Montag, 10. Januar 2011

Der Prozeß der Encounter-Gruppe

Was geschieht eigentlich in einer Encounter-Gruppe? Diese Frage wird häufig von Leuten gestellt, die sich entweder mit dem Gedanken tragen, einer solchen Gruppe beizutreten, oder die verwirrt sind von den Berichten anderer Leute, die bereits diesbezügliche Erfahrungen gemacht haben. Diese Frage war auch für mich von großem Interesse, als ich versuchte, die offenbar aller Gruppenerfahrung gemeinsamen Elemente zu verstehen. Ich habe inzwischen zumindest eine vage Vorstellung von den Stufen oder Stadien, die eine Gruppe zu durchlaufen scheint, und möchte sie beschreiben, so gut ich kann.
Meine Formulierung ist einfach und naturalistisch. Ich bemühe mich weder um eine hochgeistige abstrakte Theorie noch um profunde Interpretationen unbewußter Motive. Ich werde nicht von der Gruppenpsyche, von Gruppenmythen, nicht einmal von Abhängigkeit und Gegenabhängigkeit sprechen. So richtig diese Interferenzen auch sein mögen, mir liegen sie nicht. Beim derzeitigen Stand unseres Wissens möchte ich lediglich die zu beobachtenden Geschehnisse beschreiben und berichten, wie sie sich meiner Erfahrung nach einander zuordnen. Dabei greife ich außer auf meine eigenen auch auf die Erfahrungen anderer zurück, mit denen ich zusammengearbeitet habe, auf Literatur zu diesem Thema, auf die schriftlichen Äußerungen zahlreicher Personen, die an solchen Gruppen teilgenommen haben, und in gewissem Umfang auch auf Tonbandprotokolle von Gruppensitzungen, mit deren Abschrift und Analyse wir erst begonnen haben.
Wenn ich die ungemein komplexen Interaktionen von zwanzig, vierzig, sechzig oder mehr intensiven Sitzungsstunden betrachte, glaube ich bestimmte Fäden zu sehen, die sich durch das ganze Muster ziehen. Diese Richtungen oder Tendenzen zeigen sich in den Gruppensitzungen teils früher, teils später, aber es gibt keine eindeutige Reihenfolge, in der die einen enden und andere einsetzen. Man stellt sich die Interaktion am besten als bunte und vielfältige Tapisserie vor, die von Gruppe zu Gruppe anders ist, aber in den meisten Fällen bestimmte eindeutig erkennbare und sich wiederholende Muster aufweist. Einige dieser gleichbleibenden Tendenzen möchte ich kurz beschreiben und anhand von Tonbandprotokollen und persönlichen Berichten illustrieren.
1.    Allgemeine Unsicherheit. Wenn der Gruppenleiter zu Beginn der Sitzungen klarstellt, daß es sich hier um eine Gruppe mit ungewöhnlicher Freiheit handelt und nicht um etwas, für das er die Verantwortung übernehmen wird, dann entsteht zumeist ein Zeitraum, in dem anfängliche Verwirrung, peinliches Schweigen, höfliche und oberflächliche Interaktion, Cocktail-Party-Unterhaltungen, Frustration und Diskontinuität vorherrschen. Die Gruppenmitglieder sehen sich der Tatsache gegenüber, daß »hier keine Struktur vorliegt, abgesehen von dem, was wir einbringen. Wir erkennen unsere Absichten nicht, wir kennen uns nicht einmal untereinander und wir sind verpflichtet, eine beträchtliche Anzahl von Stunden zusammen zu bleiben«. In dieser Situation sind Verwirrung und Enttäuschung nur natürlich. Was dem Beobachter besonders auffällt, ist die mangelnde Kontinuität des persönlichen Ausdrucks. Die Person A äußert irgendein Problem und erwartet von der Gruppe eine Reaktion. Die Person B hat ihrerseits nur auf eine Gelegenheit zum Reden gewartet und beginnt von etwas ganz anderem zu sprechen, als habe sie A gar nicht gehört. Ein Mitglied macht den ganz simplen Vorschlag: »Ich finde, wir sollten uns alle vorstellen.« Das kann zu einer vielstündigen engagierten Diskussion führen, bei der sich unterschwellige Probleme zeigen wie zum Beispiel: Wer sagt uns, was wir tun sollen? Wer ist für uns verantwortlich? Was ist der Sinn dieser Gruppe?
2.    Widerstand gegen persönlichen Ausdruck oder Exploration. In der Periode der allgemeinen Unsicherheit enthüllen einige Personen mitunter sehr persönliche Einstellungen, was außerordentlich ambivalente Reaktionen bei den anderen Gruppenmitgliedern hervorrufen negativen Einstellungen gegenüber anderen Gruppenmitgliedern oder gegenüber dem Gruppenleiter. In einer Gruppe, in der sich einige Mitglieder ziemlich ausführlich vorstellten, weigerte sich eine Frau, das gleiche zu tun, und sagte, sie zöge es vor, nicht nach ihrem äußeren Status, sondern nach dem beurteilt zu werden, was sie in der Gruppe war. Kurz danach wurde sie von einem anderen Gruppenmitglied heftig angegriffen. Der Mann warf ihr ziemlich verärgert vor, nicht mitzuarbeiten und sich aus der Gruppe herauszuhalten. Es war das erste spontane persönliche Gefühl, das in dieser Gruppe seinen Ausdruck fand.
Häufig wird der Gruppenleiter angegriffen, weil er es an der angemessenen Führung fehlen läßt. Ein Beispiel dafür liefert das Tonbandprotokoll einer der ersten Sitzungen mit einer Gruppe von Kriminellen, in der ein Mitglied den Leiter anschreit: »Wenn Sie uns nicht von Anfang an unter Kontrolle kriegen, wird man Sie fertigmachen. Sie müssen hier für Ordnung sorgen, weil Sie älter sind als wir. Das ist die Pflicht eines Lehrers. Wenn er es nicht tut, gibt es nichts als Ärger, und wir kommen zu gar nichts. (Er deutet auf zwei Jungen in der Gruppe, die sich balgen, und fährt dann fort.) Werfen Sie die beiden raus! Sie müssen einfach dafür sorgen, daß wir uns hier anständig benehmen 6)!«
Ein Erwachsener drückt seinen Ärger über Leute aus, die zuviel reden, richtet sich dabei aber an den Gruppenleiter. »Ich begreife einfach nicht, warum ihnen nicht jemand den Mund verbietet. Ich hätte Gerald längst zum Fenster hinausgeworfen. Ich hätte ihm schon lange gesagt, daß er zuviel redet und möglichst bald verschwinden soll. Ich finde, die Gruppe sollte von jemandem geleitet werden, der diese Leute einfach nicht mehr beachtet, wenn sie andere zum achtenmal unterbrechen 7).«
Warum sind negativ gefärbte Äußerungen die ersten Gefühle, die ausgedrückt werden? Darauf gibt es mehrere mögliche Antworten. Der Ausdruck negativer Gefühle ist der beste Weg, um die Freiheit und die Vertrauenswürdigkeit der Gruppe zu erproben. Ist sie wirklich ein Ort, an dem ich positiv und negativ sein und mich ausdrücken kann? Bin ich hier wirklich sicher, oder werde ich bestraft? Ein weiterer und ganz anderer Grund ist der, daß tiefe positive Gefühle viel schwieriger auszudrücken sind als negative. Wenn ich sage, ich liebe dich, dann bin ich verletzbar und kann zurückgewiesen werden. Wenn ich sage, ich hasse dich, kann man mich höchstens angreifen, und dagegen kann ich mich wiederum wehren. Was die Gründe auch immer sein mögen - die negativ gefärbten Gefühle sind in der Regel das erste »Hier und jetzt«-Material, das in einer Gruppe auftaucht.
5. Ausdruck und Erforschung von persönlich wichtigem Material. Es mag überraschend erscheinen, aber im Anschluß an solch negative Erfahrungen wie die anfängliche allgemeine Verwirrung, den Widerstand gegen persönlichen Ausdruck und den Ausdruck kritischer oder ärgerlicher Gefühle beginnt in den meisten Fällen das eine oder andere Individuum, sich signifikant vor der Gruppe zu offenbaren. Der Grund dafür liegt zweifellos in der Tatsache, daß das einzelne Gruppenmitglied inzwischen erkannt hat, daß es sich hier zum Teil um seine Gruppe handelt. Es kann dazu beitragen, aus ihr etwas zu machen. Es hat darüber hinaus erfahren, daß negative Gefühle ausgedrückt und akzeptiert oder assimiliert wurden, ohne daß dies katastrophale Folgen gehabt hätte. Es weiß, daß hier eine Freiheit existiert, auch wenn diese Freiheit nicht risikolos ist. Eine Atmosphäre des Vertrauens beginnt sich zu entwickeln. Und das Individuum geht das Wagnis ein und zeigt der Gruppe eine neue, tiefer gelegene Facette seines Selbst. Ein Mann erzählt, daß die Kommunikation zwischen ihm und seiner Frau gleich Null ist. Ein Priester berichtet von seinem angestauten Zorn über die ungerechtfertigte Behandlung durch einen seiner Vorgesetzten. Was hätte er tun sollen? Was könnte er jetzt tun? Der wissenschaftliche Leiter einer großen Forschungsabteilung findet den Mut, über seine schmerzliche Isolierung zu sprechen, und gesteht der Gruppe, daß er nie im Leben einen Freund gehabt hat. Als er ausgeredet hat, vergießt er Tränen des Selbstmitleids, die er sicher schon seit vielen Jahren zurückgehalten hat. Ein Psychiater spricht darüber, daß er sich schuldig fühlt, weil einer seiner Patienten Selbstmord begangen hat. Ein Mann Anfang vierzig berichtet von seiner absoluten Unfähigkeit, sich von seiner herrschsüchtigen Mutter zu befreien. Ein Prozeß hat begonnen, den ein Gruppenmitglied einmal als »Reise zum Mittelpunkt des Selbst« bezeichnete - häufig ein sehr schmerzhafter Prozeß.
Ein Beispiel für diese Exploration findet sich in einer auf Band protokollierten Äußerung von Sam, der Mitglied eines einwöchigen Workshops war. Jemand hatte seine Stärke erwähnt, und Sam sagte dazu:
Sam: Vielleicht bin ich mir dessen nicht bewußt, oder ich erfahre es nicht als Stärke. (Pause.) Ich glaube, als ich mit Tom sprach -am ersten Tag muß das gewesen sein —, da wurde mir zum erstenmal klar, daß ich jemandem Angst machen konnte, und das war für mich eine echte Überraschung. Eine völlig neue Erfahrung, an die ich mich erst einmal gewöhnen mußte. Ich kannte bis dahin nur das Gefühl, daß andere mir Angst machen, und deshalb war mir nie die Idee gekommen, daß auch jemand Angst vor mir haben könnte. Das hat, glaube ich, etwas damit zu tun, wie ich mich selbst empfinde.
Der Prozeß der Exploration ist nicht immer einfach, und nicht immer ist die ganze Gruppe empfänglich für derartige Selbstenthüllungen. In einer Gruppe von jugendlichen Heimbewohnern, die alle in der einen oder anderen Weise in Schwierigkeiten geraten waren, eröffnet ein Junge einen wichtigen Aspekt seiner selbst und trifft damit sofort und gleichzeitig auf Akzeptierung und scharfe Ablehnung bei den übrigen Gruppenmitgliedern.
George: Die Sache ist die, ich habe zu Hause zu viele Probleme. Ich glaube, ein paar von euch wissen, warum ich hier bin und weshalb ich verurteilt wurde. Mary: Ich nicht. Leiter: Willst du darüber reden? George: Naja - es ist irgendwie peinlich. Carol: Komm schon. So schlimm kann es nicht sein. George: Also, ich habe meine Schwester vergewaltigt. Das ist das einzige Problem, das ich zu Hause habe, und ich glaube, das habe ich bewältigt. (Ziemlich lange Pause.) Freda: Das ist ja grausam.
Mary: Jeder hat seine Schwierigkeiten, Freda. Tch meine, du weißt
doch schließlich . . .
Freda: Ja, natürlich, aber trotzdem!!!
Leiter (zu Freda): Du kennst solche Probleme, aber trotzdem erscheinen sie dir grausam.
George: Ich hab's ja gesagt. Es ist peinlich, darüber zu reden. Mary: Ja, aber es ist gut so.
George: Es tut weh, darüber zu reden, aber ich weiß, d.iß ich es tun muß, wenn ich nicht für den Rest meines Lebens mit Schuldgefühlen herumlaufen will.
Freda schließt ihn psychologisch ganz offensichtlich völlig aus, während Mary ein besonders tiefes Akzeptieren zeigt. George ist eindeutig entschlossen, das Risiko einzugehen.
