Montag, 10. Januar 2011

Die einsame Person - und ihre Erfahrungen in einer Encounter-Gruppe

Ich möchte mit einem kurzen Auszug aus einem Brief beginnen, den mir ein Freund nach seiner Erfahrung in einer Encounter-Gruppe schrieb:

»Da stehen wir nun, jeder von uns, arme und verwirrte Kinder, treiben durch ein Universum, das viel zu groß und viel zu komplex für uns ist, umarmen andere Menschen, die viel zu andersartig und viel zu kompliziert für uns sind und stoßen sie wieder zurück; wir suchen nach Befriedigung unzähliger vager und wechselnder Bedürfnisse und Wünsche, erhaben und niedrig zugleich. Und manchmal klammern wir uns einfach aneinander. Nicht wahr?« (James Flynn, Ph. D.)

Ich werde nur kurz auf den ersten Teil dieser Feststellung eingehen und mich mehr auf das Thema konzentrieren: »Und manchmal klammern .wir uns einfach aneinander.« Diesen Aspekt möchte ich untersuchen.
Ich glaube, daß die Menschen sich heutzutage ihrer inneren Einsamkeit bewußter sind als je zuvor in der Geschichte. Mir scheint, die Einsamkeit tritt offen zutage - genauso, wie wir uns wahrscheinlich der interpersonalen Beziehungen bewußter sind als jemals zuvor. Wenn man um das nackte Leben kämpft und nicht weiß, woher die nächste Mahlzeit nehmen, dann bleibt weder Zeit noch Neigung zu der Feststellung, daß man den anderen Menschen in einem tiefen Sinne sehr fremd ist. Aber mit zunehmendem Wohlstand, wachsender Beweglichkeit und zunehmend flüchtigeren interpersonalen Systemen anstelle eines ruhigen Lebens in der Heimat der Väter werden sich die Menschen ihrer Einsamkeit mehr und mehr bewußt.
Zwei Aspekte erscheinen mir hier wichtig. Erstens das Alleinsein, die Isoliertheit, die ein grundlegender Teil der menschlichen Existenz ist. Du kannst nie wissen, was es bedeutet, ich zu sein, und ich kann nie wissen, was es heißt, du zu sein. Ob wir uns einander voll und ganz mitteilen wollen oder große Bereiche für uns behalten - die Tat-

