Montag, 10. Januar 2011

Kann ich in einer Gruppe eine fördernde Funktion haben?

Als ich das Kapitel über den Prozeß von Encounter-Gruppen beendet hatte, dachte ich, daß der nächste logische Schritt ein Kapitel über »Die Förderung und Leitung von Encounter-Gruppen wäre.« Aber irgendwie sprach mich das überhaupt nicht an, und ich ließ die Arbeit mehr als ein Jahr lang liegen. Immer wieder dachte ich an die vielen verschiedenen Arbeitsweisen von Gruppenleitern, mit denen ich zusammengearbeitet hatte oder die ich kannte. Alles, was ich über Gruppenleitung schreiben könnte, mußte durch die gebotene Kürze allein schon so homogen sein, daß jede darin enthaltene Wahrheit in gewissem Maße auch wieder eine Verfälschung wäre.
Dann dachte ich daran, das Thema einzuschränken und über »Meine Art der Gruppenleitung« zu schreiben, in der Hoffnung, auf diese Weise andere anzuregen, das gleiche zu tun. Aber in Gesprächen mit verschiedenen anderen Gruppenleitern kam ich zu dem Schluß, daß auch dies nicht das richtige Thema war, weil es immer noch nach Expertentum klang, was zu betonen nicht meine Absicht war. Ich glaube, der derzeitige Titel drückt meine eigentliche Absicht am besten aus. Ich möchte so offen wie möglich über meine Bemühungen schreiben, in einer Gruppe eine den Prozeß fördernde Person zu sein, und soweit wie möglich darlegen, wo meine Stärken, Schwächen und Unsicherheiten liegen, wenn ich versuche, mich wirkungsvoll in der Kunst der interpersonalen Beziehungen zu betätigen



Hintergrund der Philosophie und Einstellungen

Einer Gruppe tritt man nicht als eine tabula rasa bei. Deshalb möchte ich kurz mitteilen, welche Einstellungen und Überzeugungen ich mitbringe.
Ich vertraue darauf, daß eine Gruppe, sofern das Klima einigermaßen förderlich ist, ihr eigenes Potential und das ihrer Mitglieder erschließt. Für mich ist diese Fähigkeit der Gruppe etwas Ehrfurchtgebietendes. Als Folge habe ich mit der Zeit sehr großes Vertrauen in den Gruppenprozeß entwickelt, das zweifellos dem Vertrauen gleicht, das ich in bezug auf den therapeutischen Prozeß hege, wenn dieser gefördert und nicht gesteuert wird. Mir erscheint die Gruppe wie ein Organismus, der seine eigene Richtung kennt, auch wenn er sie intellektuell nicht definieren kann. Ich fühle mich immer an einen medizinischen Film erinnert, der einst tiefen Eindruck auf mich machte. Er zeigte, wie die weißen Blutkörperchen sich relativ ziellos innerhalb des Blutkreislaufs bewegten, bis ein Krankheitserreger erschien. Auf diese Bakterie bewegten sie sich in einer Weise zu, die sich nur als planmäßig bezeichnen läßt. Sie umzingelten und zerstörten sie, dann bewegten sie sich wieder so ziellos und blindlings wie zuvor. In ähnlicher Weise scheint mir eine Gruppe die ungesunden Elemente innerhalb ihres Prozesses zu erkennen, zu überwinden oder zu eliminieren und aus diesem Ablauf als eine gesündere Gruppe hervorzugehen. Diese »Weisheit des Organismus« habe ich bei Gruppen immer wieder beobachtet.
Das bedeutet aber nicht, daß alle Gruppen »erfolgreich« 10) sind oder daß der Prozeß immer der gleiche ist. Die eine Gruppe beginnt vielleicht auf einer sehr ausdrucksarmen, nichtssagenden Ebene und bewegt sich nur langsam, aber stetig auf eine größere Freiheit zu. Eine andere kann dagegen sehr spontan und ausdrucksfreudig beginnen und dennoch sehr lange brauchen, bis sie ihr Potential voll erschlossen hat. Beides scheint mir ein Teil des Gruppenprozesses zu sein, und ich vertraue jeder Gruppe im gleichen Maße, auch wenn meine persönliche Freude an der einen Gruppe größer sein kann als an der anderen.
Eine andere Einstellung hat mit Absichten zu tun. Gewöhnlich habe ich hinsichtlich einer Gruppe kein bestimmtes Ziel im Auge, sondern wünsche mir wirklich, daß sie ihre eigene Richtung findet. Es gibt jedoch Fälle, in denen ich aufgrund irgendwelcher persönlicher Vorurteile oder Ängste für eine Gruppe ein bestimmtes Ziel habe. Wenn dem so war, dann hat die Gruppe dieses Ziel entweder vereitelt oder sich so lange mit mir befaßt, bis es mir leid tat, daß ich mir überhaupt ein festes Ziel vorgenommen hatte. Ich betone die negativen Aspekte bestimmter fester Ziele, weil ich einerseits hoffe, sie zu
") Was heißt »erfolgreich«? Vorläufig möchte ich diesen Begriff nur auf die einfachste Art definieren. Wenn einen Monat nach Abschluß der Gruppe eine bestimmte Anzahl der Teilnehmer das Gefühl hat, daß es eine sinnlose, unbefriedigende oder gar schmerzliche Erfahrung war, von der sie sich immer noch erholen, dann war die Gruppe für diese Leute sicher nicht erfolgreich. Wenn andererseits die meisten oder alle Mitglieder immer noch das Gefühl haben, es sei eine lohnende Erfahrung gewesen, die sie in ihrem Wachsen irgendwie weitergebracht hat, dann verdient sie es meiner Ansicht nach, als erfolgreiche Gruppe bezeichnet zu werden.
vermeiden, andererseits aber wünsche, daß in der Gruppe irgendeine Prozeßbewegung einsetzt. Ich glaube sogar, einige der wahrscheinlichen generellen Richtungen - wenngleich nicht irgendeine spezifische Richtung - vorhersagen zu können. Für mich ist das ein wichtiger Unterschied. Die Gruppe wird sich bewegen - dessen bin ich sicher -, aber es wäre anmaßend zu glauben, ich könnte oder sollte diese Bewegung in Richtung auf ein bestimmtes Ziel lenken.
Dieser Ansatz unterscheidet sich, soweit ich sehen kann, philosophisch nicht von dem Ansatz, den ich vor Jahren im Hinblick auf die Individualtherapie übernommen habe. Ich führe das auf ein in Gruppen erfahrenes persönliches Wachsen zurück.
Normalerweise ist die Frage, wie meine Art der Gruppenleitung auf andere Personen wirkt, für mich nicht interessant. In dieser Hinsicht fühle ich mich eigentlich kompetent und zufrieden. Andererseits weiß ich aus Erfahrung, daß ich zumindest vorübergehend auf einen Gruppenleiter eifersüchtig sein kann, der die Gruppe besser fördert als ich.
Meine Hoffnung ist, daß ich mit der Zeit ebenso ein Mitglied der Gruppe wie ihr Leiter werde. Das läßt sich schwer erklären, ohne den Eindruck zu erwecken, daß ich bewußt zwei verschiedene Rollen spiele. Wenn man ein Gruppenmitglied beobachtet, das wirklich und ehrlich es selbst ist, dann wird man sehen, daß es manchmal Gefühle, Einstellungen und Gedanken zu dem Zweck ausdrückt, das Wachsen eines anderen Gruppenmitglieds zu fördern. Bei anderen Gelegenheiten wird es mit der gleichen Offenheit und Echtheit Gefühle oder Sorgen ausdrücken, um selbst wachsen zu können. Damit habe ich auch mich selbst beschrieben, abgesehen von meinem Wissen, daß ich zu der zweiten Art des Ausdrucks eher in den späteren als in den frühen Phasen einer Gruppe neige. Aber immer ist das, was ich tue, ein Teil von mir und kein Rollenspiel.
Vielleicht ist hier noch eine weitere kurze Analogie von Nutzen. Wenn ich versuche, einem Fünfjährigen irgendein wissenschaftliches Phänomen zu erklären, dann ist meine Terminologie und selbst meine Einstellung eine gänzlich andere, als wenn ich das Phänomen einem aufgeweckten Sechzehnjährigen erklären würde. Bedeutet das, daß ich zwei verschiedene Rollen spiele? Natürlich nicht - es bedeutet einfach, daß zwei verschiedene Facetten meines wirklichen Selbst ins Spiel gebracht werden. Genauso möchte ich in dem einen Augenblick einer Person gegenüber förderlich sein und im anderen das Wagnis eingehen, einen neuen Aspekt meiner selbst darzulegen.
Ich glaube, die Art, in der ich eine fördernde Funktion ausübe, ist für das Leben der Gruppe wichtig, aber viel wichtiger als meine Bemerkungen oder mein Verhalten ist der Gruppenprozeß, der stattfinden wird, wenn ich ihn nicht aufhalte. Ich fühle mich den Gruppenmitgliedern gegenüber verantwortlich, aber ich fühle mich nicht für sie verantwortlich.
In jeder Gruppe wünsche ich mir bis zu einem gewissen Grad, daß die ganze Person gegenwärtig ist, affektiv wie kognitiv. Ich habe festgestellt, daß das nicht einfach zu erreichen ist, da die meisten von uns offenbar in irgendeinem gegebenen Augenblick nur das eine oder das andere sind. Dennoch bleibt dies eine Art des Seins, die für mich einen großen Wert hat. Ich versuche selbst, in dieser Hinsicht Fortschritte zu machen und in einer Gruppe voll und ganz gegenwärtig zu sein, die ganze Person einzubringen mit Gefühlen, die von Gedanken durchdrungen, und mit Gedanken, die von Gefühlen durchdrungen sind. Aus Gründen, die ich nicht ganz begreife, ist dies vor einiger Zeit in einer Gruppe von uns allen in höchst befriedigendem Maße erreicht worden


Die das Klima bestimmende Funktion

Ich neige dazu, eine Gruppe höchst unstrukturiert zu eröffnen und allenfalls eine simple Bemerkung zu machen, etwa in der Art wie: »Ich glaube, am Ende dieser Gruppensitzungen werden wir einander wesentlich besser kennen, als wir es jetzt tun.« Oder: »So, da sind wir. Wir können aus dieser Gruppenerfahrung genau das machen, was wir machen wollen.« Oder: »Ich fühle mich nicht sonderlich wohl, aber es geht mir schon besser, wenn ich mich umsehe und feststelle, daß es allen anderen ähnlich geht. Wo wollen wir anfangen?« In einer auf Tonband protokollierten Diskussion mit einigen anderen Gruppenleitern erläuterte ich diese Auffassung folgendermaßen:

»Weil ich der Gruppe vertraue, kann ich eigentlich von Anfang an in einer Gruppe locker und entspannt sein. Das ist vielleicht etwas übertrieben, denn zu Beginn der ersten Sitzung habe ich immer ein wenig Angst, aber im großen und ganzen denke ich: >Ich habe zwar keine Ahnung, was jetzt kommt, aber was auch immer kommt, ich bin sicher, daß es das richtige ist.< Und ich teile den anderen in nichtverbaler Form mit: »Keiner von uns weiß offenbar, was geschehen wird, aber das scheint kein Grund zur Sorge zu sein.< Ich glaube, daß mein Entspanntsein und die Tatsache, daß ich nicht den Wunsch habe, zu dirigieren, auf die anderen befreiend wirkt.«
Ich höre jedem Individuum, das sich ausdrückt, so einfühlend, sorgsam und genau zu, wie ich nur kann. Gleichgültig ob das, was es sagt, oberflächlich oder bedeutsam ist, ich höre ihm zu. Für mich verdient jedes Individuum, das spricht, verstanden zu werden. Meine Kollegen sagen, daß ich die Person in diesem Sinne »bestätige«.
Es steht außer Zweifel, daß ich selektiv zuhöre, folglich »direktiv« bin, wenn man mich dessen beschuldigen will. Meine Aufmerksamkeit gilt dem Gruppenmitglied, das spricht, und zweifellos bin ich an den Einzelheiten seines Ehestreits oder an seinen Schwierigkeiten am Arbeitsplatz oder an dem, was er an den Darstellungen anderer auszusetzen hat, weit weniger interessiert als an der Bedeutung, die diese Erfahrungen jetzt für ihn haben, und an den Gefühlen, die sie in ihm wachrufen. Und auf diese Bedeutungen und Gefühle versuche ich zu reagieren.
Ich gebe mir alle Mühe, dem Individuum ein psychologisch sicheres Klima zu schaffen. Ich möchte, daß es von Anfang an das Gefühl hat: Wenn ich es riskiere, etwas sehr Persönliches oder Absurdes oder Feindseliges zu sagen, dann gibt es in diesem Kreis zumindest eine Person, die mich so weit respektiert, daß sie mir zuhört und das, was ich sage, als authentischen Ausdruck meines Selbst nimmt.
Es gibt noch einen etwas anderen Weg, auf dem ich versuche, dem Gruppenmitglied das Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Ich weiß genau, daß man die Erfahrung nicht ohne den Schmerz einer neuen Einsicht oder den Schmerz durch ehrliches Feedback von anderen machen kann. Aber ich möchte, daß das Individuum das Gefühl hat, daß ich - was immer auch in ihm oder mit ihm geschieht - psychologisch sehr stark bei ihm bin, in schmerzlichen wie in freudigen Augenblicken oder in Augenblicken, die beides zugleich sind und häufig das Wachsen anzeigen. Ich glaube, ich spüre in den meisten Fällen, wann ein Gruppenmitglied Angst hat oder verletzt ist, und in diesen Augenblicken gebe ich ihm zu verstehen, verbal oder nicht verbal, daß ich es wahrnehme und in seinem Schmerz oder seiner Angst bei ihm bin.
Das Akzeptieren der Gruppe.
Ich habe mit einer Gruppe und mit dem einzelnen Gruppenmitglied sehr viel Geduld. Wenn ich eines gelernt und in den letzten Jahren immer wieder erfahren habe, dann dies, daß es letzten Endes ungemein lohnend ist, wenn man eine Gruppe so akzeptiert, wie sie ist. Wenn eine Gruppe rationalisieren will, ganz oberflächliche Probleme diskutieren möchte oder große Angst hat vor persönlicher Kommunikation, dann geht mir das weniger »auf die Nerven« als manchen anderen Gruppenleitern. Ich weiß, daß bestimmte Übungen oder Aufgaben, die der Gruppenleiter stellt, die Gruppe praktisch zu einer besseren »Hier-und-jetzt«-Kommunikation zwingen können. Es gibt Gruppenleiter, die in diesen Dingen sehr bewandert sind und zu Zeiten große Wirkungen erzielen. Ich bin jedoch Wissenschaftler genug, um immer wieder Nachuntersuchungen anzustellen, und ich weiß, daß das anhaltende Resultat solcher Verfahrensweisen bei weitem nicht immer so befriedigend ist wie die momentane Wirkung. Das kann im besten Fall zur Jüngerschaft (die ich gar nicht schätze) und zu Aussprüchen führen wie: »Welch wunderbarer Gruppenleiter. Er hat es geschafft, daß ich mich öffne, obwohl ich das gar nicht vorhatte.« Es kann aber auch dazu führen, daß die ganze Erfahrung abgelehnt wird. »Warum habe ich all diese verrückten Sachen gemacht, zu denen er mich aufgefordert hat?« Im schlimmsten Fall kann es dazu führen, daß die Person das Gefühl hat, ihr eigenes Selbst sei in irgendeiner Weise verletzt worden. Sie wird sich in Zukunft davor hüten, dieses Selbst noch einmal in einer Gruppe zu enthüllen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß es auf längere Sicht nicht gut geht, wenn ich versuche, eine Gruppe auf eine tiefere Ebene zu drängen.
Deshalb habe ich für mich festgestellt, daß es sich lohnt, mit der Gruppe genau dort zu leben, wo sie sich befindet. Einmal arbeitete ich mit einer Gruppe sehr gehemmter Wissenschaftler - die meisten waren Naturwissenschaftler -, die ihre Gefühle nur sehr selten offen ausdrückten und bei denen es eine persönliche Begegnung auf einer tieferen Ebene einfach nicht gab. Aber auch diese Gruppe wurde viel freier, ausdrucksfreudiger und Neuerungen gegenüber aufgeschlossener. Unsere Sitzungen zeitigten viele positive Resultate.
Ähnliche Ergebnisse erbrachte meine Arbeit mit höheren Beamten aus dem Kulturbereich - sie zählen wahrscheinlich zu den starrsten, mit den bestfunktionierenden Abwehrmechanismen ausgestatteten Menschen in unserer Gesellschaft. Das heißt aber nicht, daß es immer leicht für mich ist. In einer Gruppe von Erziehern wurde sehr viel Oberflächliches geredet und sehr viel rationalisiert, aber nach und nach gelangte die Gruppe zu einer tieferen Ebene. Eines Abends wurde das Gespräch immer trivialer, bis jemand fragte: »Tun wir eigentlich das, was wir wollen?« Die Antwort war ein fast einstimmiges »Nein«. Aber wenige Augenblicke später drehte sich das Gespräch erneut um gesellschaftliche Dinge, die mich nicht interessierten. Ich war in einer schwierigen Lage. Um die anfänglich beträchtliche Angst innerhalb der Gruppe zu beschwichtigen, hatte ich in der ersten Sitzung deutlich gesagt, die Gruppe könne aus den Sitzungen machen, was sie wolle, und nun schien sie sehr laut zu sagen: »Wir wollen die teure und kostbare Zeit mit Reden über Nichtigkeiten verbringen.« Meine Langeweile und meinen Ärger auszudrücken schien mir ein Widerspruch zu der Freiheit, die ich ihnen eingeräumt hatte Nach einigen Minuten kam ich zu dem Schluß, daß sie absolut das Recht hatten, über Nichtigkeiten zu reden, während ich berechtigt war, mir das nicht anzuhören. Also stand ich auf, verließ den Raum und ging ins Bett. Die Reaktionen am nächsten Morgen waren so unterschiedlich wie die Teilnehmer. Einer fühlte sich getadelt und bestraft, ein anderer hatte das Gefühl, ich hätte sie hereingelegt, ein dritter schämte sich der Zeitverschwendung, und ein weiterer hatte sich über die nichtigen Reden genauso geärgert wie ich. Ich erklärte ihnen, daß ich versucht hatte, mich meinen widersprüchlichen Gefühlen entsprechend zu verhalten, daß sie jedoch das Recht hatten, die Sache auf ihre Weise zu sehen. Danach wurden die Interaktionen jedenfalls weitaus sinnvoller

Akzeptierung des Individuums

Ich gestehe einem Gruppenteilnehmer das Recht zu, sich der Gruppe auszusetzen oder sich ihr zu verschließen. Wenn jemand psychologisch Abstand halten will, dann hat er dazu meine unausgesprochene Erlaubnis. Die Gruppe selbst kann damit einverstanden sein oder auch nicht, ich persönlich bin bereit, seine Haltung zu akzeptieren. Ein skeptischer Verwaltungskollege sagte, er habe in der Gruppe als Wichtigstes gelernt, daß er sich der persönlichen Teilnahme enthalten
u) Hätte ich in der ersten Sitzung gesagt: »Wir können daraus machen, was wir wollen« — was vorzuziehen und wahrscheinlich ehrlicher gewesen wäre —, dann wäre es mir leichter gefallen zu sagen: »Mir paßt nicht, was wir daraus machen.« Aber ich war ganz sicher, daß ich gesagt hatte: »Ihr könnt daraus machen, was ihr wollt.« Man muß für seine Fehler immer zahlen.
könne und sich dabei wohl fühle. Ich hielt dies für eine sehr wertvolle Erfahrung, da sie ihm wahrscheinlich bei nächster Gelegenheit eine persönliche Teilnahme leichtermachen würde. Aus Berichten über sein Verhalten ein Jahr nach Beendigung der Gruppe entnahm ich, daß er durch seine scheinbare Teilnahmslosigkeit gewonnen und sich verändert hatte.
Schweigen oder völliges Verstummen eines Individuums kann ich akzeptieren, vorausgesetzt, ich weiß genau, daß es sich nicht um unausgedrückten Schmerz oder um Widerstand handelt.
Ich neige nicht dazu, die Äußerungen eines Individuums anzuzweifeln. Als Gruppenleiter (wie in meiner Funktion als Therapeut) ziehe ich es entschieden vor, für leichtgläubig gehalten zu werden. Ich glaube daran, daß ein Individuum mir eine Sache so erzählt, wie sie sich ihm darstellt. Wenn nicht, dann hat es die Freiheit, sich zu einem späteren Zeitpunkt zu korrigieren und wird es wahrscheinlich auch tun. Ich habe keine Lust, meine Zeit mit der Überlegung zu verschwenden, was es eigentlich sagen will.
Ich reagiere mehr auf gegenwärtige Gefühle als auf Feststellungen über vergangene Erfahrungen, aber ich bin bereit, mir beides anzuhören. Ich halte nicht viel von der Vorschrift: »Wir reden nur über das Hier und Jetzt.«
Ich versuche klarzumachen, daß alles, was geschieht, auf Entscheidungen der Gruppe zurückgeht, gleichgültig ob diese klar und bewußt oder unsicher und unbewußt getroffen werden. Wenn ich mit der Zeit ein Mitglied der Gruppe geworden bin, dann trage ich mein Teil an Einfluß bei, aber ich kontrolliere die Geschehnisse nicht.


Einfühlendes Verstehen

Der wichtigste Aspekt meines Verhaltens in der Gruppe ist, daß ich versuche, die genaue Bedeutung dessen zu verstehen, was ein Individuum mitteilt.
Für mich gehört es zu diesem Verstehen, daß ich mich bemühe, die Kommunikation immer wieder auf das zurückzuführen, was sie der Person bedeutet. So reagierte ich auf die sehr komplizierte und etwas unzusammenhängende Feststellung eines Mannes mit der Antwort: »Mit der Zeit haben Sie also immer mehr Dinge für sich behalten, die Sie Ihrer Frau früher mitgeteilt hätten. Stimmt das?«
»Ja.«
Ich glaube, für den Ehemann hatte diese Reaktion eine klärende Wirkung, und den Gruppenmitgliedern war es danach leichter, ihn zu verstehen; sie brauchten zu den komplizierten Einzelheiten keine Fragen mehr zu stellen und konnten auf das eigentliche Problem des Mannes eingehen.
Wenn das Gespräch allgemein wird oder die Gruppenmitglieder anfangen zu rationalisieren, dann sage ich etwa: »Es wird hier zwar nur generell darüber gesprochen, was der einzelne in bestimmten Situationen tut, aber ich glaube, jeder spricht mit dem, was er sagt, in erster Linie für sich. Stimmt das?« Oder: »Du hast gesagt, wir alle tun oder fühlen dies oder jenes. Heißt das, daß du dies oder jenes tust und fühlst?«
Zu Beginn einer bestimmten Gruppe sagte Al etwas ziemlich Wichtiges. John, ein anderes Gruppenmitglied, begann ihm wieder und wieder Fragen über das zu stellen, was er gesagt hatte, aber ich hörte daraus mehr als Fragen. Ich sagte schließlich zu John: »Gut, du versuchst dahinterzukommen, was er gesagt und gemeint hat, aber ich glaube, du versuchst auch, ihm etwas zu sagen, nur weiß ich nicht, was es ist.« John dachte kurz nach und begann dann für sich selbst zu sprechen. Bis zu diesem Augenblick hatte er offensichtlich versucht, Al dazu zu bringen, daß er seine (Johns) Gefühle formulierte, um sie nicht selbst und als von ihm selbst kommend aussprechen zu müssen. Dieses Verhalten findet man sehr häufig.
Wenn unterschiedliche Gefühle ausgedrückt werden, habe ich den sehr starken Wunsch, beide Seiten gleichermaßen zu verstehen. So sagte ich in einer Gruppe, die über die Ehe diskutierte und in der zwei Mitglieder sehr unterschiedliche Ansichten äußerten: »Ihr-beiden seid da sehr verschieden, denn du, Jerry, sagst: >Ich suche in einer Beziehung Ruhe. Ich möchte, daß alles nett und reibungslos verlauft<; und Winnie sagt: >Zum Teufel damit! Was ich will, ist Kommuni-kation.<« Das trug wesentlich dazu bei, die Unterschiede deutlicher zu machen und zu klären.