6.    Der Ausdruck unmittelbarer interpersonaler Gefühle in der
Gruppe. Früher oder später beginnen die Gruppenmitglieder, jene Ge-
fühle auszudrücken, die sie anderen Gruppenmitgliedern gegenüber
im Augenblick empfinden. Diese Gefühle sind manchmal positiv, ein
anderes Mal negativ. Beispiele dafür wären: »Ich fühle mich durch
dein Schweigen bedroht.« - »Du erinnerst mich an meine Mutter, mit
der ich nie sehr gut ausgekommen bin.« - »Ich konnte dich vom er-
sten Augenblick an nicht leiden.« - »Für mich bist du in der Gruppe
wie eine frische Brise.« - »Ich mag dein Lächeln und deine Wär-
me.« - »Je mehr du redest, desto weniger mag ich dich.« Jede dieser
Einstellungen kann im zunehmenden Klima des Vertrauens erforscht
werden, was gewöhnlich auch geschieht.
7.    Die Entwicklung einer Heilungskapazität in der Gruppe. Einer der
faszinierendsten Aspekte jeder Intensiv-Gruppe besteht darin, wie
eine Anzahl von Gruppenmitgliedern eine natürliche und spontane
Fähigkeit beweist, sich mit dem Schmerz und dem Leiden anderer
hilfreich, fördernd und therapeutisch zu befassen. Ich denke dabei an
das ziemlich extreme Beispiel eines Mannes, der in einer Fabrik eine
untergeordnete Stellung innehatte und in seiner Jugend, wie er sagte,
»nicht durch Ausbildung und Erziehung verdorben worden war«. In
der ersten Zeit behandelte ihn die Gruppe eher herablassend. Aber als
die einzelnen Mitglieder tiefer in sich drangen und ihre Einstellungen
umfassender auszudrücken begannen, erwies sich dieser Mann als das
mit Abstand feinfühligste Gruppenmitglied. Er wußte intuitiv, wie
man andere versteht und akzeptiert. Er spürte Dinge, die noch nicht
ausgedrückt waren, aber dicht unter der Oberfläche lagen. Während
die anderen einem Mitglied zuhörten, das gerade sprach, merkte er,
daß ein weiteres Mitglied schweigend litt und der Hilfe bedurfte. Er
war ungemein einfühlsam. Diese therapeutische und heilende Fähig-
keit zeigt sich in den Gruppen derart häufig, daß sie meines Erach-
tens im menschlichen Leben viel verbreiteter ist, als wir annehmen.
Um sie wirksam werden zu lassen, bedarf es oft nur des Gewähren-
lassens oder einer gewissen Freiheit, die im Klima einer frei fließen-
den Gruppenerfahrung entsteht.
Ein charakteristisches Beispiel ist auch der folgende Ausschnitt aus
einer Gruppensitzung, bei der der Gruppenleiter und mehrere Gruppenmitglieder versuchen, Joe zu helfen, der über das fast vollkommene Fehlen jedweder Kommunikation mit seiner Frau berichtet hat. John versucht ihm immer wieder zu erklären, welche Gefühle seine Frau höchstwahrscheinlich hat. Marie bemüht sich, ihm zu helfen, seine eigenen Gefühle in diesem Augenblick zu entdecken. Fred zeigt ihm, welche anderen Möglichkeiten des Verhaltens sich ihm anbieten. Es geschehen natürlich keine Wunder, aber gegen Ende der Sitzung wird Joe klar, daß vermutlich nur eines helfen würde: er müßte seiner Frau gegenüber seine wahren Gefühle ausdrücken.
Joe: Ich muß richtig aufpassen, wenn ich irgendwo hingehe, wo ich Leute kenne - meine Frau fühlt sich sonst sofort ausgeschlossen und übergangen. Im letzten Jahr haben sich die Dinge zwar so weit geändert, daß ich wieder Hoffnung habe, aber eine Zeitlang hatte ich überhaupt keine. Ich weiß auch heute noch nicht, ob wir es schaffen oder nicht. (Pause.)
John: Mir kommt es immer wieder so vor, als ob sie sehr stark den Wunsch hätte, in dich zu dringen. Joe: Ja, das stimmt.
John: Ich meine nicht verletzend, ich meine
Joe: Nein. (Pause.) Aber die Frage ist, wie. Und eins ist wahr, ich
muß sie einlassen, aber ich muß auch sehr vorsichtig sein, und so
häufig bieten sich die Gelegenheiten auch nicht.
Leiter: Haben Sie das Gefühl, daß Sie hier durch Vorsicht irgend
etwas erreicht haben? (Pause.)
Joe: Ich weiß nicht. Ich glaube, hier war keiner vorsichtig, auch ich nicht.
Leiter: Stimmt. Ich glaube, Sie haben einige Risiken auf sich genommen.
Joe: Mit vorsichtig meinte ich, daß ich vorsichtig sein muß, wie ich etwas sage, damit es nicht verdreht wird.
Leiter: Wenn - also, ich glaube, ich muß direkter werden. Wenn Sie glauben, daß Ihre Frau nicht merkt, daß Sie vorsichtig sind, dann irren Sie sich. Joe: Ja, das stimmt sicher.
Leiter: Und wenn sich mir jemand nähert - und ich spüre, er bewegt sich sehr behutsam und vorsichtig, dann frage ich mich doch, was hat er mit mir vor?
Joe: Ich habe es auch schon anders versucht - das Schlimme ist -vielleicht war ich auch zu direkt. Damit fingen dann unsere Streitereien an.
Leiter: Ich finde es gut, daß Sie so viel Vertrauen zu uns haben, daß Sie überhaupt davon sprechen. Aber im Augenblick reden Sie über die Elemente, die außerhalb von Ihnen liegen.
John: Ich möchte immer noch wissen, ob du ihre Gefühle fühlen kannst.
Joe: Hm, ja - Gefühle, doch, ich spüre jetzt schon eher, was sie fühlt, und ich weiß mittlerweile auch, daß ich sie manchmal nicht verstanden und zurückgewiesen habe. Und - aber ich spüre sofort, wenn sie verärgert ist, und dann, ich weiß nicht, dann  Leiter: Wie fühlen Sie sich dann? Angenommen, Sie kommen nach Hause, und Ihre Frau sagt kein Wort, weil Sie fort waren und sie nicht weiß, was Sie alles erlebt haben, und Sie merken, daß sie ziemlich ärgerlich ist. Was empfinden Sie dann? Joe: Hm - irgendwie würde ich mich am liebsten zurückziehen. Marie: Was würdest du fühlen? Wäre es dir unbehaglich. Oder würde es dich verwirren oder vielleicht sogar ärgern? Joe: Das war früher manchmal - heute nicht mehr so sehr. Ich kann aber immer noch ziemlich ärgerlich werden, das habe ich genau beobachtet.
Marie: Gut, aber das beantwortet meine Frage nicht. Joe: Stimmt.
Marie: Ich will nicht wissen, ob du dich beherrschen kannst oder ob du deinen Ärger unterdrückst. Ich möchte wissen, was du wirklich fühlst.
Joe: Ich glaube, ich neige heute am ehesten dazu, mich zurückzuziehen und abzuwarten. Ich weiß, wenn ich den Abend überstehe, dann ist am nächsten Morgen alles anders.
Fred: Hältst du das für defensiv? Drückst du diese Abwehr dadurch aus, daß du dich zurückziehst, weil Joe: Naja, ihr gefällt es nicht.
Fred: Aber dir ist es lieber so, als in einen Streit oder in irgendeine Auseinandersetzung verwickelt zu werden.
Joe: Ja - und das einzige, was helfen könnte, wäre - wenn ich das Gefühl einfach ausdrücken würde. Ich weiß ja heute ganz genau, wann sie verärgert ist - ich wußte nur nie, was ich tun sollte. Aber jetzt wird das hoffentlich ganz anders.
Ganz deutlich versuchen die verschiedenen Gruppenmitglieder, Joe auf ihre Weise zu helfen, einen Weg zu finden, um mit seiner Frau auf realere und konstruktivere Weise auszukommen.
8. Selbst-Akzeptierung und beginnende Veränderung. Viele Leute glauben, daß Selbst-Akzeptierung einer Veränderung im Wege stehen müsse. In Wirklichkeit ist sie aber bei diesen Gruppen wie in der Psychotherapie der Beginn einer Veränderung.
Einige Beispiele für die Arten von ausgedrückten Einstellungen wären: »Ich bin eine dominierende Person, die andere gern beherrscht. Ich will andere in eine bestimmte Form zwingen.« - »Ich habe in mir einen verletzten und überlasteten kleinen Jungen, der sich selbst sehr leid tut. Ich bin dieser kleine Junge, auch wenn ich als ein fähiger und verantwortungsvoller Manager gelte.«
Ich erinnere mich an einen Regierungsbeamten, einen Mann mit hoher Verantwortung und hervorragender Ausbildung. Bei der ersten Gruppensitzung beeindruckte er mich und vermutlich auch die anderen durch sein kaltes, etwas verbittertes und zynisches Wesen. Als er erzählte, wie er seine Abteilung leitet, hatte man den Eindruck, daß er das genau nach Vorschrift tat, ohne jede Wärme oder menschliche Regung. In einer der ersten Sitzungen sprach er über seine Frau, und ein anderes Gruppenmitglied fragte ihn: »Lieben Sie Ihre Frau?« Er schwieg lange, und der Fragesteller sagte: »Danke, das ist Antwort genug.« Der Beamte sagte: »Nein, warten Sie! Ich habe nicht geantwortet, weil ich mir überlegte, ob ich überhaupt jemals einen Menschen geliebt habe. Und ich glaube, ich habe wirklich noch nie jemanden geliebt.« Uns allen war klar, daß er sich in diesem Augenblick als lieblos und kalt akzeptierte.
Ein paar Tage später hörte er mit großer Aufmerksamkeit zu, als ein Mitglied der Gruppe tiefe persönliche Gefühle der Einsamkeit, der Isolation und des Schmerzes ausdrückte und erläuterte, in welchem Ausmaß es hinter einer Maske, einer Fassade gelebt hatte. Am nächsten Morgen sagte der Regierungsbeamte: »Letzte Nacht habe ich lange nachgedacht über das, was Bill gesagt hat. Ich habe sogar etwas geweint. Ich kann mich gar nicht erinnern, wie lange es her ist, daß ich geweint habe. Ich habe wirklich etwas empfunden, und ich glaube, was ich empfunden habe, war Liebe.«
Es überrascht nicht, daß er sich innerhalb weniger Tage überlegte, wie er seinen heranwachsenden Sohn besser behandeln könnte, an den er bislang außerordentlich strenge und große Anforderungen gestellt hatte. Er begann auch, die Liebe seiner Frau zu ihm zu würdigen, und glaubte sogar, sie in gewissem Umfang erwidern zu können.
Ein anderer Auszug aus den Sitzungen einer Gruppe Jugendlicher zeigt eine Kombination von Selbst-Akzeptierung und Selbst-Explora-tion. Art hat über sein »Schneckenhaus« gesprochen und beginnt jetzt, sich mit dem Problem der Selbst-Akzeptierung und mit der Fassade zu befassen, die er gewöhnlich zur Schau stellt.
Art: Wenn ich in meinem Schneckenhaus bin, dann -Lois: So, wie jetzt. Art: Ja -
Susan: Bist du immer so, wenn du in deinem Schneckenhaus bist? Art: Nein, ich bin so sehr daran gewöhnt, daß es mich nicht mal mehr stört. Ich kenne mein wahres Selbst gar nicht. Ich glaube, ich habe das Schneckenhaus hier etwas weiter geöffnet. Wenn ich aus ihm heraustrete - was nur zweimal der Fall war -, dann bin ich wirklich ich selbst, glaube ich. Aber das geschieht so selten. Meist bin ich eingesperrt in meinem Schneckenhaus. Leiter: Und niemand ist bei dir in deinem Schneckenhaus? Art (weint): Niemand ist bei mir, ich bin allein. Ich ziehe alles in das Schneckenhaus, rolle es zusammen und stecke es in meine Tasche. Ich nehme das Schneckenhaus und mein wirkliches Selbst und stecke es in die Tasche, wo es sicher ist. Ich glaube, so mache ich es wirklich - ich ziehe mich in mein Schneckenhaus zurück und schalte die reale Welt einfach ab. Aber hier - hier möchte ich aus diesem Schneckenhaus heraus und - und eigentlich möchte ich es wegwerfen.
Lois: Du machst schon Fortschritte. Zumindest kannst du darüber reden.
Leiter: Ja. Am schwierigsten wird es sein, nicht mehr in das Schneckenhaus zurückzukehren.
Art (immer noch weinend): Wenn ich weiter darüber reden könnte, dann würde ich auch herauskommen und draußen bleiben, aber ich muß  ich muß aufpassen und mich schützen. Es tut nämlich weh. Es tut wirklich weh, darüber zu reden.
Man erkennt hier sehr deutlich, daß dieses zurückgezogene Selbst als solches akzeptiert wird. Aber auch der Beginn einer Veränderung wird deutlich.
Eine  andere   Person   berichtete  kurz  nach   einer Workshop-