sache bleibt, daß unsere Einzigartigkeit uns voneinander trennt. In diesem Sinne muß jeder Mensch allein leben und allein sterben. Wie er damit fertig wird - ob er seine Isoliertheit akzeptieren und sogar stolz auf sie sein kann, ob er seine Einsamkeit nutzt, um sich schöpferisch auszudrücken, oder ob er sie fürchtet und ihr zu entfliehen versucht - ist eine wichtige Frage, auf die ich aber nicht näher eingehen werde.
Ich möchte statt dessen von der Einsamkeit sprechen, die eine Person empfindet, wenn sie merkt, daß sie keinen echten Kontakt zu anderen Personen findet. Dazu können viele Faktoren beitragen: Die generelle Unpersönlichkeit unserer Gesellschaft, ihre Schnellebigkeit und ihre Ungereimtheiten - alles Elemente der Einsamkeit, die um so deutlicher hervortreten, je dichter wir zusammenleben. Und dann die Angst vieler Menschen vor jeder engen persönlichen Beziehung. Das sind nur einige der Faktoren, die dazu führen können, daß ein Individuum sich von anderen ausgeschlossen fühlt.
Aber ich glaube, es gibt noch einen tieferen und allgemeineren Grund für die Einsamkeit. Um es kurz zu sagen, eine Person fühlt sich am einsamsten, wenn sie einen Teil ihrer äußeren Schale, ihrer Fassade, abgelegt hat - das Gesicht, mit dem sie der Welt bislang begegnet ist - und sicher ist, daß niemand sie verstehen, akzeptieren oder den entblößten Teil ihres inneren Selbst lieben kann.
Jeder lernt früh im Leben, daß er eher geliebt wird, wenn er sich so verhält, wie die anderen es von ihm erwarten, statt seinen eigenen Gefühlen spontan Ausdruck zu geben. Deshalb beginnt er sich eine Schale äußerer Verhaltensweisen zuzulegen, über die er in Beziehung zur Welt tritt. Diese Schale kann relativ dünn sein, eine Rolle, die er bewußt spielt, wissend, daß er - als Person - ganz anders ist als diese Rolle. Sie kann aber auch vielfach gepanzert sein und von der Person selbst als wahres eigenes Selbst betrachtet werden, wobei die innere Person völlig in Vergessenheit geraten ist.
Wenn das Individuum nun etwas von dieser Abwehrschale hat fallenlassen, dann ist es der wahren Einsamkeit am meisten ausgesetzt. Vielleicht hat es seine Fassade oder einen Teil von ihr absichtlich aufgegeben, um sich selbst ehrlicher begegnen zu können. Oder seine Abwehr ist durch äußere Angriffe durchbrochen worden. In jedem Fall ist sein inneres, privates Selbst - ein kindliches Selbst, voller Gefühle, mit Fehlern und positiven Qualitäten, mit kreativen wie destruktiven Impulsen - entblößt und ungemein verwundbar. Das Individuum ist überzeugt, daß niemand dieses verborgene Selbst zu verstehen oder zu akzeptieren vermag, daß kein Mensch dieses seltsame und widersprüchliche Selbst, das es immer zu verbergen versucht hat, lieben oder mögen kann. Deshalb stellt sich bei ihm ein tiefes Gefühl der Entfremdung von anderen ein, ein Gefühl, das besagt: »Wenn irgend jemand mich kennenlernt, wie ich wirklich und im Innersten bin, dann kann er mich unmöglich respektieren oder lieben.« Dieser Einsamkeit ist es sich bitter bewußt.
Lassen Sie es mich etwas anders formuliern. Einsamkeit grenzt an Verzweiflung, wenn eine Person sich eingesteht, daß der Sinn des Lebens nicht in der Beziehung seiner äußeren Fassade zur äußeren Realität liegt und liegen kann. Wenn ich glaube, daß die Bedeutung meines Lebens in der Beziehung meiner Rolle als Psychologe zu Ihrer Rolle als Erzieher, Karrierefrau oder was auch immer zu finden ist, wenn ein Priester annimmt, die Bedeutung seines Lebens läge in der Beziehung zwischen seiner Rolle als Priester und seiner Kirche als einer Institution, dann besteht die Wahrscheinlichkeit, daß jedes dieser Individuen an einem bestimmten Punkt zu seinem Kummer feststellen muß, daß dies keine angemessene Basis und kein ausreichender Grund zum Leben ist.
Einsamkeit gibt es auf vielen Ebenen und in vielen Abstufungen, aber der schmerzlichsten und heftigsten Einsamkeit fühlt sich jenes Individuum ausgesetzt, das aus dem einen oder anderen Grunde ohne seine gewohnte Abwehr als verletzbares, erschrecktes, einsames, aber wirkliches Selbst überzeugt ist, daß es von einer urteilenden und verurteilenden Welt zurückgewiesen wird.


Die Einsamkeit im Innern

Es steht außer Zweifel, daß das Individuum in einer Encounter-Gruppe häufig Heilung von seiner Entfremdung, seinem Mangel an Beziehungen zu anderen findet. Das geschieht auf verschiedenen Wegen. Der erste Schritt ist nicht selten die körperliche Erfahrung der Gefühle der Isolation, die es bislang vor sich verborgen hat. Ein lebendiges Beispiel bietet der Fall von Jerry, einem tüchtigen Geschäftsmann ls). Verwirrt von den Bemerkungen einiger anderer Gruppenmitglieder, sagte er in einer der ersten Sitzungen: »Ich betrachte mich selbst mit einiger Befremdung, denn ich habe zum Beispiel keine Freunde und brauche sie offenbar auch nicht.« In einer späteren Sitzung hörte er, wie Beth, eine verheiratete Frau, über die Entfremdung zwischen ihr und ihrem Mann sprach und dabei erklärte, daß sie sich nach einer tieferen und kommunikativeren Beziehung sehnte. Plötzlich begann es in seinem Gesicht zu zucken, und seine Lippen zitterten. Roz, ein anderes Gruppenmitglied, sah das, ging auf ihn zu und legte ihm den Arm um die Schultern, und Jerry brach in ein buchstäblich unkontrollierbares Schluchzen aus. Er hatte in sich eine Einsamkeit entdeckt, von der er nichts geahnt hatte und vor der er sich mit einer gepanzerten Fassade aus Selbstgenügsamkeit geschützt hatte.
Ein junger, ziemlich selbstsicherer und im Umgang mit anderen Personen fast ein wenig hochnäsiger Mann führte über seine Reaktionen in einer Encounter-Gruppe Tagebuch. Er berichtet, wie er dazu kam, sein nahezu kriecherisches Verlangen nach Liebe und sein Bedürfnis nach menschlichem Kontakt zu akzeptieren und durch dieses Akzeptieren eine Veränderung einleitete. Er schreibt:

»In der Pause zwischen der dritten und der vierten Sitzung fühlte ich mich sehr müde. Eigentlich wollte ich mich hinlegen, aber statt dessen trieb es mich förmlich zu anderen Leuten, mit denen ich eine Unterhaltung begann. Ich fühlte mich wie ein ängstlicher kleiner Hund, der hofft, gestreichelt zu werden, aber gleichzeitig fürchtet, daß man ihn verjagt. Schließlich ging ich doch auf mein Zimmer, legte mich hin und merkte, daß ich traurig war. Manchmal wünschte ich mir, mein Zimmerkollege käme herein und würde mit mir reden, und wenn jemand an meiner Tür vorbeiging, hoffte ich, die Person träte ein und spräche mit mir. Ich erkannte mein tiefes Verlangen nach Güte und Freundlichkeit.«

Nach dieser Akzeptierung seines einsamen Selbst begannen sich seine Beziehungen zu ändern.
Joe, ein College-Student aus einer anderen Gruppe, wurde an einem Punkt immer niedergeschlagener. Er saß schweigend da, den Kopf in seine Hände gelegt, die Augen geschlossen und von der übrigen Gruppe vollständig isoliert. Zuvor hatte er einen sehr lebendigen Eindruck gemacht, von den Schwierigkeiten bei der Durchführung eines von ihm geleiteten Projekts berichtet und erzählt, wie sehr es ihn ärgere, daß die College-Verwaltung ihn nicht wie eine Person behandelt. Aber dann war er mehr und mehr in sich zurückgesunken. Es bedurfte einiger Überredung seitens der übrigen Gruppenmitglieder, bis er sich langsam wieder öffnete und sagte, was ihn traurig machte. Der Hauptpunkt war, das niemand ihn mochte. Einige Fakultätsmitglieder hatten ihn gern, weil er gute Noten hatte. Einige Leute aus der Verwaltung schätzten ihn, weil er bei dem oben erwähnten Projekt gute Arbeit leistete. Seine Eltern interessierten sich überhaupt nicht für ihn und wünschten ihn so weit wie möglich fort. Er sagte: »Selbst die Mädchen, die ich kenne, wollen zwar mit mir ins Bett, aber sie wollen nicht mich.« Er sah sich der Tatsache gegenüber, daß er zwar als guter Student geachtet und seiner Leistung wegen respektiert wurde, seine innere Person, sein wahres Selbst sich jedoch unverstanden und ungeliebt fühlte. Als einige aus der Gruppe, die ihn gut kannten, die Arme um ihn legten und seine Hände ergriffen, drang diese nichtverbale Kommunikation langsam zu ihm durch und überzeugte ihn allmählich, daß einige Menschen ihn vielleicht doch mochten.
Es geschieht nicht nur in Encounter-Gruppen, daß man seine Einsamkeit erfährt. In dem Film Rachel, Rachel führt die fünfund-dreißigjährige Lehrerin ein eingeengtes, eingesperrtes, aber scheinbar zufriedenes Leben. Ihre Einsamkeit entdeckt sie erst, als sie mit lächelndem Gesicht die Bridgefreundinnen ihrer Mutter begrüßt, mit strahlender Fassade herumgeht und Süßigkeiten verteilt. Dann geht sie auf ihr Zimmer und weint herzzerreißend über ihren vollständigen Mangel an engem Kontakt zu irgendeinem lebenden menschlichen "Wesen.

»Was ich wirklich hin, ist nicht liebenswert«

Ein wichtiges Element, das die Leute in ihrer Einsamkeit eingesperrt sein läßt, ist die Überzeugung, daß ihr wirkliches, ihr inneres Selbst -das Selbst, das vor anderen verborgen bleibt - ein Selbst ist, das niemand lieben kann. Den Ursprung dieses Gefühls aufzuzeigen ist nicht schwierig. Die spontanen Gefühle eines Kindes und seine echten Einstellungen sind von den Eltern oder anderen so oft mißbilligt worden, daß es mit der Zeit sich selbst diese Einstellung zu eigen gemacht hat und glaubt, daß seine spontanen Reaktionen und das Selbst, das es in Wirklichkeit ist, eine Person ausmachen, die niemand lieben kann.
Vielleicht zeigt ein Vorfall, der sich in einer Gruppe von High

schooI-Mädchen und einigen ihrer Lehrer ereignete, wie Einsamkeit nach und nach zutage tritt und von dem Individuum wie auch voEine Person verändert sich: Wie der Prozeß erfahren wird