Meinen Gefühlen entsprechend handeln

Ich habe mit der Zeit gelernt, immer freier Gebrauch von meinen augenblicklichen Gefühlen zu machen, gleichgültig, ob der Gruppe als Ganzem, einem Individuum oder.mir selbst gegenüber. Ich empfinde fast immer ein echtes Interesse an jedem einzelnen Mitglied und an der Gruppe als Ganzem. Das zu erklären ist schwer. Es ist einfach eine Tatsache. Ich achte jede Person; aber diese Achtung ist keine Garantie für eine bleibende Beziehung. Sie ist ein Interesse und ein Gefühl, das hier und jetzt existiert. Ich glaube, ich empfinde das so klar, weil ich nicht sage, daß es von Dauer ist oder sein wird.
Ich glaube, ich spüre sehr deutlich, wenn sich ein Individuum zu sprechen bereit fühlt oder gegen Schmerz, Tränen oder Zorn ankämpft. Ich sage dann etwas Ähnliches wie: »Laßt uns Carlene eine Chance geben.« — Oder: »Du siehst aus, als würde dich irgendwas bedrücken. Willst du darüber reden?«
Wahrscheinlich reagiere ich besonders auf Verletztsein mit einfühlendem Verstehen. Dieses Bedürfnis, zu verstehen und der Person in ihrem Schmerz psychologisch beizustehen, geht wahrscheinlich zum Teil auf meine Erfahrung als Therapeut zurück.
Ich bemühe mich, jedes nachhaltige Gefühl, das ich einem Individuum oder der Gruppe gegenüber empfinde, auszusprechen. Das ist natürlich bei Beginn einer Gruppe noch nicht möglich, da man zu diesem Zeitpunkt noch nicht von anhaltenden Gefühlen sprechen kann. Wenn mir also das Verhalten eines Gruppenmitgliedes in der ersten Gruppensitzung mißfällt, dann würde ich dieses Mißfallen noch nicht ausdrücken. Bliebe mir dieses Gefühl jedoch auch in den nächsten Sitzungen, dann würde ich es aussprechen.
Bei einem Gespräch über diesen Punkt sagte ein Gruppenleiter: »Ich habe versucht, mich an ein elftes Gebot zu halten: >Du sollst immer sagen, wie du dich fühlst.<« Ein anderer Gesprächsteilnehmer erwiderte: »Wissen Sie, wie ich darauf reagiere? Wir sollten immer die Wahl haben. Manchmal entschließe ich mich, meine Gefühle auszudrücken; bei anderen Gelegenheiten bin ich entschlossen, es nicht zu tun.«
Ich persönlich stimme eher mit der Äußerung des zweiten Gruppenleiters überein. Wenn man sich der komplizierten Vielfältigkeit seiner Gefühle in einem bestimmten Augenblick bewußt ist - das heißt, wenn man sich selbst hinreichend zuhört -, dann kann man sich entscheiden, ob man starke und anhaltende Einstellungen ausdrückt oder nicht ausdrückt, wenn einem der Augenblick höchst unpassend erscheint.
Ich vertraue den Gefühlen, Worten und Impulsen, die in mir auftauchen. Auf diese Weise setze ich mehr ein als nur mein bewußtes Selbst; ich verlasse mich auch auf die Fähigkeiten meines Organismus. Zum Beispiel: »Ich hatte gerade die Vorstellung, du seist eine Prin-
Zessin und hättest es gern, wenn wir alle deine Untertanen wären.« Oder: »Ich spüre, daß du sowohl der Richter als auch der Angeklagte bist und unnachgiebig zu dir selbst sagst: Du bist in jedem Punkt schuldig.«
Die Intuition kann auch komplexere Formen annehmen. Während ein verantwortungsvoller Verwaltungsangestellter spricht, sehe ich vielleicht plötzlich den kleinen Jungen, den er mit sich herumträgt -den scheuen, ängstlichen kleinen Jungen, der er einmal war, den er aber zu leugnen versucht und dessen er sich schämt. Und ich wünsche mir, er würde dieses Kind lieben und umsorgen. Und dann spreche ich das aus - nicht als eine Wahrheit, sondern als etwas, das ich mir vorgestellt habe. Das führt häufig zu überraschend tiefen Einsichten und Reaktionen.
Ich möchte positive und liebende Gefühle genauso offen ausdrük-ken wie negative, enttäuschte oder ärgerliche Gefühle. Das kann unter Umständen riskant sein. In einem Fall habe ich vermutlich den Gruppenprozeß empfindlich gestört, weil ich in den ersten Sitzungen positive und warme Gefühle gegenüber einer Anzahl von Gruppenmitgliedern allzu stark ausgedrückt habe. Da mich die Gruppe immer noch als Gruppenleiter anerkannte, wurde es für andere schwieriger, ihre negativen und zornigen Gefühle auszusprechen. Dazu kam es erst in der letzten Gruppensitzung, und die ganze Erfahrung fand ein ausgesprochen unglückliches Ende.
Mir fällt es schwer, mir meiner zornigen oder ärgerlichen Gefühle schnell bewußt zu werden. Ich bedaure das; in dieser Hinsicht lerne ich aber langsam etwas dazu.
Es wäre gut, wenn man seine augenblicklichen Gefühle unbefangen ausdrücken könnte. In einer Encounter-Gruppe, in der sehr viel geschah, wurden die Gespräche auf Band aufgenommen. Erst zwei Jahre später hatte ich Gelegenheit, mir dieses Band anzuhören, und ich war erstaunt, welche Gefühle ich besonders anderen gegenüber ausgedrückt hatte. Wenn ein Mitglied dieser Gruppe mir (nach diesen zwei Jahren) gesagt hätte: »Dieses Gefühl haben Sie mir gegenüber ausgedrückt«, dann hätte ich das glatt abgestritten. Aber hier hatte ich den Beweis, daß ich als Person in einer Gruppe unbefangen, ohne jedes Wort abzuwägen oder mögliche Konsequenzen zu überlegen, die Gefühle ausgedrückt hatte, die ich im jeweiligen Augenblick empfand. Ich hielt das für sehr gut.
Ich scheine in einer Gruppe am besten zu funktionieren, wenn meine positiven oder negativen Gefühle in direkter Wechselwirkung zu denen eines Gruppenmitglieds stehen. Für mich bedeutet das Kommunikation auf einer tiefen Ebene, und bei dieser Kommunikation komme ich einer Ich-Du-Beziehung am nächsten.
Wenn ich etwas gefragt werde, versuche ich, meine eigenen Gefühle zu Rate zu ziehen. Spüre ich aber, daß die Frage wirklich eine Frage ist und keine andere Botschaft mit sich trägt, dann versuche ich sie nach bestem Wissen zu beantworten. Ich fühle mich jedoch nicht gezwungen, auf etwas zu antworten, bloß weil es als Frage formuliert wurde. In dieser Frage können andere Mitteilungen liegen, die viel wichtiger sind als die Frage selbst.
Ein Kollege erklärte mir einmal, ich würde »meine eigene Zwiebel häuten«, das heißt, ich würde Schicht für Schicht tiefer in meine Gefühle eindringen und sie ausdrücken, wenn sie mir in einer Gruppe bewußt werden. Ich kann nur hoffen, daß das stimmt.


Konfrontation und Feedback
Ich neige dazu, Individuen mit Eigenarten ihres Verhaltens zu konfrontieren. »Ich mag nicht, wie du alles ständig wiederholst. Mir scheint, du sagst eine Sache mindestens drei- oder viermal. Ich möchte viel lieber, du würdest schweigen, wenn du das, was du sagen willst, einmal gesagt hast.«
Oder ich konfrontiere eine andere Person mit meinen Gefühlen. »Heute morgen bin ich aufgewacht mit dem Gefühl: >Ich will dich nie wieder sehen.<«
Die Abwehr einer Person anzugreifen, scheint mir nicht richtig. Wenn jemand sagt: »Du versteckst deine Feindseligkeit vor uns« oder: »Du rationalisierst wahrscheinlich ständig, weil du Angst vor deinen eigenen Gefühlen hast«, dann halte ich diese Beurteilungen und Diagnosen für alles andere als förderlich. Enttäuscht mich jedoch das, was ich als die Kälte der Person wahrnehme, irritiert mich ihr Rationalisieren oder ärgert mich ihre Brutalität gegenüber einer anderen Person, dann möchte ich ihr diese Enttäuschung, diese Irritation oder diesen Ärger in mir vorhalten. Für mich ist das sehr wichtig.
Ich benutze bei der Konfrontation mit einer Person häufig ganz bestimmtes Material, das die Person zuvor mitgeteilt hat: »Jetzt sind Sie wieder der >arme kleine Bauernjunge<, wie Sie es genannt haben.« - Oder: »Jetzt scheinen Sie mir wieder genau das zu tun, was Sie vorhin beschrieben haben - Sie sind wieder das Kind, das um jeden Preis Aufmerksamkeit erregen will.«
Wenn ein Individuum durch meine Konfrontation oder durch die anderer Gruppenmitglieder getroffen zu sein scheint, dann bin ich sofort bereit, ihm zu helfen, wenn es das wünscht. »Sie sehen aus, als wäre Ihnen das im Augenblick genug. Möchten Sie, daß wir Sie jetzt in Ruhe lassen?« Seine Antwort ist das einzige, wonach man sich richten kann; manchmal wünscht ein Individuum, daß es weiter konfrontiert wird, auch wenn es noch so schmerzlich ist.


Ausdruck eigener Probleme

Wenn mich in meinem Leben etwas quält, bin ich bereit, das in der Gruppe auszudrücken, aber andererseits vergesse ich nicht, daß ich für die Leitung der Gruppe bezahlt werde und meine Probleme in einer anderen Gruppe oder mit einem Therapeuten bearbeiten sollte, statt die Zeit der von mir geleiteten Gruppe dafür zu beanspruchen. Wahrscheinlich bin ich in dieser Sache aber zu vorsichtig. In einem Fall hatte ich tatsächlich das Gefühl, die Gruppe zu hintergehen. Ich war von einem ernsten Problem sehr stark in Anspruch genommen, hatte aber das Gefühl, daß es die Gruppe nichts anging, und sprach nicht darüber. Im Nachhinein glaube ich, daß es für den Gruppenprozeß sehr förderlich gewesen wäre, wenn ich meine Sorgen ausgesprochen hätte; ich glaube, es wäre den anderen danach viel leichter gefallen, sich selbst auszudrücken.
Wenn ich mich nicht frei genug fühle, meine persönlichen Probleme zur Sprache zu bringen, hat das zwei negative Konsequenzen. Erstens höre ich den anderen nicht so gut zu wie sonst, und zweitens weiß ich aus Erfahrung, daß es die Gruppe sowieso merkt, wenn ich beunruhigt bin. Die Gruppe glaubt dann, sie sei in irgendeiner Weise die Ursache.

Vermeidung von Planung und »Aufgaben«

Ich versuche jedes Verfahren zu vermeiden, das geplant ist; gegen Künstlichkeit bin ich ausgesprochen allergisch. Wenn irgendein geplantes Verfahren ausprobiert wird, sollten die Gruppenmitglieder über die Planung genauso informiert sein wie der Gruppenleiter und selbst entscheiden, ob sie diesen Ansatz verwenden wollen oder nicht.
In ganz seltenen Fällen, wenn die Gruppe auf dem Nullpunkt angelangt oder ich selbst frustriert war, habe ich einen »Kunstgriff« ausprobiert, der aber meistens nichts gebracht hat - wahrscheinlich, weil ich selbst nicht glaube, daß es wirklich sinnvoll ist, damit zu arbeiten.
Man kann den Gruppenmitgliedern eine Verfahrensweise erklären, aber was daraus wird, hängt weitgehend von ihnen selbst ab. In einer teilnahmslosen Gruppe schlug ich ein »Spiel« vor, wie es andere Gruppen auch spielen, um etwas in Bewegung zu setzen. Es sollten zwei Kreise - ein äußerer und ein innerer - gebildet werden, und wer im äußeren Kreis stand, sollte versuchen, die Gefühle der Person auszudrücken, die ihm im inneren Kreis gegenüberstand. Die Gruppe beachtete den Vorschlag überhaupt nicht und tat, als sei er nie gemacht worden. Aber binnen einer Stunde hatte ein Mann den zentralen Aspekt des Vorschlags aufgegriffen und gesagt: »Ich möchte für John sprechen und sagen, was er meiner Ansicht nach tatsächlich fühlt.« In den folgenden Tagen geschah es mindestens ein dutzendmal, daß andere das gleiche taten, aber spontan und auf ihre Weise, nicht weil sie einem Vorschlag folgten.
Für mich ist alles echt, was spontan geschieht. Und daher kann man Rollenspiel, Körperkontakt, Psychodrama und Übungen, wie ich sie beschrieben habe, oder andere Verfahren durchaus anwenden, wenn sie wirklich das ausdrücken, was man im Augenblick tatsächlich empfindet.
Spontaneität ist das wertvollste und am schwersten zu definierende Element, das ich kenne. Ich tue etwas ganz spontan, und es ist höchst wirkungsvoll. In der nächsten Gruppe bin ich versucht, es wieder zu tun - »spontan« -, und ich begreife nicht, warum die Wirkung ausbleibt. Offenbar war die Spontaneität nicht echt.


Vermeidung interpretierender oder prozeßbezogener Bemerkungen
Ich mache nur sehr sparsame Bemerkungen zum Gruppenprozeß, da die Gefahr besteht, daß sie die Gruppe befangen machen und den Mitgliedern das Gefühl geben, sie würden kontrolliert. Bemerkungen dieser Art implizieren auch, daß ich die Gruppenteilnehmer nicht als Personen, sondern als eine Art von Haufen oder Konglomerat betrachte, und das möchte ich vermeiden. Wenn überhaupt, dann ist es das beste, wenn Bemerkungen über den Gruppenprozeß von den Gruppenmitgliedern selbst kommen.
Ganz ähnlich denke ich von prozeßbezogenen Kommentaren über das Individuum. Für mich ist es beispielsweise wichtiger, das Gefühl der Eifersucht zu erfahren und es offen zu erleben, als vom Gruppenleiter zu hören, wie er das Verhalten bezeichnet. Ich habe jedoch nichts dagegen, wenn ein Gruppenmitglied dergleichen tut. So beklagte sich zum Beispiel ein Fakultätsmitglied über Studenten, die immer Fragen stellen und ständig Antworten auf ihre Fragen erwarten. Er dachte, sie wären nicht selbstsicher genug. Wieder und wieder wollte er von mir wissen, wie er sich demgegenüber verhalten sollte, bis schließlich ein anderes Gruppenmitglied sagte: »Sie führen uns gerade sehr deutlich vor Augen, worüber Sie sich beklagen.« Diese Bemerkung schien sehr viel zu helfen.
Ich neige nicht dazu, in das einzudringen, was hinter dem Verhalten einer Person stehen könnte. Mir scheint, eine Interpretation der Ursache individuellen Verhaltens kann nie mehr als eine hochgespannte Vermutung sein. Sie kann nur dann von Bedeutung sein, wenn eine Autorität mit ihrer ganzen Erfahrung hinter ihr steht. Aber mit dieser autoritären Einflußnahme möchte ich nichts zu tun haben. »Ich glaube, Ihr Verhalten ist nur deshalb so prahlerisch, weil Sie sich als Mann unzulänglich fühlen« — dies ist eine Bemerkung, wie ich sie nie machen würde.


Das therapeutische Potential der Gruppe

Wenn in einer Gruppe eine sehr ernste Situation entsteht und ein Individuum psychotisches Verhalten zeigt oder seltsam und bizarr reagiert, dann verlasse ich mich auf die Gruppenmitglieder, weil ich aus Erfahrung weiß, daß die Gruppe therapeutisch wirksam werden kann und manchmal therapeutischer wirkt als ich selbst. Bisweilen greift man als Therapeut zu Fachbezeichnungen und sagt zum Beispiel: »Das ist absolut paranoides Verhalten!« Die Folge ist, daß man sich etwas zurückzieht und die betreffende Person eher wie ein Objekt behandelt. Das naivere Gruppenmitglied behandelt die Person jedoch weiterhin als Person, und das ist meiner Erfahrung nach weitaus therapeutischer. Deshalb verlasse ich mich in Situationen, in denen ein Gruppenmitglied eindeutig pathologisches Verhalten zeigt, viel eher auf die Weisheit der Gruppe als auf meine eigenen Kenntnisse, und häufig bin ich zutiefst erstaunt über die therapeutischen Fähigkeiten der Mitglieder. Das ist ebenso demütigend wie begeisternd. Ich erkenne in solchen Fällen immer wieder, über welch unglaubliches Hilfspotential der durchschnittliche unausgebildete Mensch verfügt, wenn er sich nur frei genug fühlt, dieses Potential zu nutzen.

