Montag, 10. Januar 2011

Ursprung und Ziel des Trends zur Gruppe

Diese Überschrift mag seltsam klingen. Es ist klar, daß es immer Gruppen gab und geben wird, solange der Mensch auf diesem Planeten lebt. Aber ich benutze das Wort in einem speziellen Sinne, und zwar meine ich die geplante, intensive Gruppenerfahrung, die meiner Ansicht nach eine der ganz großen sozialen Erfindungen dieses Jahrhunderts und vermutlich die mächtigste überhaupt ist. Diese Erfindung hat viele Namen: »T-Gruppe«, »Encounter-Gruppe«, »Sen-sitivitäts-Training« sind die bekanntesten. Manchmal werden diese Gruppen als Laboratorien für menschliche Beziehungen oder Workshops für Beratung, Erziehung oder Führung bezeichnet. Gruppen, die sich mit Rauschgiftsüchtigen befassen, heißen bisweilen Syna-nons - nach der Synanon-Organisation und ihren Methoden.
Ein Element, das dieses Phänomen einer psychologischen Untersuchung wert erscheinen läßt, ist die Tatsache, daß es völlig außerhalb des »Establishments« entstanden ist. An den meisten Universitäten wird es immer noch geringschätzig betrachtet. Bis vor zwei oder drei Jahren waren weder Stiftungen noch Regierungsstellen bereit, irgendwelche Forschungsprogramme in diesem Bereich zu unterstützen. Die etablierte klinische Psychologie und die Psychiatrie verhielten sich neutral, während die politische Rechte überzeugt ist, daß es sich bei diesem Phänomen nur um eine kommunistische Verschwörungsaktion handeln kann. Ich kenne nur wenige andere Trends, die so eindeutig die Bedürfnisse und Wünsche von Menschen statt von Institutionen ausdrücken. Diese Bewegung wuchs und gedieh trotz des kompakten gegnerischen Drucks und hat sich inzwischen in allen Teilen des Landes und in den meisten modernen Organisationen ausgebreitet. Sie hat ganz offensichtlich wichtige soziale Bedeutungen. In diesem Kapitel werde ich unter anderem einige der Gründe für ihr überraschend schnelles und spontanes Wachsen erörtern.
Diese Gruppen haben in ganz verschiedenen Umgebungen funktioniert - in der Industrie, in Kirchengemeinden, an Universitäten und Regierungsstellen, in Erziehungseinrichtungen und Besserungsanstalten. Eine erstaunliche Vielzahl von Personen hat an dieser Gruppenerfahrung teilgenommen. Es gab Gruppen für die Direktoren großer

Konzerne und Gruppen für kriminelle und gefährdete Jugendliche. Andere Gruppen bestanden aus College-Studenten und Fakultätsmitgliedern, aus Beratern und Psychotherapeuten, aus Ehepaaren und Familien mit Eltern und Kindern, aus überzeugten Rauschgiftanhängern, Sträflingen und Krankenschwestern, aus Erziehern, Schulverwaltern und Industriemanagern, aus Gesandten der Regierung und Finanzbeamten.
Die geographische Verbreitung dieser rasch expandierenden Bewegung reichte von Bethel, Maine, bis San Diego, Kalifornien, und von Seattle bis Palm Beach. Auch in einer Reihe von anderen Ländern wie England, Frankreich, Holland, Australien und Japan gab und gibt es diese Intensiv-Gruppen