Erfahrung: »Ich kam mit dem Gefühl zurück, daß es gut so ist, wie ich bin, mit all meinen Stärken und Schwächen. Meine Frau sagte, ich sei jetzt viel wirklicher, viel echter.«
Dieses Gefühl größerer Wirklichkeit und Echtheit ist eine sehr verbreitete Erfahrung. Es scheint, als lerne das Individuum, sich selbst zu akzeptieren, es selbst zu sein und damit die Grundlage für eine Veränderung zu schaffen. Es steht seinen eigenen Gefühlen näher, die aus diesem Grunde nicht länger starr organisiert, sondern veränderbar sind.
Eine Frau schreibt, wie ihr Vater kurz nach der Encounter-Gruppe starb und sie eine lange und schwierige Reise zu ihrer Mutter unternahm. ».. . eine Reise, die mir endlos vorkam in meiner Verwirrung und meinem Schmerz, mit viel zuwenig Schlaf und ernsthaften Sorgen um die Zukunft meiner Mutter. In den ersten fünf Tagen, die ich bei ihr war, wollte ich einfach nur so sein, wie ich mich fühlte - ich wollte keine Betäubung, keine konventionellen Schranken zwischen mir und meinen Gefühlen, aber das war nur möglich, wenn ich die Erfahrung voll akzeptierte und mich dem Kummer und dem Schmerz hingab. Dieses Gefühl des Akzeptierens und Hingebens ist mir seither geblieben. Ich glaube, ganz offen, der Workshop hat viel mit meiner Bereitschaft zu tun, diese Erfahrung zu akzeptieren.«