Physische Bewegung und physischer Kontakt
Ich drücke mich in physischer Bewegung so spontan wie möglich aus, obwohl ich in dieser Hinsicht nicht besonders frei bin. Aber wenn ich mich unruhig fühle, stehe ich auf, strecke mich und gehe herum; wenn ich mit einer anderen Person den Platz tauschen möchte, dann frage ich, ob sie dazu bereit ist. Man kann auf dem Boden sitzen oder liegen, sofern es den persönlichen Bedürfnissen entspricht. Ich bemühe mich jedoch nicht sonderlich darum, bei anderen physische Bewegung zu fördern, aber es gibt Gruppenleiter, die das sehr gut und sehr wirkungsvoll können.
Mit der Zeit habe ich gelernt, mit physischem Kontakt zu reagieren, wenn es wirklich, spontan und angemessen scheint. Als einmal eine junge Frau zu weinen begann, weil sie geträumt hatte, daß niemand in der Gruppe sie liebt, umarmte und küßte ich sie und streichelte ihr Haar. Wenn eine Person leidet, und ich spüre in mir den Wunsch, zu ihr zu gehen und meinen Arm um sie zu legen, dann tue ich das. Aber ich versuche nicht, diese Art des Verhaltens bewußt zu fördern. Ich bewundere die jüngeren Leute, die in dieser Hinsicht lockerer und freier sind.


Die Ansicht dreier verschiedener Generationen

Als ich das obere Kapitel geschrieben hatte, bot sich mir die Gelegenheit zur Diskussion über nichtverbale Kommunikation und physischen Kontakt mit meiner Tochter, Mrs. Natalie R. Fuchs, und mit einer meiner Enkelinnen, Anne B. Rogers. Natalie hat häufig selbst Gruppen geleitet, und Anne, die das College besucht, hatte kurz zuvor an einer Encounter-Gruppe teilgenommen. Beide waren enttäuscht, daß ich diese Themen nicht ausführlicher behandelt hatte, und mir kam die Idee, durch Wiedergabe ihrer Beobachtungen zu zeigen, wie sich die Fragen des physischen Kontakts und anderer nichtverbaler Kommunikationswege den drei Generationen einer Familie darstellen. Das Folgende ist kein wortwörtlicher Bericht, sondern eine sinngemäße Darstellung des jeweiligen Gesprächs, wobei die erste Person Singular deutlich machen soll, daß jede der Damen für sich spricht. Hier zunächst Natalie Fuchs.
»Ich habe als Gruppenmitglied aus verschiedenen physischen und nichtverbalen Erfahrungen sehr viel für mich gewonnen. Deshalb habe ich sie auch in Gruppen eingeführt, deren Leiterin ich war, und ich finde, daß die Gruppenmitglieder diese neuen Formen der Kommunikation sehr zu schätzen wissen.
Ich nehme immer auch selbst an diesen Erfahrungen teil, die ich in eine Gruppe einführe. Mir persönlich fällt es schwer, den Leuten zu sagen, was sie tun sollen. Es fällt mir auch schwer, ihnen vorzuschlagen, was sie tun könnten, aber ich mache es mir dadurch leichter, daß ich jedem Mitglied jederzeit die Möglichkeit biete, aus solchen Übungen auszusteigen. Wenn ich Teilnehmer einer Gruppe bin, dann möchte ich die Freiheit der Wahl haben - ich mag keine Befehle erhalten, deshalb gebe ich auch keine.
Ich glaube, daß unsere Gesellschaft hinsichtlich körperlicher Berührungen entsetzlich unfrei ist. Sie unterstellt ihnen immer nur eine Bedeutung: die sexuelle - ob nun die hetero- oder die homosexuelle. Auf diese Weise bringen wir uns um sehr viel Wärme und Unterstützung. Im Schutz der Gruppe kann ein Individuum jedoch das Risiko eingehen, diese neuen Wege zu erproben und seine Gefühle in bezug auf Berührungen kennenzulernen. Eine Frau stellt vielleicht fest, daß sie von einem viel jüngeren Mann väterlich umarmt werden möchte, homosexuelle Gefühle für eine andere Frau empfindet und sich von einem bestimmten Mann sexuell angezogen fühlt. All diese Gefühle können akzeptiert werden. Statt sich vor ihren Emotionen zu fürchten, kann sie aufgrund ihrer neu entdeckten Gefühle rationale Entscheidungen treffen.
Für mich ist es wichtig, daß nichtverbale Übungen dem momentanen Bedürfnis oder der jeweiligen Stimmung der Gruppe oder bestimmter Individuen in der Gruppe entsprechen. Wenn die Gruppenmitglieder gerade erst begonnen haben, sich kennenzulernen und einander zu vertrauen, dann schlage ich etwas vor, das ihnen hilft, sich auf einer ziemlich tiefen Ebene zu offenbaren.
Zum Beispiel neigen die Leute in vielen Gruppen dazu, sich einander wie auf einer Cocktail-Party vorzustellen: >Ich bin Mutter, Hausfrau oder Sozialhelferin.< In solchen Fällen mache ich vielleicht den Vorschlag, daß jeder ein abstraktes Selbstporträt von sich oder seinem Inneren zeichnet. Die Zeichnungen werden an die Wand geheftet und erläutert. >Das ist der zornige Teil in mir - dieser rote Klecks hier. Die meiste Zeit bleibt er eingemauert, aber manchmal bricht er hier und da durch.<
Es kann sein, daß Gruppenmitglieder zu der Zeichnung Fragen stellen, aber Interpretationen unterbinde ich, da sich das Objekt selbst enthüllen soll.
Gelegentlich benutze ich folgende Instruktionen, um einer Gruppe zu helfen, sich möglichst schnell kennenzulernen. >Es fällt uns offenbar schwer, über die gesellschaftlich akzeptierte Art des gegenseitigen Kennenlernens hinauszukommen. Für diejenigen, die etwas Neues ausprobieren möchten, schlage ich vor, daß wir herumgehen, uns die Hand geben, einander mit Vornamen anreden und in die Augen blik-ken.< Und einige Minuten später: >Jetzt geben wir uns nur noch die Hand und sehen uns in die Augen.< Und dann: >So, jetzt lassen wir das Händeschütteln und suchen uns eine andere Möglichkeit, um Hallo zu sagen.<
Die Leute erfahren auf diese Weise sehr viel über sich selbst und andere. Darüber wird dann entweder anschließend oder in einer späteren Sitzung gesprochen.
Ich habe festgestellt, daß das Spiel >Blinde Kuh<, bei dem eine Person mit verbundenen Augen von einer anderen Person geführt wird, sehr geeignet ist, das Verhalten in bezug auf Abhängigkeit deutlich zu machen. Es gibt sehr viele sogenannte >Vertrauens-Übungen<, die ich auch angewandt habe. Für mich ist es wichtig, daß sie nicht einfach als Party-Spiele betrachtet, sondern im rechten Augenblick eingesetzt werden.
Ich habe zusammen mit einem anderen Gruppenleiter eine Gruppe zur Förderung der Sinneswahrnehmungen (>sensory awareness group<) für entfremdete Jugendliche geleitet und dabei viele in Esalen entwickelte Verfahrensweisen angewandt. Außerdem nehme ich an den wöchentlichen therapeutischen Sitzungen dieser Gruppe teil. In diesen therapeutischen Sitzungen befaßt man sich hauptsächlich mit früheren Erfahrungen - mit Beziehungen in der Familie, mit schlechten Trips und Einstellungen gegenüber der Schule und der Gesellschaft. Die Erfahrungen in der Sinnesbewußtheits-Gruppe scheinen die Therapie zu ergänzen. Sie betonen die positiven Dinge im Leben - die Freuden des Berührens, des Riechens, des Sich-hier-und-jetzt-Bewußtseins.
Eines Tages machte einer der Jungen einen sehr erschöpften und einsamen Eindruck auf mich. Ich fragte, ob wir irgend etwas für ihn tun könnten, und er sagte: >Es war eine ungeheuer anstrengende Woche für mich - zu Hause und überhaupt. Was ich jetzt wirklich gerne hätte, das wäre eine Körpermassage.< Er legte sich auf den Bauch, und die übrigen Mitglieder der Gruppe versammelten sich um ihn und massierten ihn kräftig und liebevoll. Er schien zu spüren, daß sie sich um ihn sorgten.
Häufig geschieht in einer Gruppe spontan etwas Nichtverbales, wenn der Gruppenleiter zuvor klargestellt hat, daß Handlungen dieser Art erlaubt sind.
In einer Erwachsenengruppe bat ein Mann die anderen Mitglieder um Feedback. Sie teilten ihm ihre Eindrücke ehrlich und offen mit. Auf mich wirkte er, so wie er in der Ecke saß und aufgrund dessen, was er uns in anderen Sitzungen erzählt hatte, einsam, ängstlich und passiv. Als ich an der Reihe war, bat ich ihn, aus seiner Ecke herauszukommen und sich vor mich zu setzen, da ich so direkter reagieren könnte. Als er Platz genommen hatte, konnte ich nicht anders, als ihm einen leichten Stoß zu versetzen. Er fiel zurück, und ich stieß ihn erneut an. Er fiel noch weiter zurück. Ich wurde ärgerlich und stieß ihn diesmal fest gegen die Schulter. Wir sprachen kein Wort, sahen uns aber die ganze Zeit über an. Schließlich setzte er sich zur Wehr, und wir begannen zu kämpfen, bis ich merkte, daß ich ihn nicht zu Boden bekam. Aus dieser Erfahrung gewannen wir beide sehr viel. Ich glaube, er fühlte sich zumindest vorübergehend wie ein Mann.
Wir reden fast immer über das, was unsere nichtverbalen oder physischen Kontakte für uns bedeuten. Einige Erfahrungen scheinen sich in vielen Gruppen zu wiederholen. Die unter Umständen wichtigste ist die Erkenntnis, daß Berührung >desexualisiert< wird. Das heißt nicht, daß sie ihre sexuellen Nebenbedeutungen verliert, aber sie büßen viel von ihrem beängstigenden Charakter ein, und die Berührung als solche erhält eine ganze Reihe neuer Bedeutungen. Das kann auch dazu führen, daß ein Gruppenmitglied sich fragt: >Möchte ich einer anderen Person wirklich nahe sein?< Und da es schließlich viel einfacher ist, anderen oder gar sich selbst mit Worten etwas vorzumachen, wirft diese Erfahrung auch die Frage auf: >Bin ich aufrichtig? Meine ich auch, was ich sage, oder bin ich nur in meinen Handlungen wirklich?< Das sind einige der positiven Seiten, die ich bei dieser Art von Gruppenerfahrung festgestellt habe.«
Soweit Natalie, die als Gruppenleiterin berichtet hat.
Als nächstes der Bericht von Anne, meiner Enkelin, über die nichtverbalen Aspekte einer Encounter-Gruppe, in der sie einer Gruppe zum erstenmal so weit vertraut hatte, daß sie sich auf physische Weise ausdrücken konnte. Auch dieser Bericht ist eine Rekonstruktion unserer Unterhaltung.
»John, ein Gruppenmitglied, brachte aus früheren Gruppen Erfahrungen mit Psychodrama und Körperbewegung mit. Zuerst ging er uns allen auf die Nerven, weil er sich uns überlegen zu fühlen schien, aber gegen Ende der ersten abendlichen Sitzung begannen wir plötzlich alle, uns in die Mitte des Zimmers zu begeben. Ich weiß nicht, vielleicht hatte er damit angefangen; mit einem Mal waren wir jedenfalls eine dichte Masse von Körpern, hatten einander die Arme umgelegt und schwankten mit geschlossenen Augen vor und zurück. Es war ein ungewöhnliches Gefühl, und am nächsten Tag fiel es uns allen viel leichter, in physischen Kontakt zueinander zu treten, wenn wir den Wunsch danach hatten.
Es wäre schwer, alle Arten zu beschreiben, in denen wir unsere Gefühle physisch ausdrückten. Manchmal saßen wir dicht beieinander auf dem Boden, oder wir hielten uns an den Händen. Bei anderen Gelegenheiten versetzten sich Mitglieder, die wütend aufeinander waren, gegenseitig mehr oder weniger feste Stöße. Einmal kam es zu einem wütenden Ringkampf, bei dem wir anderen uns bereithielten, die beiden Männer und das Zimmer zu schützen, falls das nötig werden sollte. Aber es gab auch sehr zarte Augenblicke, in denen Leute einander umarmten und streichelten. Und eines Abends fühlten wir uns ausgelassen und albern und drückten auch das aus - indem wir wie die Affen herumsprangen und tanzten. Es machte Spaß, alles einfach so herauszulassen, wie es kam.
In unserer Gruppe waren zwei Männer, die ausgesprochen Angst vor Berührungen hatten. Der eine war verheiratet und hatte das Gefühl, seiner Frau gegenüber irgendwie unfair zu sein, wenn er andere Frauen in der Gruppe berührte oder ihnen zärtliche Gefühle zeigte. Seine Einstellung änderte sich nach und nach. Der andere war ein verkrampfter junger Bursche, der zu glauben schien, er würde völlig die Kontrolle über sich verlieren, wenn er seine Gefühle nicht außerordentlich streng kontrollierte - besonders seine zornigen und sexuellen Gefühle.
Als dieser junge Mann sehr emotional von einem Problem in seiner Familie sprach, das viel Ähnlichkeit mit einem Problem in meiner Familie hatte, begann ich zu weinen. Ich ging einfach zu ihm und weinte an seiner Schulter weiter. Hinterher schien es mir, als hätte ihm das geholfen, zu erkennen, daß physischer Kontakt mit einem