Ursprung

Schon vor 1947 entwickelte Kurt Lewin, ein berühmter Psychologe am Massachusetts Institute of Technology (MIT), zusammen mit seinen Mitarbeitern und Studenten die Idee, daß die Ausbildung der Fähigkeiten zu menschlichen Beziehungen eine wichtige, aber vernachlässigte Kategorie der Erziehung in der modernen Gesellschaft ist. Die erste sogenannte T-Gruppe (T steht für Training) wurde 1947, kurz nach Lewins Tod, in Bethel, Maine, gebildet. Lewins Mitarbeiter setzten die Arbeit an diesen Trainings-Gruppen zunächst am MIT und später an der University of Michigan fort. Die Sommergruppen in Bethel wurden bald berühmt. Man gründete eine Organisation, die National Training Laboratories, mit Sitz in Washington, D. C., die sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten ständig vergrößerte. Der erste Anstoß für NTL-Gruppen kam von der Industrie und erstreckte sich auf Manager und Geschäftsführer. Diese Richtung entwickelte sich zuerst, weil sich die Industrie die Kosten solcher Gruppenerfahrung für ihr Spitzenpersonal leisten konnte.
Die Gruppen entsprachen anfänglich ihrer Bezeichnung als Trainings-Gruppen. Die Mitglieder lernten das Wesen ihrer Interaktionen mit anderen und den Gruppenprozeß beobachten, um ihr eigenes Funktionieren in einer Gruppe und bei der Arbeit besser verstehen und mit schwierigen interpersonalen Situationen leichter fertig werden zu können.
In den von NTL für die Industrie und später in vielen anderen Bereichen organisierten T-Gruppen stellte man fest, daß Individuen innerhalb der vertrauenerweckenden fürsorglichen Beziehung, die zwischen den Teilnehmern entstand, oft sehr tiefe persönliche Erfahrungen über das Wesen der Veränderung machten.
Eine andere Phase der Bewegung zur intensiven Gruppenerfahrung bahnte sich ungefähr zur gleichen Zeit an der University of Chicago an. Meine Mitarbeiter und ich befaßten uns 1946 und 1947, also kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, am Counseling Center der University of Chicago mit der Ausbildung persönlicher Berater für die Kriegsopferversorgung. Man bat uns, einen kurzen, aber intensiven Trainingskurs zu entwickeln, der diese Männer - die alle mindestens einen akademischen Grad besaßen - auf ihre Aufgabe als wirkungsvolle persönliche Berater im Umgang mit den Problemen der zurückgekehrten GIs vorbereiten sollte. Wir waren der Auffassung, daß kognitives Training sie in keiner Weise auf diese Aufgaben vorbereiten konnte, und so experimentierten wir mit einer intensiven Gruppenerfahrung. Die Trainierenden fanden sich mehrere Stunden am Tag zusammen, um sich besser verstehen zu lernen und sich der Einstellungen bewußt zu werden, die in der Beratungsbeziehung zu Fehlschlägen führen können. Sie sollten in einer Weise in Beziehung zueinander treten, die ihnen bei ihrer Beratungsarbeit nützlich sein konnte. Es war dies ein Versuch, das kognitive Lernen und das Lernen durch Erfahrung in einem Prozeß zu verbinden, der für das Individuum therapeutischen Wert hatte. Dieser Prozeß vermittelte den Gruppenmitgliedern tiefe, wichtige Erfahrungen und erwies sich in der Folge als so erfolgreich, daß wir das Verfahren auch nach der Ausbildung der persönlichen Berater in Sommer-Workshops weiter benutzten.
Wir versuchten in unserer Chikagoer Gruppe nicht, diesen Ansatz weiter auszubauen; er ist hier nur erwähnt worden, weil das Chikagoer Experiment mit der Zeit in der gesamten Bewegung der intensiven Gruppenerfahrung aufging. Die Chikagoer Gruppen waren in erster Linie auf persönliches Wachsen, auf Entwicklung sowie auf Verbesserung interpersonaler Kommunikation und Beziehungen ausgerichtet und mehr therapeutisch-empirisch orientiert als die Gruppen, die in Bethel ins Leben gerufen wurden. Im Laufe der Jahre verschmolz diese Orientierung zum persönlichen und therapeutischen Wachsen mit der Ausbildung der Fähigkeiten zu menschlichen Beziehungen (»training in human relations skills«), und beide zusammen bildeten den Kern der Bewegung, die sich inzwischen im ganzen Land rapide ausbreitet.
Der begriffliche Unterbau dieser Bewegung bestand also anfänglich aus dem Denken Lewins und der Gestaltpsychologie einerseits und der klientbezogenen Therapie andererseits. In den letzten Jahren haben viele andere Theorien und Einflüsse eine Rolle gespielt