9. Das Zerschlagen der Fassaden. Im weiteren Verlauf der Sitzungen ereignen sich gewöhnlich so viele Dinge gleichzeitig, daß es schwer ist, zu entscheiden, was man als erstes beschreiben soll. Es muß noch einmal betont werden, daß diese verschiedenen Elemente oder Stufen ineinander übergehen und sich überlappen. Ein wichtiges Element ist die zunehmende Abneigung gegenüber defensivem Verhalten. Die Gruppe findet es mit der Zeit unerträglich, wenn irgendein Mitglied ständig hinter einer Maske oder einer Fassade lebt. Die höflichen Worte, das gegenseitige intellektuelle Verstehen, die glatte Konzili-anz - all das, was bei Interaktionen außerhalb der Gruppe völlig ausreicht, genügt hier nicht mehr. Der Selbstausdruck einiger Gruppenmitglieder hat sehr deutlich gemacht, daß eine tiefere und grundlegendere Begegnung möglich ist, und die Gruppe scheint dieses Ziel intuitiv und unbewußt anzustreben. Sie fordert vom Individuum, manchmal liebevoll, ein andermal heftig, es selbst zu sein, seine augenblicklichen Gefühle nicht zu verbergen und die Maske des normalen gesellschaftlichen Umgangs abzulegen. In einer Gruppe war ein hochintelligenter und sehr gebildeter Mann, der bei anderen sehr

1A
viel wahrnehmen konnte, aber von sich selbst nichts preisgab. Die Einstellung der Gruppe drückte sich schließlich sehr deutlich aus, als ein Mitglied sagte: »Kommen Sie endlich hinter Ihrem Pult hervor, Doc. Hören Sie auf, Reden zu halten, und nehmen Sie Ihre Sonnenbrille ab. Wir wollen etwas über Sie hören.«
In Synanon, wo mit viel Erfolg aus Rauschgiftsüchtigen wieder Menschen und Personen gemacht werden, verläuft dieses Niederreißen von Fassaden häufig dramatisch. Ein Auszug aus einer der »Synanons« oder Gruppensitzungen macht das deutlich:

Joe (zu Gina): Ich frage mich, wann du endlich aufhörst, in den Synanons immer wieder so gut zu sein. In jeder Sitzung, in der ich dich erlebe, redest du wie ein Buch, wenn jemand eine Frage an dich richtet. Du weißt genau, was du alles falsch machst und wie dir klar wird, was du falsch gemacht hast und so weiter und so fort. Wann hörst du damit endlich auf? Welche Gefühle hast du Art gegenüber?
Gina: Ich habe nichts gegen Art.
Will: Du spinnst. Art hat geschrien und dich und Moe angebrüllt, aber dich läßt das alles völlig kalt.
Gina: Nein, ich spüre, daß er in vieler Hinsicht sehr unsicher ist,
aber das hat mit mir nichts zu tun
Joe: Du tust, als wärst du unheimlich verständnisvoll.
Gina: Man hat mir beigebracht, so zu tun, als verstünde ich alles.
Joe: Gut, aber hier bist du in einem Synanon. Man erwartet von
dir nicht, daß du so tust, als fehlte dir nichts. Oder geht es dir so
gut?
Gina: Nein.
Joe: Na also, und warum hörst du nicht auf, so zu tun, als ob 8)?

Es stimmt, wenn ich sage, daß eine Gruppe manchmal auf Fassaden oder Abwehr sehr heftig reagiert. Auf der anderen Seite kann sie aber auch einfühlsam und gütig sein. Der Mann, dem vorgeworfen worden war, er verstecke sich hinter einem Pult, fühlte sich durch diesen Angriff sehr verletzt; in der Mittagspause wirkte er sehr traurig und schien jeden Augenblick in Tränen ausbrechen zu wollen. Als die Gruppe sich wieder versammelte, spürten die Mitglieder das und behandelten ihn sehr milde, was ihm die Möglichkeit gab, uns seine tra

gische persönliche Geschichte zu erzählen, die die Ursache lür seine Abgeschlossenheit und seinen intellektuellen, akademischen Ansatz zum Leben war.
10. Das Individuum erhält feedback. Im Verlauf dieser Art von Interaktion erfährt das Individuum, wie es auf andere wirkt. Wer sich vertrauenswürdig gibt, merkt bald, daß andere seine übertriebene Freundlichkeit gar nicht schätzen. Der Beamte, der jedes seiner Worte sorgfältig abwägt, stellt vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben fest, daß man ihn als langweilig empfindet. Die Frau mit dem übertriebenen Bedürfnis, anderen zu helfen, erfährt sehr direkt, daß einige Gruppenmitglieder sie nicht als Mutter haben möchten. Diese Erfahrungen können sehr beunruhigend sein, aber solange sie in einer Atmosphäre des Vertrauens gemacht werden, sind sie sehr konstruktiv.
Ein Beispiel für dieses feedback findet sich im Tonbandprotokoll einer Gruppensitzung, in der vorgeschlagen worden war, daß die Mitglieder einander als lebendige oder leblose Objekte beschreiben.
John (zu Alma): Wenn wir schon reden, dann kann ich dir ja auch was sagen. Du erinnerst mich nämlich an einen Schmetterling. (Lachen.)
Alma: Wieso? Ich meine, warum gerade an einen Schmetterling? John: Naja, ein Schmetterling ist für mich etwas Merkwürdiges. Man kann ihm ziemlich nahe kommen, aber wenn man kurz davor ist und ihn vielleicht anfassen oder näher zu sich bringen und anschauen möchte, dann fliegt er fort. Alma (lacht nervös).
John: Dann ist er fort. Und wenn man ihn nicht jagt und ermüdet, bis er nicht mehr fliegen kann - oder ihm beibringt, einem zu vertrauen -, dann kommt man ihm nie so nahe, daß man ihn berühren oder etwas Wirkliches über ihn erfahren könnte, außer aus der Ferne. Das ist es, was mich bei dir an einen Schmetterling erinnert. Man kommt dir nie so nahe, daß man das sehen könnte, was an dir zu sehen vielleicht sehr schön wäre.
In der gewöhnlichen gesellschaftlichen Interaktion kommt es vermutlich nur äußerst selten dazu, daß einer Frau gesagt wird, sie habe Angst vor jeder näheren Beziehung.
Feedback kann bisweilen sehr warm und positiv sein, wie der folgende Auszug zeigt.
Leo (sehr leise und zärtlich): Es hat mich richtig getroffen, seit sie über ihr nächtliches Aufwachen gesprochen hat - wie feinfühlig und empfindlich sie ist. (Wendet sich an Mary.) Und irgendwie spüre ich - wenn ich dich nur ansehe oder dir in die Augen blik-ke -, daß es fast wie eine zärtliche Berührung ist, und mit dieser Berührung kannst du vieles von dem sagen, was du fühlst. Fred: Leo, du hast recht, als du eben sagtest, wie feinfühlig und empfindsam sie ist, da dachte ich, mein Gott, ja. Sieh dir nur ihre Augen an. Leo: M-hm.