Mädchen nicht unbedingt Sex bedeutet. Später konnten wir darüber diskutieren, warum seine Intensität auf Mädchen beängstigend wirkt.
Ich glaube, etwas von dem, was all dies für mich bedeutet hat, steht in den Notizen, die ich mir im Anschluß an die Gruppe gemacht habe. Sie sind ziemlich flüchtig, aber wenn du willst, kannst du sie verwenden. (Ich habe aus diesen Notizen nur einiges ausgewählt, da es aus Platzgründen nicht möglich ist, sie vollständig zu zitieren:)
Verbale Kommunikation: sehr wichtig. Aber Worte sind auch eine Barriere; können benutzt werden, um Kontakt abzuwehren. Und was kann ich tun, wenn ich Dinge oder mich selbst auf andere Weise ausdrücken will? Kann ich den anderen mit Augen, Lächeln, mit einer Berührung erreichen?
Wir gehen alle herum und achten darauf, nicht mit anderen zusammenzustoßen. So viel Energievergeudung, nur um etwas zu vermeiden.
Aber nichts ist schöner und menschlicher, als festgehalten, umarmt, geliebt zu werden, die Wärme und Offenheit eines anderen zu spüren und dem anderen das gleiche zu geben. Worte können täuschen, eine Umarmung nicht.
Warum fürchten wir uns so, andere zu berühren? Weil Berührung Sex bedeutet.
Aber siehst du es nicht? Es gibt nicht nur Schwarz oder Weiß. Dazwischen liegt unendlich viel mehr. Sicher - berühren, umarmen, festhalten ist auch Sex. Der kühlste Händedruck, selbst wenn er jede Emotion leugnet, ist sexuell. Es geht nicht darum, Berührung zu desexualisieren, sondern darum, die Existenz von Sinnlichkeit anzuerkennen und sie zu akzeptieren. Wenn ich die Berührungserfahrung akzeptieren kann, wird sie mich nicht länger beunruhigen. Wenn ich meine Reaktionen akzeptiere, die sie in mir auslöst, werde ich wahrscheinlich nicht Angst und Abneigung erleben, sondern Liebe, Wärme und Freude - die wahren Inhalte einer Umarmung.
Wenn ich in einer Gruppe oder sogar bei einem Individuum Unsicherheit hinsichtlich meines Verhaltens zeige, wenn ich zu jemandem hingehen und seine Hand ergreifen möchte, um ihn wissen zu lassen, daß ich ihn verstehe, aber nicht weiß, ob meine Geste angenommen wird, dann fühle ich mich innerlich verkrampft und angespannt, als säße ich auf einem Vulkan und versuchte, eine Eruption zu verhindern. Ein scheußliches Gefühl. Mein Verstand
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sagt mir: >Sei kein Narr! Laß das sein, man wird dich zurückweisen. Der andere wird sich ungemütlich fühlen, und dir wird es peinlich sein; alle werden sich über dich wundern; mach dich nicht verdächtige Also bleibe ich verkrampft und ängstlich sitzen und wünsche mir, ich wäre frei.
Es ist etwas so Natürliches und Schönes, warm und wirklich zu sein, spontan das Leben zu spüren, anzuerkennen und es zu teilen.«
Dies war eine ziemlich lange Abschweifung, aber ich hoffe, sie hat dazu beigetragen, nicht nur eine Tendenz bei den Encounter-Grup-pen, sondern auch eine Tendenz innerhalb unserer Gesellschaft deutlich zu machen. Meine Tochter Natalie kann in den von ihr geleiteten Gruppen Bewegung und Kontakt viel freier einsetzen als ich. Und für mich ist völlig klar, daß es mir als Student unmöglich gewesen wäre, genauso zu empfinden oder dieselben Aufzeichnungen zu machen wie meine Enkelin Anne. Es ändern sich eben die Encounter-Gruppen wie die Zeiten.

Mängel, die mir bewußt sind

Ich fühle mich in einer Gruppe, in der jedes Gefühl ausgedrückt wird, weitaus wohler als in einer apathischen Gruppe. Ich bin nicht besonders geschickt, wenn es darum geht, eine Beziehung herzustellen, und ich hege große Bewunderung für einige Gruppenleiter, von denen ich weiß, daß sie ohne weiteres imstande sind, echte und bedeutsame Beziehungen herzustellen, die sich auch weiterhin entwickeln. Ich wähle eine solche Person häufig als zweiten Gruppenleiter.
Wie ich bereits kurz erwähnte, dauert es bei mir ziemlich lange, bis ich meinen eigenen Ärger spüre und ausdrücke. Daher kann es vorkommen, daß ich mir meiner Verstimmung erst später bewußt werde und sie auch erst später ausdrücke. Kürzlich ärgerte ich mich in einer Gruppe verschiedentlich über zwei Teilnehmer. Mein Ärger über die erste Person wurde mir erst mitten in der Nacht klar, und ich mußte bis zum nächsten Morgen warten, um ihn auszudrücken. Im anderen Fall konnte ich den Ärger bereits während der Sitzung, in der er aufkam, realisieren und ausdrücken. Beide Male führte dies zu einer echten Kommunikation, zu einer Verstärkung der Beziehung und nach und nach zu echten gegenseitigen Sympathien. Aber leider lerne ich in diesem Bereich nur sehr langsam und weiß daher zu würdigen, was

andere durchmachen, wenn sie versuchen, ihre Abwehr so weit zu lockern, daß ihnen unmittelbare Gefühle auch bewußt werden können.

Ein besonderes Problem
In den letzten Jahren mußte ich mich mit einem Problem auseinandersetzen, das sich in der einen oder anderen Form jedem stellt, der durch seine Schriften und Theorien bekannt geworden ist. Die Leute kommen mit allen möglichen Erwartungen in meine Gruppen. Ich versuche mich von diesen Hoffnungen und Ängsten so schnell wie möglich abzusondern. Durch Kleidung, Benehmen und meinen ausdrücklichen Wunsch, man möge mich als Person sehen und nicht als einen Namen, ein Buch oder eine Theorie, versuche ich für die Gruppenmitglieder eine Person zu werden. Es ist immer wieder erfreulich für mich, eine Gruppe von beispielsweise jungen Schülerinnen oder Geschäftsleuten zu finden, für die ich nicht ein »Name« bin und in der ich meine Fähigkeiten als die Person, die ich bin, unter Beweis stellen muß. Ich hätte das junge Mädchen am liebsten geküßt, das zu Beginn einer Gruppe herausfordernd sagte: »Ich finde, das alles klingt ziemlich riskant. Wer sind Sie eigentlich, und wer sagt, daß Sie das können?« Ich erwiderte, daß ich einige Erfahrung in der Arbeit mit Gruppen hätte und hoffte, man würde feststellen, daß ich für diese Arbeit qualifiziert sei; ich könnte ihre Bedenken jedoch durchaus begreifen, und sie müßte sich ihr Urteil über mich selbst bilden.


Verhalten, das mir nicht förderlich scheint.

Zu Beginn dieses Kapitels betonte ich zwar, daß es viele wirksame Arten der Gruppenarbeit gibt, aber es gibt auch eine Anzahl von Leuten, die Gruppen führen und die ich nicht empfehle, weil mir ihr Ansatz für eine Gruppe und ihre Mitglieder nicht förderlich, sondern eher schädlich erscheint. Ich kann dieses Thema nicht abschließen, ohne einige dieser Verhaltensweisen zu erwähnen. Die Forschung auf diesem Gebiet ist noch so jung, daß man nicht vorgeben kann, Ansichten und Ansätze wie die folgenden basierten tatsächlich auf eindeutigen Untersuchungsergebnissen. Diese Ansichten sind ganz einfach ein Resultat meiner Erfahrung, und ich werde sie auch nur als solches formulieren.
1.    Ich bin entschieden mißtrauisch gegenüber Personen, die hier und dort auftreten, um das derzeitige Interesse an Gruppen für sich auszunützen. Das enorm wachsende Interesse innerhalb der Bevölkerung unseres Landes hat Leute hervorgebracht, deren Devise offenbar lautet: »Der Wagen rollt, spring auf. Sieh zu, daß du schnell berühmt wirst.« Wenn ich diese Auffassung bei Personen, die mit Gruppen arbeiten, vorfinde, dann bin ich tief gekränkt.
2.    Die Arbeit eines Gruppenleiters bleibt wirkungslos, wenn er die Gruppe antreibt, manipuliert, ihr Vorschriften macht und versucht, sie zu seinen eigenen unausgesprochenen Zielen zu führen. Diese Einstellung kann, auch wenn sie nur andeutungsweise vorliegt, das Vertrauen der Gruppe in den Gruppenleiter verringern (oder gar zerstören) oder - was noch schlimmer ist - die Gruppenmitglieder zu seinen treuen Anhängern machen. Wenn ein Gruppenleiter bestimmte Ziele im Auge hat, dann teilt er sie der Gruppe am besten mit.
3.    Daneben gibt es den Gruppenleiter, der den Erfolg oder Mißerfolg einer Gruppe nach der Zahl der Mitglieder beurteilt, die geweint haben oder »angeturnt« wurden. Diese Art der Beurteilung scheint mir reichlich fragwürdig.
4.    Ich empfehle keinen Gruppenleiter, der nur eine Ansatzmöglichkeit als das einzig wichtige Element des Gruppenprozesses betrachtet. Für den einen ist der »Angriff auf die Abwehr« die Conditio sine qua non. Ein anderer schwört einzig und allein auf die Methode, »aus jeder Person den grundlegenden Zorn herauszuholen«. Ich habe großen Respekt vor Synanon und seiner wirkungsvollen Arbeit mit Rauschgiftsüchtigen, aber was mich empfindlich stört, ist das eilfertig formulierte Dogma, daß unnachgiebiges Attackieren, gleichgültig, ob es auf echten oder unechten Gefühlen beruht, das einzige Kriterium ist, nach dem der Erfolg oder Mißerfolg einer Gruppe beurteilt werden kann. Ich möchte, daß feindselige oder zornige Gefühle ausgedrückt werden, wenn sie vorhanden sind, und ich drücke sie gern selbst aus, wenn sie wirklich in mir auftauchen, aber es gibt noch eine ganze Menge anderer Gefühle, die im Leben und in der Gruppe genauso wichtig sind.
5.    Ich kann keine Person als Gruppenleiter empfehlen, deren eigene Probleme so groß und so bedrückend sind, daß sie Gefahr läuft, das Gruppeninteresse auf sich selbst zu konzentrieren und dann nicht mehr imstande ist, andere Personen und ihre Probleme wahrzunehmen. Eine solche Person wäre besser Mitglied einer Gruppe als Gruppenleiter.
6.    Ich begrüße keinen als Gruppenleiter, der häufig die Motive oder die Ursachen des Verhaltens von Gruppenmitgliedern interpretiert. Wenn diese Interpretationen unzutreffend sind, nützen sie nichts. Wenn sie zutreffen, dann können sie heftige Abwehr hervorrufen oder, noch schlimmer, der Person allen Widerstand nehmen und sie verwundbar und möglicherweise verletzt zurücklassen. Feststellungen wie: »In Ihnen sitzt bestimmt eine Menge latenter Feindseligkeit«, oder: »Ich glaube, Sie kompensieren Ihre fehlende Männlichkeit«, können monatelang an einem Individuum nagen und sein Vertrauen in seine eigene Fähigkeit, sich selbst zu verstehen, untergraben.
7.    Ich mag es nicht, wenn ein Gruppenleiter irgendwelche Übungen oder Aufgaben mit Worten beginnt wie: »Und nun wollen wir alle « Das ist einfach eine spezielle Form der Manipulation, der sich das Individuum nur sehr schwer widersetzen kann. Wenn Übungen angesetzt werden, dann sollte meiner Ansicht nach jedes Gruppenmitglied die vom Gruppenleiter eindeutig ausgesprochene Möglichkeit haben, an ihr teilzunehmen oder ihr fernzubleiben.
8.    Ich mag keinen Gruppenleiter, der sich von jeder persönlichen emotionalen Beteiligung an der Gruppe distanziert - der den Fachmann hervorkehrt und sich aufgrund seines überlegenen Wissens imstande wähnt, den Gruppenprozeß und die Reaktionen der Gruppenmitglieder zu analysieren. Dies findet man häufig bei Leuten, die sich ihren Lebensunterhalt als Gruppenleiter verdienen. Ihr Verhalten läßt meist auf innere Abwehrhaltung und auf mangelnden Respekt vor den Gruppenmitgliedern schließen. Sie verleugnen ihre eigenen spontanen Gefühle und bieten der Gruppe das Modell der jederzeit kühlen, analytischen Person, die genau das Gegenteil von dem ist, an das ich glaube. Jedes Gruppenmitglied wird natürlich genau dieses Modell als Ziel anstreben - das Gegenteil dessen, worauf ich meine Hoffnung setze. Ich persönlich hoffe, daß Nichtabwehr und Spontaneität - nicht die Verteidigung der eigenen Abgeschlossenheit - in einer Gruppe entstehen werden.
Ich möchte klarstellen, daß ich nichts gegen all diese bereits erwähnten Eigenschaften bei jedem Gruppenmitglied einzuwenden habe. Mit einem manipulierenden, ständig interpretierenden, attackierenden oder emotional neutralen Individuum wird die Gruppe selbst umzugehen wissen. Sie wird dieses Verhalten auf die Dauer einfach nicht zulassen. Wenn aber ein Gruppenleiter dieses Verhalten zeigt, dann besteht die Gefahr, daß er der Gruppe eine Norm setzt, bevor die Gruppenmitglieder gelernt haben, daß sie ihn ebenso behandeln und konfrontieren können wie alle anderen.