Unterschiedliche Akzente und Formen


Mit zunehmendem Interesse an der intensiven Gruppenerfahrung und wachsender Verbreitung der Bewegung entwickelte sich eine große Vielfalt an Formen und Akzenten. Die nachstehende Aufzählung mit ihren kurzen Beschreibungen vereinfacht die Situation zweifellos, aber vielleicht gibt sie eine Vorstellung von den zahlreichen Variationen, die sich anbieten.
T-Gruppen (»training groups«). Wie bereits erwähnt, wurde in ihnen ursprünglich die Ausbildung der Fähigkeiten zu menschlichen Beziehungen in den Vordergrund gestellt, aber dieser Ansatz ist inzwischen breiter geworden.
Encounter-Gruppen (»encounter groups or basic encounter groups«). Sie betonen mehr das persönliche Wachsen sowie die Entwicklung und Verbesserung der interpersonalen Kommunikation und Beziehungen durch einen Erfahrungsprozeß.
Sensitivitäts-Trainings-Gruppen (»sensitivity training groups«). Sie können den oben beschriebenen Gruppen ähneln.
Aufgaben-bezogene Gruppen (»task-oriented groups«). Sie werden hauptsächlich in der Industrie abgehalten und konzentrieren sich auf die Aufgabe der Gruppe im interpersonalen Kontext.
Sinnesbewußtheits-Gruppen (»sensory awareness groups«) und Körperbewußtheits-Gruppen (»body awareness groups«). Wie die Bezeichnungen erkennen lassen, betonen diese Gruppen die physische Bewußtheit und den Ausdruck durch Bewegung, spontanen Tanz und ähnliches.
Kreativitäts-Workshops (»creativity Workshops«). Hier bilden der kreative Ausdruck durch verschiedene Kunstmedien, die individuelle Spontaneität und die Freiheit des Ausdrucks Mittelpunkt und Ziel.
Organisatorische Entwicklungs-Gruppen (»organizational develop-ment groups«). Ihr oberstes Ziel ist die Förderung der Führungsqualitäten einer Person.
T eam-Aufbau-Gruppen (»team building groups«). Mit ihrer Hilfe versucht man in der Industrie, besser zusammenhaltende und damit leistungsfähigere Arbeitsteams zu schaffen.
Gestalt-Gruppen (»Gestalt groups«). Sie gehen aus von einem gestalttherapeutischen Ansatz, bei dem ein erfahrener Therapeut sich von einem diagnostischen und therapeutischen Standpunkt aus jeweils auf ein Individuum einzeln konzentriert.
Synanon-Gruppen oder »Spiel« (»Synanon groups or >game«<). Entwickelt von der Synanon-Organisation bei Behandlung von Rauschgiftsüchtigen. Sie versuchen mitunter, die Abwehr der Teilnehmer gewaltsam zu brechen.
Neben den unterschiedlichen Ansätzen sollte man aber auch einige der differenzierten Gruppenformen erwähnen. Es gibt »Fremd«-Gruppen (»stranger groups«), deren Teilnehmer einander nicht kennen. Und es gibt Betriebs-Gruppen (»staff groups«) von einer Organisation, zusammengesetzt aus Personen, die im gleichen Betrieb, bei der gleichen Behörde oder in welchem Tätigkeitsbereich auch immer täglich miteinander verkehren. Daneben gibt es große Workshops oder »Labs«, in denen eine Anzahl kleiner Gruppen gleichzeitig abgehalten werden kann, wobei jede ihre eigene Kontinuität behält, während der ganze Workshop sich häufig zu irgendeinem gemeinsamen Erlebnis trifft, etwa einem Gespräch oder anderen kognitiven Sitzungen. Man findet Gruppen, in denen sich Ehepaare in der Hoffnung treffen, durch gegenseitige Hilfe die ehelichen Beziehungen verbessern zu können. Eine neuere Entwicklung ist die Familien-Gruppe, bei der sich mehrere Familien in einer Gruppe zusammenfinden; hier lernen die Eltern von ihren eigenen und anderen Kindern und umgekehrt.
Unterschiede gibt es auch in bezug auf die Zeit. Die meisten Gruppen treffen sich intensiv für ein Wochenende, eine Woche oder mehrere Wochen. In manchen Fällen finden die Gruppensitzungen ein- bis zweimal wöchentlich statt. Daneben gibt es die Marathon-Gruppen, in denen man sich für vierundzwanzig Stunden oder länger trifft »)