Hier ein Beispiel für die Art von Bemerkungen, wie sie ein Gruppenleiter ein oder zwei Wochen nach einer Encounter-Gruppe zu hören bekommt. »Es kommen immer mehr Einsichten . . . Ich habe keine enorme Veränderung bei mir festgestellt . .. aber es scheint, als hätte ich eine Tür geöffnet, die bis dahin verschlossen war.« Eine derartige Feststellung scheint positiv zu sein, aber was bedeutet sie - jetzt oder später - im Leben der Person tatsächlich? Wir haben im letzten Kapitel gesehen, welche Veränderungen auftreten können. Aber dem Prozeß, durch den spätere Veränderungen zustande kommen, wurde nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit gewidmet.
Ich möchte mir hier einen seltenen und zufälligen Umstand zunutze machen und anhand einer Reihe von Briefen aus mehr als sechs Jahren versuchen, die fluktuierenden Stadien einer individuellen Veränderung beinahe mikroskopisch aufzuzeigen.


Die Gruppe - und Ellen
Vor einigen Jahren leitete ich eine Gruppe für Geschäftsleute, die aus dreizehn Männern und zwei Frauen bestand. Wir trafen uns für fünfeinhalb Tage an einem ruhigen und sehr gemütlichen Ort. In diesen Tagen ereigneten sich für alle Beteiligten und auch für mich viele wichtige Dinge, aber ich kann unmöglich alle Ereignisse beschreiben. Statt dessen werde ich mich dem zuwenden, was später im Leben eines der Gruppenmitglieder, einer unverheirateten Geschäftsfrau, geschah.
Ellen (der Name ist - wie alle Namen in diesem Bericht - fiktiv) war Leiterin eines kleinen technischen Unternehmens. In der Gruppe war sie ziemlich ruhig, obwohl sie einige Male heftige Meinungsverschiedenheiten mit zwei der Männer hatte. Sie sprach ausführlich über ihre Probleme mit Liz, einer Angestellten ihrer Firma, zu der sie eine ziemlich komplexe Arbeitsbeziehung hatte. Sie war persönlich von dieser starken und dominierenden Frau abhängig, obwohl Liz die
Untergebene und Ellen ihre Vorgesetzte war. Gegen Ende der Woche erwähnte sie auch die Schwierigkeiten, die sich aus dem Zusammenleben mit ihrer Mutter ergaben. Aber wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, dann ging sie diesem Problem nicht auf den Grund, und ich war nicht sensitiv genug, um zu merken, daß hier eines der großen Probleme ihres Lebens lag. Ich glaube, die Gruppe hat ihr bezüglich des Verhältnisses zu Liz, ihrer Angestellten, ein wenig geholfen, aber ich nehme nicht an, daß sie im Hinblick auf die Beziehung zu ihrer Mutter Hilfe fand. Am vorletzten Tag der Gruppe bekam Ellen ziemlich heftiges Feedback, auf das sie sehr emotional und mit Tränen reagierte. Es war zugleich verwirrend und erhellend. Wie Gruppenmitglieder einander helfen können, geht aus dem Brief hervor, den ihr einer der Männer, der ihr eine Woche zuvor noch völlig fremd gewesen war, nach der Sitzung überreichte. Ich erfuhr davon erst viel später, als Ellen mir schrieb, sie habe ihn wie einen Schatz gehütet. Ich möchte diesen Brief hier anführen, da er ein Teil von Ellens Gruppenerfahrung ist.

