebenfalls vermindern. Unter Soldaten in Kriegszeiten oder unter anderen Personen in Todesgefahr kommt es häufig zu einer Öffnung des wahren Selbst, zu Verständnis und Akzeptierung seitens der anderen. Das erklärt die Intimität, die in solchen Gruppen möglich ist, das erklärt auch die Sehnsucht des Soldaten nach seinen ehemaligen Kameraden, wenn die Gruppe auseinandergefallen ist.


Schluß

Zweifellos gibt es noch weitere Möglichkeiten, diese Einsamkeit zu mildern. Ich habe lediglich versucht, einen Weg aufzuzeigen, nämlich die Encounter-Gruppe oder die intensive Gruppenerfahrung, in der sich offenbar die Möglichkeit bietet, wirkliche Individuen in Berührung mit anderen wirklichen Individuen zu bringen. Die Encounter-Gruppe ist meiner Ansicht nach die erfolgreichste moderne Erfindung, um mit dem Gefühl der Unpersönlichkeit, der Entfremdung und der Isolation fertig zu werden, unter dem so viele Menschen in unserer Gesellschaft leiden. Wie die Zukunft dieser Erfindung aussehen wird, weiß ich nicht. Vielleicht gerät sie in die Hände von Ideologen oder Manipulatoren. Vielleicht tritt auch etwas an ihre Stelle, das noch wirksamer ist. Im Augenblick ist sie jedenfalls das beste mir bekannte Instrument zur Heilung von der Einsamkeit, die viele Menschen beherrscht, und sie gibt Anlaß zu der Hoffnung, daß Einsamkeit nicht die Grundstimmung unseres individuellen Lebens sein muß.

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