Generelle Merkmale


Eine einfache Beschreibung der Vielfältigkeit auf diesem Gebiet führt zwangsläufig zu der Frage, wieso man diese verschiedenen Entwicklungen als zusammengehörig betrachten soll. Gibt es irgendwelche gemeinsamen Merkmale, die diese weit voneinander abweichenden Aktivitäten und Akzente verbinden? Meiner Ansicht nach gehören sie zusammen, und alle lassen sich als Konzentration auf die intensive Gruppenerfahrung klassifizieren. Daneben haben sie alle bestimmte ähnliche äußere Merkmale. Die Gruppe ist fast immer klein (acht bis achtzehn Mitglieder), sie ist relativ unstrukturiert und sucht sich ihre eigenen Ziele und persönlichen Richtungen. Die Erfahrung schließt oft, wenn auch nicht immer, eine kognitive Energiezufuhr ein - Material, das der Gruppe dargelegt wird. In fast allen Fällen besteht die Verantwortlichkeit des Leiters in erster Linie darin, den Ausdruck von Gefühlen und Gedanken seitens der Gruppenmitglieder zu erleichtern. Der Gruppenleiter und die Gruppenmitglieder konzentrieren sich auf den Prozeß und auf die Dynamik der unmittelbaren persönlichen Interaktionen. Dies sind einige jener identifizierenden Merkmale, die ziemlich leicht zu erkennen sind.
Es gibt aber auch einige praktische Hypothesen, die von all diesen Gruppen gemeinsam vertreten und ganz unterschiedlich formuliert werden können. Hier ist eine solche Formulierung:
In einer Gruppe läßt sich ein psychologisches Klima der Sicherheit herstellen, in dem sich nach und nach die Freiheit des Ausdrucks und die Reduktion der Abwehr einstellen.
In einem solchen psychologischen Klima werden viele unmittelbare Gefühlsreaktionen eines jeden Mitglieds gegenüber den anderen und eines jeden Mitglieds gegenüber sich selbst ausgedrückt. Ein Klima gegenseitigen Vertrauens entwickelt sich aus dieser wechselseitigen, gemeinsamen Freiheit, echte positive wie negative Gefühle auszudrücken. Jedes Mitglied gelangt zu größerer Akzeptierung seines totalen emotionalen, intellektuellen und physischen Seins, so wie es ist, einschließlich seines Potentials. Für Individuen, die weniger durch Abwehr-Rigidität gehemmt sind, wird die Möglichkeit einer Veränderung der persönlichen Einstellungen und des Verhaltens weniger bedrohlich. Mit verminderter Abwehr-Rigidität können Individuen einander besser verstehen und in größerem Maße voneinander lernen. Es entwickelt sich eine Rückkoppelung (»feedback«) von einer Person zur anderen, so daß jedes Individuum erfährt, wie es den anderen erscheint und welchen Einfluß es auf interpersonale Beziehungen hat.
Diese größere Freiheit und verbesserte Kommunikation führt zu neuen Ideen, neuen Konzepten und neuen Richtungen. Innovation kann eher zu einer wünschenswerten als zu einer bedrohlichen Möglichkeit werden.
Das Lernen in der Gruppe wirkt sich nach der Gruppenerfahrung zeitweilig oder auch dauerhaft auf die Beziehungen zu Ehegatten, Kindern, Studenten, Untergebenen, Ebenbürtigen und sogar Überlegenen aus.