Ein wesentlich ausführlicheres Beispiel für negatives wie positives Feedback ist dem Tagebuch eines jungen Mannes entnommen, der sich von allen ungeliebt fühlte. Er hatte der Gruppe erklärt, daß er keinerlei Gefühle für sie habe und spüre, daß auch sie nichts für ihn empfinde.

» Dann verlor eines der Mädchen die Geduld mit mir und sagte, sie könne mir nichts mehr geben. Sie sagte, ich käme ihr vor wie ein Faß ohne Boden, und sie frage sich, wie oft man mir noch sagen müsse, daß man mich gern habe. Ich geriet in eine Art Panik und dachte: >Mein Gott, kann es wahr sein, daß ich nie zufrieden sein werde und dazu verdammt bin, die Leute mit meinem Wunsch, beachtet zu werden, so lange nerve, bis ich sie fortgetrieben habe?< Ich war sehr beunruhigt. Da meldete sich eine Nonne aus der Gruppe zu Wort. Sie sagte, ich hätte sie mit den negativen Äußerungen ihr gegenüber nicht befremdet. Sie sagte, sie habe mich gern und verstünde nicht, wieso ich das nicht merke. Sie sagte, sie mache sich Sorgen um mich und wolle mir helfen. Danach kam mir etwas zu Bewußtsein, was ich ungefähr so ausdrückte: >Sie meinen, Sie sitzen da und empfinden für mich das, was ich möchte, daß sie es für mich empfinden, und ich sperre mich irgendwo im Innern dagegen, daß es mich berührt?< Ich wurde beträchtlich ruhiger und begann mich zu fragen, warum ich mich eigentlich gegen die Zuneigung der anderen gesperrt hatte. Ich fand darauf keine Antwort, und dann sagte eine Frau: >Mir scheint, du versuchst ständig, so tief in deinen Gefühlen steckenzubleiben wie heute nachmittag. Ich fände es besser, du würdest dir Zeit lassen und alles erst einmal aufnehmen. Vielleicht ruhst du dich zunächst besser aus, dann kannst du auch natürlicher zu deinen Gefühlen zurückkehren^
Dieser Vorschlag wirkte. Ich sah ein, was sie meinte, und wurde sofort ganz ruhig. Irgendwie war mir, als zöge in meinem Inneren so etwas wie ein herrlicher warmer Sonnentag herauf. Aber nicht nur der Druck war von mir genommen, ich spürte auch zum ersten Mal, daß man mir freundliche Gefühle entgegenbrachte. Es ist schwierig zu sagen, warum ich nur dieses eine Mal spürte, daß man mich mochte, aber im Gegensatz zu früheren Sitzungen glaubte ich wirklich, daß die anderen mich gern hatten. Ich habe nie ganz begriffen, warum ich mich so lange dagegen gesperrt hatte, aber an diesem Punkt begann ich fast von einem Augenblick auf den anderen daran zu glauben, daß sie mich mochten. Wie groß die Veränderung war, geht aus dem hervor, was ich als nächstes sagte. Ich sagte: >Ich bin jetzt zufrieden, und ich bin jetzt auch bereit, einem anderen zuzuhören.< Das war mein Ernst 9).«
11. Konfrontation. Manchmal ist der Terminus Feedback zu milde, um deutlich zu machen, welche Art von Interaktion stattfindet. Es ist dann besser, man sagt, daß ein Individuum ein anderes direkt konfrontiert. Diese Konfrontationen können positiv sein, aber häufig sind sie negativ, wie das folgende Beispiel zeigt. In einer der letzten Gruppensitzungen hatte Alice John gegenüber, der im religiösen Bereich tätig war, einige verächtliche und fast gemeine Bemerkungen gemacht. Am nächsten Morgen meldet sich die sonst sehr stille Norma zu Wort.

Norma (seufzt laut): Also, ich habe überhaupt keine Achtung vor dir, Alice. Nicht die geringste. (Pause.) Mir gehen hundert Dinge durch den Kopf, die ich dir sagen möchte, und ich hoffe, daß ich sie alle loswerden kann. Zunächst einmal - wenn du von uns respektiert werden willst, warum konntest du gestern abend Johns Gefühle nicht respektieren? Warum mußtest du ihn heute schon wieder angreifen? Hm? Konntest du gestern abend nicht akzeptieren oder in irgendeiner Weise begreifen, daß er sich nicht würdig fühlt, Gott zu dienen? Konntest du das nicht akzeptieren, oder mußtest du heute schon wieder damit anfangen, weil du noch mehr finden wolltest? Hm? Ich persönlich glaube nicht, daß John irgendwelche Probleme hat, die dich auch nur im mindesten etwas angehen! Keine Frau, die ich kenne, hätte sich so benommen, wie du es in der letzten Woche getan hast, und keine hätte gesagt, was du gestern gesagt hast. Das war einfach gemein! Ich hätte dich am liebsten geohrfeigt!!! Ich zittere heute noch vor Wut auf dich - ich bin so wütend, daß ich dich verprügeln könnte! Ich möchte dir so auf den Mund schlagen, daß du . .. und dabei bist du einige Jahre älter als ich, und ich habe Respekt vor dem Alter, ich achte Leute, die älter sind als ich, aber dich respektiere ich nicht, Alice. Überhaupt nicht! (Verwirrtes Schweigen.)

Es wird den Leser vielleicht beruhigen zu wissen, daß diese beiden Frauen sich gegen Ende der Sitzung weitaus besser verstanden und einander fast akzeptierten. Aber das war eine Konfrontation!
12. Die helfende Beziehung außerhalb der Gruppensitzungen. Keine Darstellung eines Gruppenprozesses ist meiner Meinung nach vollständig, ohne die vielfältigen Möglichkeiten zu erwähnen, wie Gruppenmitglieder einander helfen. Einer der erregenden Aspekte jeder Gruppenerfahrung ist die Tatsache, daß die einzelnen Mitglieder einander helfen, wenn einer Mühe hat, sich selbst auszudrücken, oder sich mit einem persönlichen Problem herumschlägt oder aufgrund einer schmerzhaften neuen Entdeckung in bezug auf sich selbst leidet. Das kann innerhalb der Gruppensitzungen geschehen, wie früher bereits erwähnt wurde, aber noch wesentlich häufiger geschieht es bei Kontakten außerhalb der Gruppe. Wenn ich sehe, wie zwei Leute zusammen Spazierengehen oder sich in einer Ecke sitzend miteinander unterhalten, oder wenn ich erfahre, daß sie bis drei Uhr morgens aufgeblieben sind, dann weiß ich, daß ich aller Wahrscheinlichkeit nach in einer der nächsten Gruppensitzungen erfahren werde, daß die eine Person Kraft und Hilfe von der anderen bekommen und die zweite Person der ersten ihr Verständnis, ihre Hilfe, ihre Erfahrung - mit einem Wort: sich selbst - zur Verfügung gestellt hat. Viele Menschen besitzen eine unglaubliche Begabung, zu helfen und zu heilen, sobald sie sich dazu frei genug fühlen, und die Erfahrungen einer Encounter-Gruppe scheinen den Menschen diese Freiheit zu geben.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel für die heilende Wirkung der Einstellungen von Gruppenmitgliedern außerhalb wie innerhalb von Gruppensitzungen geben. Es ist einem Brief entnommen, den ein Mitglied eines Workshops der Gruppe einen Monat später schrieb. Der junge Mann berichtet von den Schwierigkeiten und den deprimierenden Umständen, denen er im Laufe dieses Monats ausgesetzt war. Er fügte hinzu:
»Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß meine Erfahrungen mit euch eine tiefe Wirkung auf mich gehabt haben. Ich bin dafür sehr dankbar. Das war etwas ganz anderes als eine Einzeltherapie. Keiner von euch mußte sich um mich kümmern. Keiner von euch erzählte mir, was mir seiner Meinung nach helfen würde. Keiner von euch sagte mir, daß ich euch geholfen habe. Dennoch habt ihr mir geholfen, und das Ergebnis ist, daß meine Erlebnisse mit euch von größerer Bedeutung für mich sind als alles andere, was ich bislang erlebt habe. Wenn ich das Bedürfnis verspüre, mich zurückzuhalten und - aus welchen Gründen auch immer - nicht spontan zu reagieren, dann erinnere ich mich, daß zwölf Menschen, die kaum anders waren als die Menschen, die ich jetzt vor mir habe, mir sagten: Komm, entspanne dich, sei du selbst. Und dafür liebten sie mich sogar noch, was kaum zu glauben ist. Das hat mir seither häufig den Mut gegeben, aus mir herauszutreten, und oft scheint es mir, als würde ich dadurch anderen helfen, eine ähnliche Freiheit zu erleben.«
13. Die grundlegende Begegnung. Kennzeichnend für einige der Trends, die ich hier beschrieben habe, ist die Tatsache, daß die Menschen viel engeren und direkteren Kontakt zueinander finden, als es im normalen Alltagsleben üblich ist. Dies ist wahrscheinlich einer der zentralsten, intensivsten und wichtigsten Aspekte der Gruppenerfahrung. Um das zu illustrieren, möchte ich ein Beispiel aus einer Workshop-Gruppe anführen. Ein Mann berichtet unter Tränen vom tragischen Verlust seines Kindes; zum erstenmal erlebt er seinen Schmerz voll und ganz, ohne seine Gefühle in irgendeiner Weise zurückzuhalten. Ein anderer Mann sagt zu ihm, ebenfalls mit Tränen in den Augen: »Ich habe noch nie zuvor wirklich physisch unter dem Schmerz eines anderen gelitten. Mit allem, was ich bin, fühle ich mit Ihnen.« Das ist eine grundlegende Begegnung gewesen.
Aus einer anderen Gruppe schreibt mir eine Mutter mit mehreren Kindern, die sich selbst als »lautes, widerborstiges und überaktives Individuum« bezeichnet. Ihre Ehe steht kurz vor dem Zusammenbruch, und für sie erschien das Leben nicht mehr lebenswert: »Ich hatte viele Gefühle unter einer dicken Zementschicht begraben, weil ich fürchtete, daß die Leute über sie lachen würden, was sich natürlich auf meine Familie und mich selbst in vielfacher Hinsicht ungeheuer negativ auswirkte. Dem Workshop sah ich mit gemischten Gefühlen, aber auch mit letzten Resten von Hoffnung entgegen. (Sie berichtet über einige Erfahrungen innerhalb der Gruppe und fügt hinzu:) Was alles mit einem Schlag änderte, war eine Geste von Ihnen. Ich hatte irgendwas darüber gesagt, daß Sie kein Mitglied der Gruppe sind und sich an Ihrer Schulter niemand ausweinen kann. Sie legten mir daraufhin einfach den Arm um die Schulter. Am Abend zuvor hatte ich in mein Tagebuch geschrieben: >Es gibt keinen Mann auf der Welt, der mich liebt !< Und an jenem Nachmittag schienen Sie so echt besorgt um mich, daß ich ganz überwältigt war. Ich fühlte mich durch Ihre Geste zum ersten Mal wirklich akzeptiert, so wie ich war, dumm und widerborstig. Das hatte ich noch nie zuvor erlebt. Sie können sich sicher vorstellen, wie dankbar und erleichtert ich war. In mein Tagebuch schrieb ich: >Ich fühlte mich tatsächlich geliebtU Ich glaube kaum, daß ich das so bald vergessen werde.«