Schluß

Ich habe versucht zu beschreiben, wie ich mich als Gruppenleiter verhalten möchte. Nicht immer gelingt es mir, meine eigenen persönlichen Absichten durchzuführen, was gelegentlich zur Folge hat, daß die Erfahrung für die Gruppe wie für mich selbst weniger befriedigend sein mag. Ich habe auch versucht, die Verhaltensweisen zu beschreiben, die ich nicht für förderlich halte. Ich hoffe, daß diese Darstellung andere ermutigt, über ihren persönlichen Stil der Gruppenleitung zu sprechen.

Veränderungen durch Encounter-Gruppen: bei Personen, Beziehungen und Organisationen
hat. Wir repräsentieren also nur einen Teil des breiten Spektrums spezieller Theorien, Praktiken und Akzentuierungen, die die Gruppenbewegung von heute charakterisieren. Deshalb lautet die Frage von meiner Perspektive aus, wie ich sie zu beschreiben versucht habe: Welche Veränderungen habe ich bei Individuen im Anschluß an die Erfahrung mit einer Encounter-Gruppe festgestellt?



Es wird viel darüber debattiert, ob die Gruppenerfahrung das Verhalten in irgendeiner Weise signifikant verändert und ob diese Veränderungen auch von Dauer sind. Ich möchte in diesem Kapitel ihren Einfluß auf das individuelle Verhalten, auf die Beziehungen der Individuen sowie auf die Politik und Struktur von Organisationen untersuchen, denen viele dieser Individuen angehören. Ich werde dabei in erster Linie von meinen eigenen Erfahrungen ausgehen und die bislang noch begrenzten Kenntnisse, die die Forschung uns vermittelte, zu einem späteren Zeitpunkt erläutern.
Aus irgendwelchen Gründen habe ich eigentlich den Wunsch, die Schlußfolgerungen als erstes niederzuschreiben - ich weiß, das ist eine sehr fragwürdige Art der Darstellung. Später hoffe ich, ein Gefühl für die persönlichen und phänomenologischen Grundlagen vermitteln zu können, auf denen diese vorläufigen Schlußfolgerungen basieren.
Vielleicht sollte ich noch betonen, daß meine Feststellungen weitgehend auf Erfahrungen mit Gruppen aufbauen, die von meinen Kollegen oder mir selbst geleitet wurden. Ich glaube, wir sehen den Schwerpunkt unserer Arbeit ein wenig anders als heutzutage üblich. Wie aus dem vorangegangenen Kapitel ersichtlich, versuchen wir in erster Linie rezeptiv zu sein und zu verstehen, statt zu manipulieren; wir vertrauen mehr auf die Gruppe und den Gruppenprozeß als auf die Kraft und Fähigkeit des Gruppenleiters; wir erwarten uns verbale wie nichtverbale Kommunikation, ergreifen aber weder für das eine noch das andere Partei; wir möchten, daß die Gruppenmitglieder ihre eigenen individuellen Zielvorstellungen entwickeln, statt irgendein vorgegebenes Ziel wie Glück, Freude oder Zufriedenheit anzustreben. Wir wissen, daß der Gruppenprozeß schmerzhaft ist, wenn er zum Wachsen führt, und wir glauben, daß Wachsen immer verwirrend und beunruhigend, aber auch gleichermaßen befriedigend ist. Wir glauben nicht, daß die Gruppenerfahrung, gleichgültig wie erhebend sie auch sein mag, in sich etwas Abgeschlossenes ist; wir sind vielmehr der Überzeugung, daß ihre Bedeutung in erster Linie in dem Einfluß liegt, den sie auf das spätere Verhalten außerhalb der Gruppe

Individuelle Veränderung

Zahlreiche Bilder und Erinnerungen tauchen in mir bei dem Versuch auf, diese Frage zu beantworten. Ich habe gesehen, wie Personen ihre Vorstellungen von sich selbst sehr deutlich ändern, wenn sie ihre Gefühle in einem akzeptierenden Klima erforschen und von Gruppenmitgliedern hartes oder gütiges Feedback erhalten. Ich habe gesehen, wie Personen beginnen, ihr eigenes Potential zu realisieren und es durch ihr Verhalten in der Gruppe wie auch außerhalb derselben einzusetzen. Immer wieder habe ich erlebt, das Personen aufgrund einer Erfahrung mit Encounter-Gruppen ihrem Leben eine ganz neue -philosophische, berufliche oder intellektuelle - Richtung geben. Einige Personen machen Encounter-Gruppen mit, ohne davon berührt zu werden und ohne signifikante Veränderungen zu zeigen. Manche bleiben von der Erfahrung nur scheinbar unberührt; sie zeigen aber später in ihrem Verhalten höchst interessante Veränderungen. Von den vielen hundert Personen, die ich bei meiner Arbeit mit Gruppen kennengelernt habe, zeigten zwei meines Dafürhaltens negative Veränderungen. Die eine geriet im Anschluß an die Gruppe in eine vorübergehende Psychose, und die andere (die, wie ich später erfuhr, bereits vor der Gruppe viele psychotische Symptome gezeigt hatte) verfiel nach der Gruppenerfahrung einer anhaltenden Psychose. Beide Fälle passierten vor mehr als zwanzig Jahren, und ich glaube, heute wäre die Wahrscheinlichkeit, daß sich derartiges in einer meiner Gruppen ereignet, weitaus geringer. Eine Anzahl von Personen hat nach einer Encounter-Gruppe mit einer Einzel- oder einer Gruppentherapie begonnen. In einigen Fällen schien dies ein höchst positiver Schritt, der zu weiterem Wachsen führte, während sich in anderen Fällen die Frage stellte, ob die Erfahrung vielleicht zu solch schnellen und schmerzlichen Veränderungen führte, daß das Individuum gezwungen war, weitere Hilfe zu suchen. Letzteres würde ich persönlich als verhängnisvoll betrachten.

V'eränderte Beziehungen..

Ich möchte mich meiner zweiten Frage zuwenden und auch sie ganz summarisch beantworten. Welche Veränderungen habe ich bei den Beziehungen von Personen während und/oder im Anschluß an Encounter-Gruppen festgestellt? Ich habe Personen gekannt, für die die Erfahrung in der Encounter-Gruppe eine fast ans Wunderbare grenzende Veränderung der Tiefe ihrer Kommunikation mit dem Ehegatten oder den Kindern bedeutete. Manchmal wurden zum erstenmal echte Gefühle geteilt. Das geschah bisweilen höchst dramatisch, wenn die Gruppenteilnehmer abends nach Hause zurückkehrten oder wenn es sich um Mitglieder von Ehepaar- oder Familiengruppen handelte. Diese Personen waren imstande, ihre wachsenden Einsichten zu teilen und das Risiko auf sich zu nehmen, ihre wahren positiven wie negativen Gefühle auszudrücken, sobald sie sich ihrer bewußt geworden waren. Dieser Prozeß kostet eine Menge Schlaf, aber das Wachsen der Beziehung ist nachgerade außergewöhnlich. Ich habe Väter gekannt, die nach Hause kamen und zum ersten Mal seit Jahren imstande waren, mit ihren Söhnen zu kommunizieren. Ich habe Lehrer gesehen, die aufgrund ihrer Erfahrungen in einer Encounter-Gruppe aus ihren Klassen persönliche, vertrauensvolle und interessierte Lerngruppen machten, in denen die Schüler offen und voll an der Aufstellung des Lernplans und an allen anderen Aspekten ihrer Erziehung beteiligt waren. Harte Geschäftsleute, die eine bestimmte berufliche Beziehung als hoffnungslos bezeichneten, machten sich auf, um diese Beziehung in eine konstruktive Beziehung zu verwandeln. Studenten aus Priesterseminaren mit den verbalen Idealen der Liebe und der Brüderlichkeit - in scharfem Kontrast zur Realität einer fast totalen Entfremdung und Einsamkeit — unternahmen gewaltige Anstrengungen, um zu einer echten Kommunikation und Nächstenliebe zu gelangen.
Es hat Fälle gegeben, in denen ein Ehegatte, der an Einsicht und Offenheit enorm gewonnen hatte, nach einer Encounter-Gruppe nach Hause kam und den anderen durch seine Spontaneität so erschreckte oder bedrohte, daß die Kommunikationskluft vorübergehend - oder auch für immer - noch größer wurde. Manchmal erkennen Ehepaare in einer Gruppe die verborgenen Differenzen zwischen sich und finden häufig zu einer echten Versöhnung; in anderen Fällen geben sie offen zu, daß sie die Kluft zwischen sich nicht überbrücken können. Ich habe viele erstaunliche Veränderungen der Beziehungen zwischen
Personen erlebt; die meisten dieser Veränderungen waren positiv, andere aber — vom gesellschaftlichen, nicht unbedingt von einem persönlichen Standpunkt aus - auch negativ.


Organisatorische Veränderungen
Und was hat sich im Anschluß an Encounter-Gruppen in den Methoden und Strukturen von Organisationen verändert? Zu dieser Frage kann ich aufgrund meiner Erfahrung nur in geringem Umfang und äußerst vorsichtig Stellung nehmen. Ich habe Situationen erlebt, in denen sich Individuen beträchtlich veränderten, während ihre Institutionen sich kaum veränderten. Lehrer können tiefe, ihr Wachsen ungemein fördernde Erfahrungen machen, aber bei der nächsten Fakultätssitzung fast oder genauso steril sein wie in der Vergangenheit. Auf der anderen Seite habe ich erlebt, daß Lehrer nach einer Encounter-Gruppe das Benotungssystem änderten, Schüler oder Studenten in alle einschlägigen Komitees beriefen und die Kommunikation zwischen Verwaltung, Lehrkörper und Schülerschaft förderten.
Leitende Angestellte und Geschäftsführer gaben anstrengende und Spannungen erzeugende Praktiken wie »periodisches Beurteilen Untergebener« zugunsten eines gegenseitigen und konstruktiven Feedbacks auf. Ich habe gesehen, wie interpersonale Kommunikation zur Grundlage eines Betriebes wurde, und ich habe inzwischen erkannt, daß Encounter-Gruppen, die individuelle Unabhängigkeit, Offenheit und Integrität fördern, nicht zu bedingungsloser Loyalität gegenüber der Institution beitragen. Leitende Angestellte haben ihre Stellung aufgegeben, Priester und Nonnen ihre Orden verlassen und Professoren die Universität gewechselt. So manche haben sich aufgrund des neuen Muts, den ihnen diese Gruppen gaben, entschlossen, lieber außerhalb als innerhalb ihrer jeweiligen Institution für Veränderungen einzutreten. Kurz gesagt, so wie Wachsen und Veränderungen Unruhe in das Leben des Individuums bringen, so bringen sie Unruhe und Aufruhr auch fast unausbleiblich in Institutionen und Organisationen, was für die traditionelle Verwaltung natürlich eine höchst bedrohliche Erfahrung darstellt.

Die Basis für diese vorläufigen Schlußfolgerungen

Ein Fall von individueller Veränderung



Es scheint, als hätte ich bei dieser Darstellung mit dem Ende begonnen, aber irgendwie ergibt sich diese Reihenfolge ganz natürlich. Es waren Lektionen, die ich gelernt, und vorläufige Ergebnisse, die ich aus meiner Erfahrung gezogen habe.
Wie sieht diese Erfahrung aus? Ich habe mich mit einem breiten Spektrum von Encounter-Gruppen befaßt, um mein eigenes Wissen zu vergrößern. Ich verfüge über eine dreijährige Erfahrung als Berater von Verwaltung, Fakultät und Studenten der University of California, bei der ich sehr viel gelernt habe. Eine andere wichtige Erfahrung waren die drei Jahre Zusammenarbeit mit den Schulen -Volksschulen, Highschools und Colleges die dem Orden vom Unbefleckten Herzen unterstehen. Ferner machte ich viel zu kurze -zwei- bis fünftägige - Erfahrungen mit den Verwaltern und einigen Fakultätsmitgliedern der sechs Claremont Colleges, mit Förderern, Verwaltern, Fakultätsmitgliedern und Studenten der Columbia University, mit Fakultät und Studenten von dreizehn Junior-Colleges, mit den Präsidenten großer Konzerne, mit leitenden Angestellten in unterschiedlichen Positionen, mit Krankenschwestern, mit schwarzen und braunen Ghettobewohnern, die die Wohlfahrt und die öffentlichen Gesundheitsdienste beanspruchen mußten, mit Sozialarbeitern und Fürsorgern aller Kategorien und schließlich mit ganzen Collegeklassen, die in Encounter-Gruppen unterrichtet wurden. Bei den betreffenden Gruppen handelte es sich um Encounter-Gruppen, Gruppen zur persönlichen Entwicklung, aufgabenorientierte Gruppen und beratende Gruppen. Ich habe Gruppen mit Fremden, mit Kollegen, mit Jugendlichen und mit Ehepaaren geleitet, nicht nur in Amerika, sondern auch in Australien, Japan und Frankreich. Keine Erfahrung habe ich mit Gruppen, die aus Familien, Kindern im Volksschulalter oder älteren Erwachsenen bestehen. Aber alles in allem bin ich mit einer großen und vielfältigen Anzahl von Personen in den unterschiedlichsten Situationen zusammengetroffen. Ich habe mich bemüht, so offen und aufmerksam zu sein wie möglich, und die zu Beginn dieses Kapitels getroffenen Feststellungen sind das beste, was ich aus dieser umfangreichen Erfahrung machen konnte.
Ich habe viele Fälle von tiefgreifender persönlicher Veränderung beobachtet, möchte aber hier nur einen Fall wiedergeben. Fünf Jahre nach einer Gruppenerfahrung beschreibt ein Mann die Einstellungen, mit denen er in die Encounter-Gruppe kam, was er dort erlebte und wie sich anschließend sein Verhalten, seine Persönlichkeit und seine Lebensziele veränderten. Hier der Brief des Mannes, den ich John nennen werde.