Diese Darstellung grundlegender Aspekte der Gruppenerfahrung trifft wahrscheinlich auf den größten Teil aller Gruppen zu, nicht jedoch auf Situationen, wie man sie in der Gestalttherapie und anderen Gruppen findet, bei denen der Leiter eine viel größere Verantwortung hat und viel mehr manipuliert.
Es sei noch erwähnt, daß der Stil des Leiters und sein eigenes Konzept des Gruppenprozesses für die Erfahrung und das Verhalten der Gruppe ausschlaggebend sind. Man hat festgestellt, daß der Prozeß in führerlosen Gruppen, wo sich mehrere Personen einfach zusammenfinden, ohne eine Person zum Gruppenleiter zu bestimmen, ähnlich der oben gegebenen Beschreibung verläuft. Daher könnte man sagen, daß Variationen dieses Prozesses häufig von Stil oder Standpunkt des Gruppenleiters abhängen


Der Gruppenprozeß..

Im nächsten Kapitel werde ich versuchen, ein etwas detaillierteres Bild vom Gruppenprozeß zu geben; hier möchte ich nur ganz kurz und allgemein auf diesen Prozeß eingehen.
Aufgrund der unstrukturierten Natur der Gruppe ist das Hauptproblem der Teilnehmer die Frage, wie sie die gemeinsame Zeit nutzen sollen - ob es nun die achtzehn Stunden eines Wochenendes oder die vierzig oder mehr Stunden einer einwöchigen Gruppe sind. Häufig sind sie zunächst ängstlich und irritiert. Erst nach und nach wird offensichtlich, daß es das Hauptziel fast aller Mitglieder ist, Mittel und Wege zu finden, um Beziehungen zu anderen Gruppenmitgliedern und zu sich selbst aufzunehmen. Je mehr sie zunächst zögernd und ängstlich ihre Gefühle und Einstellungen zueinander und zu sich selbst erforschen, desto deutlicher wird es, daß sich jeder zuerst hinter Fassaden und Masken versteckt hatte. Die wahren Gefühle und die wahren Personen zeigen sich nur ganz vorsichtig, bis der Kontrast zwischen der äußeren Schale und der inneren Person im Laufe der Stunden immer offenkundiger wird. Allmählich baut sich eine echte Kommunikation auf, und die Person, die bislang durch eine Mauer von der anderen getrennt war, kommt plötzlich mit Teilen ihrer tatsächlichen Gefühle heraus. Gewöhnlich ging sie von der Einstellung aus, daß ihre wirklichen Gefühle für die anderen Mitglieder der Gruppe nicht akzeptabel sind. Aber dann stellt sie mit Erstaunen fest, daß man sie um so mehr akzeptiert, je wirklicher sie wird. Negative Gefühle sind häufig besonders gefürchtet, da jedes Individuum davon überzeugt ist, daß sein Haß und seine eifersüchtigen Gefühle von den anderen unmöglich akzeptiert werden können. So entwickelt sich langsam ein Gefühl der Zuversicht und des Vertrauens, ein Gefühl der Wärme und der Zuneigung gegenüber den anderen Mitgliedern der Gruppe. Samstags nachmittags sagt eine Frau: »Wenn mir Freitag abend jemand gesagt hätte, daß ich heute alle Mitglieder dieser Gruppe gern habe, dann hätte ich ihn für verrückt erklärt.« Teilnehmer einer Gruppe fühlen eine Nähe und eine Intimität, die sie nicht einmal ihren engsten Freunden oder den einzelnen Familienmitgliedern gegenüber empfinden, weil sie sich in der Gruppe tiefer und vollständiger offenbart haben als gegenüber ihren eigenen Angehörigen.
In einer solchen Gruppe lernt das Individuum sich selbst und jeden anderen umfassender kennen, als dies gewöhnlich in der gesellschaftlichen oder beruflichen Beziehung möglich wäre. Es lernt die anderen Mitglieder und sein eigenes, inneres Selbst kennen, jenes Selbst, das meist hinter einer Fassade verborgen ist. Daher fällt es ihm innerhalb der Gruppe und später in alltäglichen Situationen leichter, Beziehungen zu anderen herzustellen