Solche Ich-Du-Beziehungen treten in diesen Gruppensitzungen mit ziemlicher Häufigkeit auf und lösen bei den Teilnehmern fast immer Tränen aus.
Ein Mitglied, das kurz nach einem Workshop versuchte, seine Erfahrungen niederzuschreiben, spricht von der »Bindung an eine Beziehung«, die sich bei zwei Individuen entwickelt, wobei sich die beiden Personen unter Umständen zunächst gar nicht sonderlich mochten. Dieser Mann schreibt weiter: ». . . die Mitglieder der Gruppe erfuhren immer wieder das schier Unglaubliche, daß nach dem umfassenden Ausdruck negativer Gefühle gegenüber einem anderen die Beziehung wuchs und das negative Gefühl durch tiefes Akzeptieren des anderen ersetzt wurde  Es schien sich wirklich etwas zu verändern, wenn Gefühle im Kontext der Beziehung ausgedrückt und erfahren wurden. >Ich kann die Art, in der du redest, nicht ausstehend, verwandelte sich in echtes Verstehen und Mögen der Art, in der der andere redet.« Diese Erklärung umfaßt einige der komplexeren Bedeutungen des Begriffs grundlegende Begegnung.
14. Der Ausdruck positiver Gefühle. Wie im letzten Abschnitt bereits angedeutet, scheint es ein wesentlicher Teil des Gruppenprozesses zu sein, daß sich positive Gefühle und große Nähe ergeben, wenn in einer Beziehung Gefühle ausgedrückt und akzeptiert werden können. Im Verlauf der Sitzungen stellt sich daher ein zunehmendes Gefühl der Wärme und des Vertrauens ein, das nicht nur auf positiven Einstellungen beruht, sondern auf dem echten Ausdruck positiver wie negativer Gefühle. Ein Gruppenmitglied faßte dies kurz nach einem Workshop in den Worten zusammen: »Ich glaube, das hat etwas mit dem zu tun, was ich Bestätigung nenne - eine Art Bestätigung meiner selbst, der Einmaligkeit des Menschen - eine Bestätigung, daß etwas Positives entsteht, wenn wir menschlich zueinander sein können.«
Ein besonders eindeutiger Ausdruck dieser positiven Einstellungen zeigte sich in der Gruppe, in der Norma Alice mit ihren zornigen Gefühlen konfrontierte. Die Gruppenleiterin Joan war zutiefst verstört und begann zu weinen. Die positiven und heilenden Einstellungen der Gruppe in bezug auf ihren Leiter sind ein ungewöhnliches Beispiel für die Nähe der Beziehungen.
Joan (weinend): Ich habe irgendwie das Gefühl, daß es für mich so verdammt einfach ist, mich in eine andere Person zu versetzen, und ich glaube, ich spüre das alles, bei John, bei Alice, und bei dir, Norma.
Alice: Und wer leidet, bist du.
Joan: Vielleicht nehme ich einiges von diesem Leiden in mich auf. Ja, ich glaube, das ist es. (Weint.)
Alice: Das ist eine wunderbare Gabe. Ich wollte, ich besäße sie auch.
Joan: Du besitzt davon sehr viel.
Peter: In einer Weise trägst du - ich glaube, weil du die Leiterin bist, trägst du wahrscheinlich eine besonders schwere Last - für uns alle  Wir versuchen uns gegenseitig zu akzeptieren, so wie wir sind - und ich glaube, jeder von uns sagt auf seine Weise, bitte, akzeptiert mich. Ich möchte das hier lassen, und  Norma: Und dann tun wir es nicht.
Peter: Und jetzt laden wir dir diese Last auf, vielleicht - und mit deinen Gefühlen kann es eine besonders schwere Last sein, wenn Leute dich bitten, sie zu akzeptieren. Meinst du, das könnte es sein?
Joan (immer noch weinend): Ich will wirklich nicht den Leuten die Schuld geben; ich glaube, das ist - das ist mein Problem, wirklich -, daß ich diese Last, oder was es auch sein mag, auf mich nehme. Ich meine, ich würde das genauso gut tun, wenn ich nicht Leiterin der Gruppe wäre - ich glaube nicht, daß es an der Rolle liegt.
Peter: Nein, nein, sicher nicht. Norma: Ganz bestimmt nicht.
George: Ich glaube nicht, daß es das ist, was die Leute dir aufladen. Ich glaube viel eher, daß es deine unwahrscheinliche Sensiti-vität ist - das, was du davon in die Gruppe einbringst -, und dann trägst du die Last, ich glaube, du bedeutest mir jetzt sehr viel mehr als zuvor. Manchmal wunderte ich mich über dich und fragte mich, ob wir für dich Menschen sind oder Klienten. Ich glaube, ich habe diese Woche allerdings einmal gesagt, daß ich das Gefühl habe, du würdest uns das Skelett im Schrank zeigen, wenn es jemals erforderlich wäre oder wenn du es für notwendig hieltest. Du bist eben in allen Dingen sehr ehrlich. Und ich finde, das zeigt auch, daß du -ich meine, eben hast du es bewiesen; eben hast du uns die andere Seite von dir gezeigt, die wir die ganze Woche über nie zu sehen bekamen. Es tut mir leid, daß ich so bin - daß ich dir nicht helfen kann, damit es dir besser geht.

Mancher wird seine Zweifel äußern angesichts einer Gruppenleiterin, die so empfindlich ist, daß sie aufgrund der Spannungen innerhalb der Gruppe, die sie in sich aufgenommen hat, in Tränen ausbricht. Für mich ist dies jedoch lediglich ein weiterer Beweis dafür, daß die Menschen, wenn sie ehrlich und aufrichtig in ihren Beziehungen zueinander sind, eine erstaunliche Fähigkeit besitzen, einen anderen Menschen mit echter und verstehender Liebe zu heilen, gleichgültig, ob diese Person ein Gruppenmitglied oder die Leiterin einer Gruppe ist.