»Lieber Carl,
ich möchte versuchen, so klar und genau wie möglich die Veränderungen zu beschreiben, die sich als Resultat der Erfahrung in einer Encounter-Gruppe vor nunmehr fünf Jahren in meinem Leben ergeben haben. Es waren viele und unterschiedliche Veränderungen, die alle in eine Richtung liefen, und jede von ihnen bereitete mich gewissermaßen auf die nächste vor und führte mich zu ihr. Wenn ich mich an jenes einwöchige Erlebnis im Workshop mit Ihnen zurückerinnere, fange ich sofort wieder an, ganz aufgeregt zu werden, und ich spüre ganz genau die Emotionen, die ich damals hatte. Ich freute mich damals auf den Workshop, ahnte aber nicht im geringsten, was mir bevorstand. Ich wußte nicht einmal, was eine Encounter-Gruppe ist. Ich hatte nie etwas davon gehört. Ich wußte nur, daß ich Ihre Psychologie und Ihre Philosophie schätzte, da sie meinen eigenen Ansichten in allem vollkommen entsprachen. Ich freute mich darauf, eine ganze Woche lang zu Füßen des >Meisters< sitzen zu können.
Wir begannen an einem Montag. Am Mittwoch war ich ziemlich durcheinander. Ich konnte mir beim besten Willen einfach nicht erklären, was hier vorging. Und ich schwieg. Als ich den ersten Schock wegen der kritischen Bemerkung eines Teilnehmers zu dem Mann, der neben mir saß, überwunden hatte, begann ich verwundert und ängstlich und mit wachsender Erregung die Interaktion rings um mich zu beobachten. Es schien so, als würde etwas Neues, Fesselndes, Berauschendes, aber auch etwas Beängstigendes Wirklichkeit werden. Ich begann mich zu fragen, ob das alles real war oder ob wir bloß ein Spiel spielten. Ich glaube, meine ersten Worte an diesem Mittwoch waren: >Meinen wir das alles eigentlich ernst, oder spielen wir bloß?< Ich erinnere mich, gesagt zu haben, daß ich nicht sicher wäre, ob ich die Gruppenmitglieder überhaupt kennenlernen wollte. Ich war absolut nicht sicher, ob ich überhaupt wollte, daß sie mich kennenlernten.
Sobald ich aber das Gefühl hatte, >in< der Gruppe zu sein, und dieses Gefühl auch aussprach, begann etwas ganz Außerordentliches. Die beiden letzten Tage schienen mir wie die Geburt zu einer neuen Existenz. Es war, als würde eine ganze Reihe von Dingen, die verbal einen Wert für mich hatten, nun tatsächlich Wirklichkeit. Es ist unheimlich schwierig, diese Erfahrung zu beschreiben. Ich hatte keine Ahnung, wie wenig ich mir meiner tiefsten Gefühle bewußt war oder was sie für andere Leute bedeuten mochten. Erst als ich anfing auszudrücken, was von irgendwo tief in mir aufzusteigen begann, und die Tränen in den Augen der anderen Gruppenmitglieder sah, weil ich etwas gesagt hatte, was auch für sie zutraf - erst von diesem Augenblick an spürte ich, daß ich wirklich ein Teil der Menschheit war. Vor dieser Gruppenerfahrung hatte ich nie im Leben >mich selbst< so intensiv erlebt. Und daß dieses >Ich< von der Gruppe bestätigt und geliebt wurde, war wie ein Geschenk, das ich nie zu erhoffen wagte, weil ich bis dahin nicht einmal im Traum gedacht hätte, daß es das gibt. Ich merkte, daß ich den anderen Gruppenmitgliedern etwas Einmaliges, Wunderschönes und Beglückendes gab, wenn ich meine innersten Gefühle, mein innerstes Ich ausdrückte, das ich bislang immer versteckt hatte. Ich konnte das kaum fassen. Aber es ließ sich auch nicht leugnen, dazu waren die Beweise zu stark und zu eindeutig. Ich erinnere mich an das ganz starke Gefühl, daß ich zum erstenmal die Welt der Menschen entdeckt hatte, daß ich -wenn ich wirklich ich sein und über die Dinge hinwegkommen konnte, die mir Angst vor anderen machten -, daß ich dann andere Menschen lieben und von ihnen geliebt werden konnte. Obwohl ich in der Zwischenzeit einige sehr schmerzliche Perioden des Wachsens in meinem Leben durchgemacht habe, kann ich die Realität der positiven Hoffnung nicht leugnen, die ich in mir trage, seit ich in jener ersten Gruppe erfahren habe, was Menschlichkeit ist, Menschlichkeit, die mein ist und die ich mit anderen teilen kann.
Und wie hat sich nun mein Leben aufgrund jener Erfahrungen in der ersten Encounter-Gruppe geändert? Beruflich überhaupt nicht. Ich war damals Seminarist und bin mittlerweile Priester. Aber innerhalb meines Berufs als Priester haben sich sowohl in mir als auch außerhalb von mir tiefe Veränderungen vollzogen. Innerlich begann ich aus einem Jungen ein Mann zu werden. Äußerlich wurde ich in bezug auf Autorität und menschlichen Respekt wesentlich freier. Im Innern war ich mir selbst und damit auch anderen gegenüber viel gegenwärtiger. Meine Arbeit als Berater und Therapeut wurde um hundert Prozent wirkungsvoller. Ich hatte mir so viel Mühe gegeben, ein guter Berater zu sein, Einfühlungsvermögen zu zeigen und anderen Menschen wirklich zuzuhören. Ich war zwar kein schlechter Berater, aber irgendwie schien das, was ich erreichen konnte, ziemlich begrenzt.
Während des Workshops nahm ich an einem Beratungs-Praktikum teil, und der Unterschied zwischen dem, was sich früher in meinem Beratungszimmer abspielte, und dem, was nach meiner Erfahrung mit der Encounter-Gruppe passierte, war für mich nachgerade erstaunlich. Ganz plötzlich stellte sich alles, was ich theoretisch gelernt hatte, tatsächlich ein, ohne daß ich große Energien darauf verwandt hätte. Ich war da. Ich hörte. Ich war imstande, mich selbst und meine eigenen Gefühle zu riskieren, und der Klient öffnete sich plötzlich und nahm auf völlig neue Weise Fühlung mit sich auf. Mit einem Mal lief der Beratungsprozeß wie nie zuvor. Wahrscheinlich sollte ich sagen, daß ich in einer Weise wirksam wurde, wie ich es nie zuvor gewesen war. Und das alles wirkte vollkommen echt, natürlich und in keiner Weise künstlich. Diesen hohen Grad an Wirksamkeit habe ich seither nicht immer beibehalten. Manchmal bin ich besser, manchmal schlechter, aber nach dem Workshop war ich nie wieder die gleiche Person, die ich gewesen war, als ich zum erstenmal in die Gruppe kam. Ich habe meine Ausbildung als Berater und Therapeut fortgesetzt und viele weitere Erfahrungen in Encounter-Gruppen gesammelt. Ich bin heute als Gruppenleiter tätig.
Statt wie geplant ein Schuldirektor zu werden, wechselte ich auf das Gebiet der Beratungs-Psychologie und promoviere in Kürze über menschliches Verhalten. Mir selbst und auch anderen wurde klar, daß ich für den menschlichen Bereich und für den Bereich der interpersonalen Beziehungen geeigneter bin als für einen Verwaltungsposten. Ich hätte einen sehr schlechten Verwaltungsbeamten abgegeben, aber ich besaß das Potential für einen guten Berater und Therapeuten. Im Verlauf des Prozesses, der mit jener ersten Gruppenerfahrung begann, habe ich einige der persönlichen Unzulänglichkeiten erkannt, die mich zu einem schlechten Verwaltungsbeamten gemacht hätten, und begonnen, an ihnen zu arbeiten.

Ich glaube, wenn ich nach der entscheidendsten Veränderung aufgrund der Gruppenerfahrung gefragt würde, müßte ich sagen, daß ich begann, als Person bestimmtere Formen anzunehmen. Ich bekam allmählich eine klarere Vorstellung von mir selbst. Manches von dem, was auftauchte, war gar nicht angenehm, aber es war Teil eines Ganzen, das für andere akzeptabel war und dadurch auch für mich immer akzeptabler wurde. Ich begann meine eigene Person zu besitzen; ich gehörte mir. Jene Person, die sich so häufig wie ein kleiner Junge inmitten einer Welt erwachsener Menschen vorkam, die Angst hatte und von dieser Angst daran gehindert wurde, in Beziehungen zu anderen Personen ganz lebendig und voll funktionierend zu sein, gehörte mir. Und als ich anfing, mich für diesen kleinen Jungen in mir verantwortlich zu fühlen, da begann er zu wachsen und stark zu werden; vielleicht hörte er auch nur auf, sich ständig an mir festzuhalten. Jedenfalls, ich wurde ich. Anders kann ich es nicht ausdrücken. Ich mußte auf einige der Vorteile verzichten, die man als kleiner und hilfloser Junge genießt und mehr und mehr von den Verantwortlichkeiten eines erwachsenen Mannes übernehmen, aber was war das für ein Vergnügen! Seit jener ersten Gruppenerfahrung habe ich einiges dazugelernt. Ich habe größeres Vertrauen zu Menschen. Ich weiß, daß andere Leute im Innern genauso sind wie ich selbst. Ich weiß, daß ich mit ihnen eine sehr reale, schöne und manchmal schmerzliche Existenz teile. Ich habe viel mehr Hoffnung in die Zukunft des Menschen. Denn wenn wir einander als Personen rühren und berühren können, so wie es in einer Encounter-Gruppe möglich ist, dann beginnt die >Erlösung< für uns alle wahr zu werden, und wir können die totenähnliche Existenz der Einsamkeit und der Kälte hinter uns lassen und die Möglichkeit eines vollen Lebendig-Seins erkennen. Ich kann aus vollem Herzen >ja< sagen zur Menschheit, weil ich auf sehr tiefe und persönliche Weise, die ich ebenso tief denken wie fühlen kann, entdeckt habe, daß jeder Mensch auf der Welt ein überquellendes Reservoir an Leben und Liebe für sich selbst und andere zu sein vermag. Ich weiß, daß dieses Reservoir nur allzuoft nicht genutzt wird, weil wir Angst haben und uns abschirmen, aber ich weiß auch, daß es genutzt werden kann, genutzt worden ist und genutzt werden wird. Und allein darauf kommt es an.

Ihr JOE
Die Erfahrungen dieses Mannes waren fast ausschließlich positiv, obwohl er einige sehr schmerzliche Perioden des Wachsens innerhalb dieser fünf Jahre erwähnt. Für andere waren die Veränderungen noch schmerzlicher, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden.
Aussagen von solchen Personen bestärken mich in der Überzeugung, daß während und im Anschluß an Erfahrungen mit En-counter-Gruppen tiefe persönliche und verhaltensbedingte Veränderungen auftreten können und tatsächlich auftreten. Natürlich kommt es nicht bei jeder Person zu Veränderungen von dieser Tiefe. Die bislang nur minimalen Untersuchungen sind in diesem Punkt sogar ziemlich widersprüchlich, obwohl signifikante Veränderungen des Selbst-Konzepts ziemlich sicher zu sein scheinen. Aber wenn zwei, drei oder fünf Leute nach einer Encounter-Gruppe auffallende und dauerhafte Veränderungen zeigen, Veränderungen in Richtung auf wachsendes Bewußtsein als Mensch und Person, dann werde ich von dieser Tatsache auch weiterhin beeindruckt sein, selbst wenn die Veränderungen bei anderen Gruppenmitgliedern vielleicht nicht so tiefgreifend und auffällig sind.


Beispiele für veränderte Beziehungen

Anhand von drei Beispielen soll gezeigt werden, wie sich die Beziehungen von Personen im Anschluß an eine Encounter-Gruppe verändern können. Das erste Beispiel zeigt sehr deutlich, wie Kinder Veränderungen von Gefühl und Einstellung spüren, auch wenn sich das äußere Verhalten kaum verändert zu haben scheint. Eine Mutter, die in der Gruppe eines meiner Kollegen gewesen war, schrieb kurz nach Beendigung der Erfahrung: »Wie Sie wissen, stehen die Dinge zwischen Pete, meinem Mann, und mir ziemlich gut. Aber Sie haben wahrscheinlich bemerkt, daß ich dasselbe in bezug auf die Kinder nie behauptete. Mich störten die Streitigkeiten zwischen Marie und Alice. Mich störte, daß Marie Bettnässerin war. Mich störte auch, daß ich ihnen nicht sehr viel Zuneigung entgegenbringen konnte. Und es störte mich, daß sie nie richtig mit mir sprachen. Als ich Sonntag mit meinem neuen wahren Selbst nach Hause kam, war ich auf alle möglichen Reaktionen gefaßt. Womit ich nicht gerechnet hatte, war die Schnelligkeit und Intensität der Reaktion.« Kurz nachdem sie zu Hause angekommen war, mußte Marie ins Bett. Die Mutter fragte die Zehnjährige, ob sie sie einseifen solle. »Binnen einer Stunde hatten

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wir über Menstruation, Gott, Teufel, Himmel, Hölle, Haß auf andere, Alpträume und Ungeheuer vor dem Fenster gesprochen. Natürlich waren diese Dinge schon früher besprochen worden, aber nie mit dieser Intensität und Vollständigkeit. Alice, die fünfzehn Monate älter ist als Marie, kam irgendwann zu uns ins Badezimmer, und es endete damit, daß ich sie auch einseifen mußte. Das war eine Überraschung, denn sie steht bereits mitten in der Entwicklung und ist, was ihren Körper betrifft, sehr eigen. Marie sagte: »Was hast du in dieser Gruppe gemacht? Hast du gelernt, wie man nett zu Kindern ist?< Ich sagte: >Nein, ich habe gelernt, ich selbst zu sein, und das ist sehr schön.<«
Das zweite Beispiel ist ein Brief, den Bill und Audrey McGaw ein Jahr, nachdem sie eine Gruppe für verlobte und verheiratete Paare geleitet hatten, von einem Ehepaar bekamen. Dieser Brief spricht für sich selbst. Der Mann schreibt:

»Diesen Brief habe ich schon hundertmal angefangen. Er geht um das, was geschehen ist und weiter geschieht. Er ist voller Liebe. Voller Tränen, Freude und Liebe.
Während ich hier sitze und schreibe, treten mir die Tränen in die Augen, und Emotionen überkommen mich. Ich war noch nie zuvor imstande, einen solchen Brief zu schreiben. Ich möchte Ihnen danken und Ihnen sagen, daß Sie es geschafft haben. Sie haben gute Arbeit geleistet. Die Zeit war richtig gewählt, und ich griff zu. Jetzt habe ich es und werde es nie wieder verlieren. Ich werde es weitergeben.
Eileen und ich sind verheiratet, Eileen und ich leben zusammen. Wir haben Probleme, wir streiten uns und wir lieben uns. All das gäbe es nicht, wenn wir Sie beide nicht getroffen hätten. Aber wir haben Sie getroffen, wir haben einige Tage mit Ihnen verbracht und den Durchbruch geschafft. Es geschah zur rechten Zeit, und wir hatten das Glück, die richtigen Leute zu treffen; wir waren bereit, und Sie änderten unser Leben. Wir wissen jetzt, was möglich und erreichbar ist. Diese Basis, diese emotionale Sicherheit in unserer Ehe stellt für mich ein Sprungbrett dar, eine Öffnung, einen neuen Ausgangspunkt. Ich kann mit Worten einfach nicht beschreiben, was wirklich mit mir geschehen ist. Sie wissen jedoch, was es ist. Ich hab's. Es ist phantastisch.
Ich weiß jetzt, weshalb ich so lange gewartet habe, ehe ich Ihnen schrieb. Jetzt bin ich sicher. Mehr als ein Jahr ist vergangen, und

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jetzt ist die Angst vorüber. Ich werde nie mehr verlieren, was ich habe. Und was ich habe - das weiß ich jetzt - macht es mir möglich, größere Verantwortung zu übernehmen. Und jetzt verstehe ich auch, warum Sie, Audrey, und Sie, Bill, mit jeder Gruppe das durchmachen müssen, was Sie durchmachen.«
Ich möchte noch ein drittes Beispiel von einer Lehrerin und ihren Schülern anfügen. Eine Volksschullehrerin, die einige Monate zuvor an einer Encounter-Gruppe teilgenommen hatte, wurde schriftlich gefragt, ob die Erfahrung für sie irgend etwas bedeutet habe. Sie antwortete mit einem Brief: »Sie wollen wissen, was mit mir geschehen ist . .. ganz einfach: Jemand ist zu mir gelangt, zu meinem inneren Selbst. Ich hörte zu und ich hörte Dinge, die ich früher nie angehört und nie gehört hatte  es war schön. Ergebnisse? Ich höre meinen Schülern zu. Ich habe sie gefragt, ob ich früher jemanden abgewiesen oder jemandem nicht zugehört habe, und die größten Strolche der Klasse hoben allesamt die Hand. Sie sind im Grunde die empfindlichsten. Die letzten Monate waren die aufregendsten, erfreulichsten und glücklichsten Monate meines Lebens als Lehrerin gewesen, und es sieht aus, als bliebe es so.«
Ihre Beobachtung in bezug auf den problematischen Schüler - den »Strolch«, wie sie ihn nennt - sind sehr interessant. Es trifft häufig zu, daß Schüler, die Probleme schaffen, auf interpersonale Beziehungen sensibler reagieren als andere. Waren diese Kinder »Strolche« und hatte sie demzufolge das Gefühl, es lohne sich nicht, ihnen zuzuhören, oder wurden »Strolche« aus ihnen, weil sie das Gefühl hatten, daß man sie nicht anhörte? Eine nicht uninteressante Frage, die den sogenannten problematischen Schüler in einem ganz anderen Licht erscheinen läßt.
Ich möchte mit diesen drei Beispielen nicht mißverstanden werden. Nicht jeder Mutter, nicht jedem Ehepaar und nicht jeder Lehrerin widerfahren Dinge wie diese. Aber daß sie häufig geschehen, macht die Encounter-Gruppe zu einer sehr aufregenden interpersonalen Erfahrung. Sie kann dazu beitragen, daß die Menschen frei werden, spontan reagieren und sich ihrer selbst und des Lebens bewußter werden. Kurz gesagt, sie kann dazu beitragen, daß die Menschen in ihren Beziehungen zu anderen wirklich und wahrhaftig menschlich werden.
Ein Beispiel für organisatorische Veränderung

Es gibt auch Dutzende von Fällen signifikanter Veränderung der Einstellungen, Methoden und Strukturen von Institutionen, aus denen ich einen Fall ausgewählt habe, der zu sehr gemischten Schlußfolgerungen führt. Ich wünschte, ich könnte ihn mit der gleichen Lebendigkeit erzählen, mit der mir der Fall von einem langjährigen Lehrer der Schule berichtet wurde.
Es war eine Highschool für Knaben der weißen Mittel- und Oberschicht, die von einem katholischen Orden geleitet wurde und durch ihre hohen wissenschaftlichen und moralischen Anforderungen den Ruf einer »Prestige-Schule« erlangt hatte. Im Verlauf eines Jahrzehnts veränderte sich die Gegend, in der diese Schule lag, höchst drastisch, und zuletzt bestand die Schülerschaft zu 75 °/o aus Mexikanern, zu 20 °/o aus Farbigen und zu 5 % aus Orientalen. Sie war eine Ghettoschule geworden. Die Anforderungen waren gesunken, die Moral nicht minder, und das ganze Bild wurde weitgehend von der Drogenszene beherrscht. Trotzdem gab es, soweit es den Lehrkörper betraf, keine ernsthaften Probleme mit der Schule, da die strenge Disziplin des Ordens nach außen hin die angenehme Fassade einer konventionellen Erziehung aufrechterhielt.
Diese Fassade zerbrach während und anschließend an ein Schülerfest, bei dem die Schüler - vor allem ihre Anführer - dreist Alkohol und Rauschgift mitbrachten und verteilten. Als wäre das noch nicht genug, versuchte die Schülerschaft geschlossen, diese Dinge vor den Lehrern geheimzuhalten. Die Kluft zwischen Lehrern und Schülern schien unüberbrückbar.
Die Veränderungen begannen, als der Leiter der Schule alle Klassen zu einer Versammlung berief und sinngemäß sagte: »Wir alle wissen, daß wir vor einem ernsthaften Problem stehen. Laßt uns darüber reden.« Seine eigene Offenheit und die anderer Lehrer ermunterten die Schüler zur Diskussion. Zuerst kritisierten die »guten« Schüler das Verhalten der »bösen« Schüler bei jenem Fest. Aber nach und nach tauchten tieferliegende Fragen und Probleme auf. Die Schüler fanden ihr Leben sinnlos und Rauschgift angenehm, der Unterricht langweilte sie, und der Lernstoff hatte mit ihrem Leben nichts zu tun, die Lehrer waren uninteressiert, und die Disziplin wurde als repressiv empfunden. Außerdem erschienen ihnen die Bekleidungsvorschriften sinnlos, und sie beklagten die fehlende Berücksichtigung der Geschichte und Identität von Minoritäten. All diese Themen wurden
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leidenschaftlich diskutiert und nicht unterdrückt. Die angegriffenen Lehrer blieben offen und reagierten nicht mit Abwehr, obwohl sie eindeutig überrascht und verletzt waren. Die Versammlung schloß mit einem Anflug von Hoffnung.
Das Resultat war, daß Schüler und Lehrer die restliche Zeit des Schuljahres und den Sommer über gemeinsam an den Problemen arbeiteten. Vier Mitglieder des Lehrkörpers, die ganz besonders »unter Beschuß« geraten waren, entschlossen sich zur Teilnahme an einem Ausbildungskurs für Gruppenleiter, den das Center for Studies of the Person in La Jolla angesetzt hatte. Ihre Erfahrungen in den En-counter-Gruppen waren so bereichernd, daß sie sich ungeheuer bestärkt fühlten in ihrem Wunsch, den Schülern zu vertrauen, sie zur Beteiligung an allen erzieherischen und verwaltungstechnischen Fragen der Schule zu ermuntern und in alle schulischen Bereiche die Atmosphäre einer Encounter-Gruppe zu tragen.
Die Ergebnisse dieser Bemühungen waren überraschend. Der Lehrkörper beschloß, den Schülern in bezug auf Pünktlichkeit, Benehmen, Drogen, Kleidung und Aussehen die Verantwortung selbst zu überlassen. Siebzig ausgewählte Schüler und der gesamte Lehrkörper trafen sich für drei Tage in einem Dorf außerhalb der Stadt, um Pläne für das kommende Schuljahr zu entwickeln. Damit bewies die Schule, daß es ihr ernst war mit dem, was sie sagte.
Als sie im Herbst das neue Schuljahr eröffnete, wurde der Kontrast zu anderen Ghettoschulen deutlich sichtbar. Während anderswo in den ersten Stunden die strengen Vorschriften und die für Uberschreitungen ausgesetzten Strafen verkündet wurden, erfuhren die Schüler dieser Schule, daß man ihnen vertraute, daß sie sicherlich Fehler machen würden, daß es aber nur darauf ankäme, aus den Fehlern zu lernen.
Was ergab sich daraus?
Zunächst einmal weigerten sich andere Schulen, gegen die Mannschaften dieser Schule zu spielen, weil unter den Sportlern Jungen mit langen Haaren und Barten waren. Dann bildeten sich ethnische Gruppen, die sich einheitlich kleideten und demonstrierten, was zu Protesten aus der Gemeinde führte. Aber als diese Gruppen merkten, daß ihr kreatives Denken, ihr Einfluß und ihre Stärke an der Schule willkommen waren, ließ ihr extremes Verhalten nach.
Viele Mitglieder des Lehrkörpers sahen sich im Laufe des Schuljahres außerstande, die neuen Richtlinien und Methoden zu akzeptieren; sie gaben am Ende des Jahres ihre Stellung auf, und mancher Be

fürworter des »neuen Kurses« war zutiefst entmutigt und glaubte, alles sei falsch gemacht worden.
Aber diese Zweifel hatten keine großen Auswirkungen auf die Schüler. Da Pünktlichkeit und Erscheinen zum Unterricht nicht mehr gefordert wurden, gab es so gut wie niemanden mehr, der nicht zum Unterricht erschien oder zu spät kam. Das Rauschgiftproblem war zumindest innerhalb der Schule weitaus geringer geworden. Aber am erstaunlichsten war, daß viele Schüler der Oberklasse den Wunsch äußerten, nach Abschluß der Highschool ein College zu besuchen - und das in einer Ghettoschule, aus der so gut wie niemand jemals auf ein College ging.
Ich möchte die Probleme nicht untertreiben. Einige Lehrer versuchten zu den autoritären Methoden der Vergangenheit zurückzukehren, aber es stellte sich heraus, daß man Freiheiten kaum rückgängig machen kann. Mancher Lehrer bekam Angst vor dem neuen und unbekannten Weg, den er eingeschlagen hatte. Die wenigen weißen Schüler reagierten in vielen Fällen auf die Vorgänge abweisend und feindlich. Die Eltern reagierten auf die neuen Entwicklungen verärgert und ungehalten, und es war nicht leicht, ihnen die neue Philosophie und ihre Zweckmäßigkeit klarzumachen. Es steht außer Zweifel, daß diese Schule in jenem ersten Jahr ein weitaus chaotischeres Bild bot als in den Jahren zuvor.
Dieses Beispiel illustriert viele Dinge, die ich über selbstgelenkte institutionale Veränderung erfahren und gelernt habe. Die Erfahrung in Encounter-Gruppen und eine Atmosphäre, wie sie in Encounter-Gruppen herrscht, können innerhalb einer Institution zu höchst konstruktiven Veränderungen führen, aber auch große Uneinigkeit unter den Mitgliedern oder Angehörigen der Institution hervorrufen, die Gemeinde beunruhigen, auf traditionsgebundene Personen zutiefst beunruhigend wirken und Anlaß zu der Frage geben, ob das Ergebnis eine konstruktive Veränderung oder einen chaotischen Fehlschlag darstellt. Die Gruppe jedoch, die uns am meisten beschäftigen sollte, die Personen, denen die Schule dient, empfanden die Erfahrung überwiegend als befreiend und erlösend, als ungemein belebend und lehrreich. Daher scheint das Ergebnis positiv zu sein, auch wenn vermeidbare Fehler gemacht wurden. Auch hätte die ganze Entwicklung langsamer und weniger schmerzlich verlaufen können. Offene und ehrliche Kommunikation von Gedanken und Gefühlen, Anerkennung von Schülern und Lehrern als gleichwertige Menschen und gemeinsames Bearbeiten aller auftauchenden Probleme führen zu echten und wahrscheinlich unwiderruflichen Veränderungen.
Ich habe hier ein drastisches und strittiges Beispiel für organisatorische Veränderungen angeführt, um zu zeigen, welch starke Auswirkungen der Geist des Vertrauens haben kann. Es ließen sich natürlich auch weitaus bescheidenere Beispiele anführen.
Ich hoffe, das dargelegte Material reicht aus, um zu zeigen, daß die eingangs aufgestellten Behauptungen nicht illusorisch sind. Erfahrungen in Encounter-Gruppen können bei der einzelnen Person und ihrem Verhalten, bei einer Vielzahl von menschlichen Beziehungen und bei den Methoden und Strukturen von Organisationen tiefgreifende Veränderungen in Gang setzen.

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