Wie erklärt sieb die schnelle Verbreitung?
Ich glaube, es gibt heute kaum noch eine mittlere oder größere Stadt in unserem Land, in der nicht die eine oder andere Art von Intensiv-Gruppe zu finden wäre. Es ist nahezu unglaublich, mit welcher Geschwindigkeit sich das Interesse an diesen Gruppen ausgebreitet hat. Als ich vor ungefähr einem Jahr in einer Stadt im Westen vor einem großen Kreis von Zuhörern sprechen sollte, fragte ich den Mann, der die Veranstaltung organisiert hatte, wie groß der Prozentsatz der Zuhörer mit Erfahrung in Encounter-Gruppen oder ähnlichen Gruppen seiner Meinung nach sei. Er meinte, höchstens dreißig Prozent. Nach einer kurzen Beschreibung einer solchen Gruppe und der Aufzählung verschiedener Gruppenbezeichnungen bat ich die Zuhörer, die Erfahrung mit derlei Gruppen hatten, die Hand zu heben. Von den zwölfhundert Anwesenden meldeten sich ungefähr drei Viertel. Ich bin sicher, daß es vor zehn Jahren nicht einmal fünfzig gewesen wären.
Was die schnelle Verbreitung noch erstaunlicher macht, ist die völlig unorganisierte Spontaneität, mit der die Bewegung um sich griff. Im Gegensatz zu den schrillen Stimmen der Rechten (auf die ich später zurückkomme) handelte es sich dabei nicht um eine »Verschwörung«. Ganz im Gegenteil. Keine Gruppe oder Organisation hat die Entwicklung der Encounter-Gruppen gefördert; weder irgendeine Stiftung noch die Regierung haben sie finanziert. Viele orthodoxe Psychologen und Psychiater beobachteten die Entwicklung voller Mißtrauen. Dennoch wuchs die Anzahl der Gruppen in Kirchen, Colleges und in der Industrie. Mitarbeiter unseres Center for Studies of the Person stellten kürzlich ein Sommerprogramm für die Ausbildung von Gruppenleitern zusammen, das jeweils zwei angehenden Leitern unter anderem auch die Möglichkeit bieten sollte, an mehreren aufeinanderfolgenden Wochenenden gemeinsam eine Gruppe zu leiten. Um Teilnehmer für diese Gruppen zu finden, verschickten sie eine bescheidene Anzahl von Einladungen an Adressen im Raum San Diego. Für die Gruppen wurde weder Werbung betrieben noch berichtete die Presse über diese Möglichkeit. Der einzige ungewöhnliche Anreiz an der Einladung war, daß die Teilnehmer nur für Wohnen und Essen sowie für die Anmeldung bezahlen mußten. Zusätzliche Kosten entstanden nicht, da ausdrücklich vermerkt war, daß die Führung der Gruppen von angehenden Gruppenleitern übernommen werden sollte. Ich war zunächst der Ansicht, daß sich bei so geringer Publicity kaum genügend Leute melden würden. Aber zu meinem Erstaunen meldeten sich für das erste Wochenende sechshundert und für das zweite achthundert Personen.
Wie läßt sich die schnelle Verbreitung der Gruppen erklären? Wie die offenbar gewaltige Nachfrage? Ich glaube, daß dieses Bedürfnis aus zwei Elementen erwächst. Das erste ist die zunehmende Enthuma-nisierung unserer Gesellschaft, in der der Mensch nichts zählt - in der allein seine Steuer- und Sozialversicherungsnummer wichtig sind. Diese unpersönliche Qualität bestimmt alle Institutionen in unserem
Land. Das zweite ist, daß wir wohlhabend genug sind, um uns selbst um unsere psychologischen Wünsche zu kümmern. Solange ich mir Sorgen machen muß, wie ich die nächste Miete bezahlen soll, bin ich mir meiner Einsamkeit nicht sonderlich bewußt. So ist das Interesse an Encounter-Gruppen oder anderen Gruppen in Ghettogebieten bei weitem nicht so groß wie in Teilen der Bevölkerung, die sich keine so großen Sorgen mehr um die physischen Notwendigkeiten des Alltags machen müssen.
Aber wie sieht das psychologische Bedürfnis aus, das die Leute zu den Encounter-Gruppen hinzieht? Ich glaube, es ist ein Hunger nach etwas, das der Mensch weder in seiner Arbeitswelt noch in seiner Kirche und ganz sicher nicht in seiner Schule oder auf seinem College findet. So traurig das auch sein mag - er findet es nicht einmal im modernen Familienleben. Es ist der Hunger nach engen und wirklichen Beziehungen, in denen Gefühle und Emotionen spontan, ohne Angst und Vorsicht, ausgedrückt werden können, in denen tiefe Erfahrungen - Enttäuschungen und Freuden - geteilt und neue Arten des Verhaltens gewagt und ausprobiert werden können. Kurz, der Hunger nach Beziehungen, die ihn dem Zustand näherbringen, in dem alles bekannt ist und alles akzeptiert wird und weiteres Wachsen möglich wird. Dies scheint mir das übermächtige Verlangen zu sein, das der Mensch durch seine Erfahrungen in einer Encounter-Gruppe zu stillen hofft