15. Das Verhalten ändert sich in der Gruppe. Aus vielfältigen Beobachtungen läßt sich schließen, daß sich das Verhalten innerhalb der Gruppe selbst häufig ändert. Auch Gesten ändern sich. Und die Stimmen werden manchmal lauter, manchmal sanfter, meist aber spontaner, weniger gekünstelt und gefühlvoller. Überhaupt zeigen die Mitglieder ein erstaunliches Maß an Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft gegenüber dem anderen.
Unser Hauptinteresse gilt jedoch den Veränderungen des Verhaltens, die im Anschluß an die Gruppenerfahrung auftreten. Diese Tatsache ist noch längst nicht umfassend genug erforscht worden. Ein
Gruppenmitglied zählt die Veränderungen auf, die es bei sich selbst im Anschluß an eine Gruppenerfahrung festgestellt hat. Diese Aufzählung mag manchem etwas übertrieben erscheinen, aber ähnliche Veränderungen haben auch andere ehemalige Gruppenmitglieder bei sich festgestellt. Der junge Mann schreibt: »Ich bin offener, spontaner. Ich drücke mich leichter und freier aus. Ich bin mitfühlender, einfühlender und toleranter geworden. Ich habe mehr Vertrauen. Ich bin auf meine Weise religiöser geworden. Meine Beziehungen zu meiner Familie, meinen Freunden und Mitarbeitern sind ehrlicher, und ich drücke meine Zuneigung und Abneigung und meine wirklichen Gefühle offener aus. Ich gebe schneller zu, daß ich etwas nicht weiß. Ich bin fröhlicher. Ich habe häufiger den Wunsch, anderen zu helfen.«
Ein anderes Gruppenmitglied sagt: »Seit meiner Erfahrung mit dem Workshop habe ich eine neue Beziehung zu meinen Eltern gefunden. Es war nicht leicht, aber ich kann jetzt freier mit ihnen reden, besonders mit meinem Vater. Meiner Mutter komme ich langsam näher, als ich es in den letzten fünf Jahren je gewesen bin.« Ein Mann erzählt: »Die Gruppenerfahrung hat meine Gefühle in bezug auf meine Arbeit geklärt und mich ehrlicher und fröhlicher im Umgang mit meinen Mitarbeitern werden lassen. Sie hat meine Beziehung zu meiner Frau offener und tiefer gemacht. Wir fühlen uns seither freier und reden über alles im Vertrauen darauf, daß wir mit allem, was wir bereden, auch fertig werden können.«
Manchmal sind die festgestellten Veränderungen sehr subtil. »Die wichtigste Veränderung ist die positivere Einstellung zu meiner Fähigkeit, andere anzuhören und auf den >stummen Schrei< eines anderen einzugehen.«
Auf die Gefahr hin, daß das Ergebnis manchem Leser allzu positiv erscheinen mag, möchte ich noch hinzufügen, was eine Mutter kurz nach einem Workshop schrieb. »Die direkte Auswirkung auf meine Kinder war für mich und meinen Mann besonders interessant. Ich glaube, die Tatsache, daß eine Gruppe von lauter Fremden mich so akzeptiert und geliebt hat, war für mich derart stärkend, daß sich bei meiner Rückkehr nach Hause meine Liebe zu den Menschen, die mir am nächsten stehen, viel spontaner zeigte. Die Erfahrung, akzeptiert und geliebt zu werden und selbst zu lieben und zu akzeptieren, wirkte sich auch auf die Beziehungen zu meinen engeren Freunden aus.«
In einem späteren Kapitel werde ich versuchen, die verschiedenen
Arten von positiven wie negativen Veränderungen des Verhaltens zusammenzufassen

Fehlschläge, Nachteile, Gefahren

Bis hierher könnte man meinen, daß jeder Aspekt des Gruppenprozesses positiv sei. Soweit es sich beurteilen läßt, scheint der Prozeß für die Mehrheit der Teilnehmer fast immer ein positiver zu sein. Dennoch kommt es zu Fehlschlägen. Lassen Sie mich deshalb kurz einige der negativen Aspekte des Gruppenprozesses beschreiben, wie sie bisweilen auftreten.
Der offensichtlichste Mangel der intensiven Gruppenerfahrung liegt darin, daß die erreichten Veränderungen des Verhaltens häufig nicht von Dauer sind. Das wird von den Teilnehmern oft selbst erkannt. Einer schreibt: »Ich wollte, ich wäre imstande, die >Offen-heit< beizubehalten, mit der ich die Gruppe verließ.« Ein anderer sagt: »Ich habe in dem Workshop sehr viel Wärme, Liebe und Akzeptierung erfahren. Aber es fällt mir schwer, dies alles mit Leuten außerhalb des Workshops in der gleichen Weise zu teilen. Ich finde es einfacher, in meine alte unemotionale Rolle zurückzufallen, statt die Arbeit zu leisten, die für offene Beziehungen notwendig ist.«
Manchmal erleben Gruppenmitglieder dieses »Rückfall«-Phänomen mit Gelassenheit. »Die Gruppenerfahrung ist keine Lebensweise, sondern eine Orientierungshilfe. Meine Vorstellungen von unserer Gruppe geben mir - obwohl ich mir über manche ihrer Bedeutungen nicht klar bin - eine angenehme und nützliche Perspektive in bezug auf meine Alltagsroutine. Sie sind wie ein Berg, den ich erstiegen habe und zu dem ich hoffentlich bei Gelegenheit zurückkehren möchte.« Ich werde auf dieses Rückfall-Phänomen in dem Kapitel über Forschungsergebnisse noch einmal zurückkommen.
Ein zweites Risiko der intensiven Gruppenerfahrung, das in öffentlichen Diskussionen besonders häufig herangezogen wird, liegt darin, daß ein Individuum in der Gruppe vielleicht sehr viel von sich preisgibt, dann aber mit Problemen allein gelassen wird, die nicht aufgearbeitet wurden. Es gibt viele Berichte von Leuten, die im Anschluß an eine Intensiv-Gruppe glaubten, zu einem Therapeuten gehen zu müssen, um die Gefühle durchzuarbeiten, die in der Gruppe zutage getreten, aber ungeklärt geblieben waren. Natürlich läßt sich ohne nähere Kenntnis der jeweiligen individuellen Situation nur schwerlich sagen, ob dies ein negatives oder ein teilweise beziehungsweise ganzlieh positives Ergebnis ist. Bisweilen, wenn auch sehr selten, erfährt man von Personen, die während oder direkt nach einer intensiven Gruppenerfahrung in eine Psychose gerieten. Andererseits ist es eine Tatsache, daß manche Individuen offenkundig psychotische Phasen im Kontext einer Encounter-Gruppe sehr konstruktiv durchlebt haben. Ich glaube, je positiver der Gruppenprozeß verläuft, desto unwahrscheinlicher ist es, daß jemand durch die Teilnahme an einer Gruppe psychische Schäden erleidet. Es ist jedoch nicht zu bestreiten, daß dies ein wichtiges Problem darstellt, über das wir noch längst nicht genug wissen.
Ein Teilnehmer eines Workshops beschreibt sehr eindringlich die Spannungen, die sich bei manchen Gruppenmitgliedern aufgrund dieser möglichen Schädigungen einstellen. »Ich erlebte in diesem Workshop einige für mich sehr kostbare Augenblicke, in denen ich mich bestimmten Personen wirklich sehr nahe fühlte. Es gab aber auch beängstigende Momente, in denen ich das Potential des Gruppenprozesses deutlich spürte und erkannte, daß es einen Menschen sehr tief verletzen oder ihm ungeheuer helfen konnte - nur wußte ich nicht, wie es enden würde.«
Die Encounter-Gruppe birgt noch eine weitere Gefahr in sich. Bis vor wenigen Jahren war es nicht üblich, daß Ehepaare gemeinsam an einem Workshop teilnahmen. Das kann zu einem echten Problem werden, wenn sich während des Workshops oder im Anschluß daran bei einem Ehegatten eindeutige Veränderungen einstellen. Ein Mann schreibt dazu: »Ich glaube, es ist für eine Ehe sehr gefährlich, wenn nur ein Ehepartner an einer Gruppe teilnimmt. Für den anderen ist es zu schwierig, mit der Gruppe zu konkurrieren.« Es ist eine der häufigsten Nachwirkungen einer intensiven Gruppenerfahrung, daß eheliche Spannungen, die bislang verdeckt worden waren, nun offen zur Diskussion stehen.
Ein weiteres Risiko, das in gemischten Workshops nicht selten neue Schwierigkeiten verursacht, liegt darin, daß sich zwischen Mitgliedern der Gruppe sehr positive, warme und liebende Gefühle entwickeln (wie deutlich aus einigen vorangegangenen Beispielen und aus späteren Kapiteln hervorgeht). Einige dieser Gefühle haben durchaus auch eine sexuelle Komponente, was für die Gruppenteilnehmer problematisch und für die zu Hause gebliebenen Ehepartner bedrohlich werden kann, wenn diese Dinge innerhalb des Workshops nicht ausreichend durchgearbeitet werden. Außerdem kann es zu einer Quelle ständiger ehelicher Schwierigkeiten werden, wenn zum Beispiel eine
Ehefrau nicht an der Gruppe teilgenommen hat, aber ihre Ängste in bezug auf den Verlust des Mannes - ob begründet oder nicht - auf die Workshop-Erfahrung überträgt, die er ohne sie gemacht hat.
Ein Mann, der an einer gemischten Gruppe teilgenommen hatte, schrieb mir ein Jahr später und erwähnte dabei die Spannungen in seiner Ehe, die sich aus seiner Bekanntschaft mit Marge, einem Mitglied seiner Gruppe, ergeben hatten. »Marge war ein Problem. Bei mir hatte sich ein sehr warmes Gefühl für Marge entwickelt, ein großes Mitleid, denn ich spürte, daß sie sehr einsam war. Ich glaube, daß sie diese Wärme in gleicher Weise erwiderte. Jedenfalls schrieb sie mir einen langen zärtlichen Brief, den ich meiner Frau zu lesen gab. Ich war stolz, daß Marge diese Gefühle für mich hegte. (Er hatte sich zuvor sehr minderwertig gefühlt.) Aber meine Frau war beunruhigt, weil sie in den Brief eine Liebesaffäre hineinlas - oder zumindest eine potentielle Gefahr. Ich hörte auf, Marge zu schreiben. Kurz darauf nahm meine Frau selbst an einer Encounter-Gruppe teil, und seither versteht sie mich. Jetzt schreibe ich Marge wieder.« Sicherlich enden nicht alle derartigen Episoden so harmonisch.
In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß in den letzten Jahren immer mehr Workshops für Ehepaare veranstaltet wurden.
Eine andere Gruppenteilnehmerin, Emma, eine geschiedene Frau mit mehreren Kindern, berichtet sehr offen, wie sie sich in einen Mann aus ihrer Gruppe verliebte.