Angst vor der Bewegung

Alle Arten von Intensiv-Gruppen waren und sind Ziel heftiger Angriffe des rechten Flügels und reaktionärer Gruppen. Sie stellen für diese Leute eine Form der »Gehirnwäsche« und der »Denkkontrolle« dar, eine kommunistische Verschwörung und ein Komplott der Nazis. Die abgegebenen Erklärungen sind lächerlich extrem und häufig widersprüchlich. Man kann durchaus sagen, daß diese Bewegung häufig als eine der größten Gefahren bezeichnet wird, die unser Land bedrohen.
Wie bei solchen Angriffen üblich, vermischt sich in ihnen ein kleiner Teil ehrlicher Berichterstattung mit erschreckenden Schlußfolgerungen und versteckten Anspielungen. So verlas der Abgeordnete Rarick laut Kongreßbericht vom 19. Januar 1970 vor dem Kongreß eine scharfe Kritik von Ed Dieckmann jr. mit dem Titel »Sensitivität
International - ein Netzwerk zur Weltherrschaft«. Um die Technik zu illustrieren, zitiere ich einen der milderen Absätze aus diesem Artikel.

»Am 23. September 1968 sagte die damalige Präsidentin der NEA, Elizabeth D. Koontz .. .2)
>Die NEA hat für das städtische Schulproblem bereits ein vielseitiges Programm entwickelt, das unter anderem auch ein Sensitivitäts-Training für Erwachsene - Eltern wie Lehrer - einschließt^
Damit enthüllte sie das wahre Ziel: Eingliederung des gesamten Gemeinwesens in ein gigantisches Gruppensystem, genau wie in Nordvietnam, in Rußland und in China.
Es ist nicht uninteressant zu wissen, daß die gleiche Elizabeth Koontz, die erste Negerpräsidentin der NEA und ein bekanntes Mitglied des SIECUS, des berüchtigten >Sex Information & Education Council of the US< zu Beginn dieses Jahres von Präsident Nixon zur Vorsitzenden des Frauenausschusses im Arbeitsministerium ernannt wurde.
Parallel zu dieser Programmankündigung einer zwangsweisen Überzeugung oder Gehirnwäsche< - denn darum handelt es sich letzten Endes - teilte die New York University letzten Februar mit, daß sie demnächst den Magistertitel für Sensitivitäts-Training vergeben werde. Und im Mai verkündete die Redlands University in Kalifornien, daß auch sie in diesem Sommer mit ST beginne -und daß ST zum Pflichtfach erhoben werden soll!«

Hier dient ein Bona-fide-Zitat als Grundlage für völlig grundlose Behauptungen und ziemlich horrende Unterstellungen.
Ein anderer Schreiber aus dem rechten Lager, Alan Stang, stellte am 9. April 1969 in The Review of the News an seine Leser die Frage: »Werden unsere Lehrer dem >Sensitivitäts-Training< unterzogen, um sie für die diktatorische Herrschaft zu präparieren, die das Wesen des Nazismus und des Sozialismus ist?« Ein anderer Artikel, den Gary Allen in American Opinion, dem offiziellen Organ der John Birch Society, im Januar 1968 veröffentlichte, verkündet bereits in der Uberschrift: »Haß-Therapie: Sensitivitäts-Training zur organi

sierten Veränderung.« Er behauptet, daß das Sensitivitäts-Training »mittlerweile im ganzen Land von der konspirativen Linken unterstützt wird«.
Aus der Flut extremer Feststellungen der Rechten könnte man beliebig lange weiter zitieren. Es ist ganz klar, daß Sensitivitäts-Gruppen, Encounter-Gruppen und alle anderen Arten von Intensiv-Gruppen für diese Leute die schwarzen Schafe der amerikanischen Gesellschaft sind.
James Harmon kommt in einer sorgfältig dokumentierten Studie zu dem Schluß, daß sich unter den Rechten ein großer Prozentsatz autoritärer Persönlichkeiten findet3). Sie neigen zu der Annahme, daß der Mensch von Natur aus grundsätzlich böse ist. Angesichts der Übermacht der unpersönlichen Kräfte, von denen wir alle umgeben sind und die außerhalb unserer Kontrollmöglichkeiten zu stehen scheinen, suchen sie nach dem »Feind«, damit sie ihn hassen können. Dieser »Feind« war in anderen Epochen die Hexe, der Dämon, der Kommunist (man erinnere sich an Joe McCarthy), und heute sind es die Sexualerziehung, das Sensitivitäts-Training, der »nichtreligiöse Humanismus« und andere zeitgemäße Dämonen.
Meine eigene Erklärung kommt Harmons zweiter Schlußfolgerung näher. Um es mit eigenen Worten zu sagen: Encounter-Gruppen führen zu größerer persönlicher Unabhängigkeit, zu größerer Bereitschaft zu Neuerungen und zu größerer Opposition gegenüber insti-tutionaler Starrheit und Strenge. Wenn also eine Person Angst vor Veränderung in jedweder Form hat, dann hat sie ebensoviel Angst vor Encounter-Gruppen, die konstruktive Veränderungen erzeugen, wie aus den folgenden Kapiteln deutlich hervorgeht. Wer daher gegen Veränderungen ist, der wird die Intensiv-Gruppe hartnäckig oder sogar mit Gewalt bekämpfen


Schluß
Ich habe versucht, die gewaltige Entwicklung und Verbreitung der Intensiv-Gruppen in eine historische Perspektive einzuordnen und einige der gegenwärtig zu beobachtenden Formen und Akzente kurz darzulegen. Ich habe ferner versucht, die humanisierenden Elemente aufzuzeigen, die diese Gruppen charakterisieren, und eine mögliche Erklärung für das schnelle Wachsen dieser Bewegung und für die Angst zu formulieren, die sie bei jenen hervorruft, die gegen jede Veränderung sind. Vielleicht können wir jetzt dazu übergehen, jene Ereignisse etwas näher zu betrachten, die in solchen Gruppen gewöhnlich geschehen.

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