» Schon in der ersten Woche fiel mir in der Gruppe ein Mann auf, der sich seiner Männlichkeit sehr bewußt schien, aber dennoch sehr viel Wärme und Freundlichkeit ausstrahlte. Diese Mischung zog mich sehr an, und ich erkannte, daß ein Mann wie er mir Frieden geben konnte. Gegen Ende der ersten Woche hatten wir festgestellt, daß wir viele Dinge gemeinsam hatten. Wir saßen oft unter den Pinien und sprachen miteinander. Einmal sagte er im Anschluß an eine Gruppensitzung: »Emma, ich glaube, ich sehe, daß du für deinen Mann eine Bedrohung warst, und ich glaube, daß du das gleiche für andere Männer werden könntest.< Als Antwort auf meine unausgesprochene Frage sagte er: >Du bist so verdammt sicher, daß du recht hast, wenn du zu einer Einsicht gelangst.< Meine Selbstachtung war auf den Nullpunkt gesunken. Wir brachen auf und gingen zur nächsten Gruppensitzung, und er setzte sich neben mich. Etwa fünf Minuten später drehte er sich mit Tränen in den Augen zu mir um und sagte: »Mein Gott, Emma, was ich in dir gesehen habe, ist genau das, was ich jeden Tag und in jeder Gruppensitzung bei mir selbst feststellen Auf diese Bemerkung hin verliebte ich mich in ihn mit Haut und Haaren. Er hatte ausgesprochen, daß dieses Problem bei Männern ebenso zu finden ist wie bei Frauen, und mich damit aus dem Käfig befreit, auf dem stand: >Eine Gefahr für alle Männer.<
Samstagnachmittag fuhr Allen nach Hause zu seiner Familie. Als er Sonntagabend zurückkam, hatte ich das Gefühl, daß er mich mit Augen ansah, aus denen nichts als Liebe sprach, und meine Welt war in Ordnung. Montagmorgen wachte ich schluchzend auf. Ich war ein kleines Mädchen in einem kurzen Spitzenkleid. Eine verschwommene männliche Gestalt erschien zögernd am Rande der Szene. In den nächsten drei Stunden erfuhr ich, wie es ist, von einem Vater geliebt zu werden. Interessant war, daß ich in diesen drei Stunden nie das Gefühl verlor, eine Frau zu sein, die in einen Mann verliebt ist. Irgendwie schien Allens Liebe zur rechten Zeit und am rechten Ort das Gefühl der Vaterliebe zuzulassen und damit unsere Begegnung zu erhöhen. Es tut mir leid, wenn ich mich nicht klar genug ausdrücke, aber besser kann ich es nicht. ..  Freitagmorgen war unser letzter Tag, und Allen bestand darauf, daß wir nach der Gruppe noch ein paar Minuten allein blieben. Wir setzten uns auf eine niedrige Felsmauer in die Sonne. Er fragte mich, wie die zwei Wochen für mich gewesen seien, und ich sagte darauf ungefähr dies: »Unsere Beziehung war wunderbar und zart. Seit ich dir vertraut habe, bin ich sicher, daß du den Weg finden kannst. Die Zukunft? Ich glaube nicht, daß ich mir einbilden werde, du seist mein Ehemann. Ich glaube, ich werde dich immer lieben und ehren als den Allen E., der durch seine Liebe in mir die Fähigkeit geweckt hat, eine liebenswerte und liebende Frau zu sein. Ich hoffe, daß diese Erfahrung dir bewußter gemacht hat, wie groß deine Fähigkeit ist, ein liebender Mann zu sein. Was uns in der Zukunft Kraft geben wird? Ich glaube, unser beider Wissen wird uns stärken, daß wir jeder auf seine Weise den anderen, mit denen wir leben, unseren Familien und Kollegen, helfen können werden. Ich habe das deutliche Gefühl, daß meine drei Kinder, wenn sie mein neues Ich wahrnehmen, erfahren werden, wie es ist, einen Vater zu haben.< Als ich geendet hatte, meinte Allen, der sich soviel besser ausdrücken kann als ich, mit Tränen in den Augen: >Das hast du wunderschön gesagt. Wir haben ein Leben gemeinsam gelebt.<
Seit ich zu Hause bin, fällt eine Angst nach der anderen von mir ab, und mein neues Ich beginnt in einer neuen Welt zu leben.«
Hier wurde eine tiefe und zarte Liebesbeziehung sehr reif gehandhabt. Ich bin sicher, daß diese Beziehung bei beiden Personen zu weiterem Wachsen und weiterer Entwicklung führte.
In den letzten Jahren ist deutlich geworden, daß Encounter-Gruppen noch eine weitere negative Möglichkeit in sich bergen. Personen, die an früheren Encounter-Gruppen teilgenommen haben, können auf neuere Workshops, an denen sie teilnehmen, einen unguten Einfluß ausüben. Sie haben häufig das Gefühl, die »Spielregeln« zu kennen, und versuchen offen oder unter der Hand, den Neulingen diese Regeln aufzudrängen. Statt echten Ausdruck von Gefühlen oder Spontaneität zu fördern, rufen sie Schuldgefühle bei den Mitgliedern wach, die nicht gleich imstande sind, ihre Gefühle auszudrücken, die sich weigern, Kritik oder Feindseligkeit auszusprechen, über Situationen außerhalb der Gruppe zu reden oder Angst haben, sich zu entblößen. Diese »alten Hasen«, wie ich sie manchmal nenne, versuchen meiner Ansicht nach, die alten konventionellen Restriktionen durch eine neue Art der Tyrannisierung interpersonaler Beziehungen zu ersetzen. Das ist für mich eine totale Verkehrung des wahren Gruppenprozesses. Wir müssen uns fragen, woher diese Travestie der Spontaneität kommt. Ich persönlich hege in erster Linie Zweifel an der Leitung der Gruppen, an denen diese Personen früher teilgenommen haben.

Schluß
Ich habe versucht, ein naturalistisches und anschauliches Bild von den Elementen des Prozesses zu zeichnen, die in der freiheitlichen Atmosphäre einer Encounter-Gruppe aufzutreten pflegen. Ferner habe ich auf die Nachteile und Gefahren der Gruppenerfahrung aufmerksam gemacht. Ich hoffe, es ist darüber hinaus klargeworden, daß in diesem Bereich noch ungemein viel erforscht und untersucht werden muß.

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