»Als Dein Freund billige und bejahe ich alles, was Du bist, die Idee und den Kern Deiner Existenz, Dein Du-Sein und die Besonderheit Deiner einmaligen Individualität. Meine Aufgabe als Dein Freund ist es, Dir zu helfen, so sehr Du zu sein, wie nur möglich. Ich habe Dich gern, aber ich will Dich nie besitzen oder benutzen, denn Du gehörst Dir selbst und keinem anderen - obwohl Du vielleicht einmal zu einem anderen gehörst oder ein anderer zu Dir. Ich bin ganz für Dich da und immer bei Dir, auch wenn Kontinente uns trennen. Ich werde Dich nie verlassen, und nie wirst Du in irgendeiner Weise meine Liebe verdienen müssen. Die hast Du, weil Du Du bist - und weil ich das wunderbar finde.«

Es wird niemanden erstaunen, daß Ellen diesen Brief wie eine Kostbarkeit hütete.
Obwohl sie damals in bezug auf ihre Mutter nicht viel erzählte, muß ich wohl doch gespürt haben, daß hier ein schwieriges Problem vorlag, denn ich erinnere mich, ihr beim Abschied gesagt zu haben: »In einem Monat ist der 4. Juli; hoffentlich können Sie an diesem Tag Ihre Unabhängigkeitserklärung feiern.«

Die inneren Veränderungen

Da häufig gefragt wird, was mit den Leuten nach der Gruppenerfahrung geschieht, freut es mich, daß ich im Fall von Ellen anhand ihrer Briefe zeigen kann, was mit dieser einen Person geschah. Ihre Erfahrung ist keine gewöhnliche, aber meines Wissens auch nicht ausgesprochen ungewöhnlich.
Knapp zwei Wochen nach Beendigung der Gruppe schrieb Ellen mir, sie habe einen sehr herzlichen Brief ihrer Zimmergenossin aus der Gruppenzeit bekommen. Diese Frau war in einer anderen Gruppe gewesen, und Ellen hatte ihr in jener Woche über einige schwierige Perioden hinweggeholfen. Sie zitierte aus dem Brief dieser Frau: ». . . seit wir uns voneinander getrennt haben, waren die Tage voller Ideen und Gefühle, wie ich sie nie zuvor in meinem Leben gekannt habe, und ich glaube, viele der scheinbar zusammenhanglosen Entdeckungen in bezug auf mich selbst in den letzten Jahren beginnen jetzt endlich, sich richtig einzuordnen. Mein altes Selbst hat sich weitestgehend verändert, und das schreibe ich voll und ganz der Erfahrung mit der Gruppe zu.«
Ellen fährt fort: »Ich persönlich verstehe, was sie meint. Immer mehr Einsichten stellen sich ein. Ich habe keine enorme Veränderung bei mir festgestellt, und ich weiß, daß die Menschen in meiner Umgebung keine Veränderung bemerkt haben, aber es scheint, als hätte ich eine Tür geöffnet, die bis dahin verschlossen war. Noch bin ich keiner bedrohlichen Situation begegnet, deshalb weiß ich nicht, wie ich reagieren werde, aber ich habe eine vage Vorstellung davon, wie erleichtert ich bin, wenn ich keine Angst habe, und das ist herrlich.«
Wie bei vielen Teilnehmern an Encounter-Gruppen sind die Veränderungen sehr subtil, und ein Teil davon ist sicherlich eine verbesserte Kenntnis der eigenen Person und der eigenen Gefühle. Ob sich das Verhalten entsprechend diesen neuentdeckten Gefühlen verändert, ist für Ellen eine wichtige Frage. Aber als ein Mensch, der über die Persönlichkeitstheorie lange nachgedacht hat, bin ich überzeugt, daß sich jede derartige Veränderung der Selbsterkenntnis früher oder später auch im Verhalten zeigen wird. Ellen ist nicht so optimistisch, wie aus den folgenden Zeilen hervorgeht.
Sie berichtet im gleichen Brief über ein Essen mit W., einem anderen Teilnehmer der Gruppe, der sich an der Gruppenarbeit nicht sonderlich beteiligt hatte. »Außerhalb der Gruppe ist er nicht viel anders als innerhalb derselben. Es war im Grunde ein nutzloser Versuch, das Gruppengefühl neu aufleben zu lassen. Ich glaube, mit den anderen Leuten aus der Gruppe wäre es nicht so schwierig, aber wahrscheinlich hat sich jeder von uns nach Abschluß der Gruppe wieder mehr oder weniger hinter seine Fassade zurückgezogen.« Sie beschließt den Brief mit dem Satz: » alles droht wieder so zu werden, wie es früher war, die alten Gewohnheiten stellen sich wieder ein und mit ihnen die Kopfschmerzen und der gesamte übrige psychosomatische Mischmasch. Ach, wie sehr wünsche ich mir doch, ich könnte mir den >Gruppengeist< bewahren!«
Hier haben wir das bekannte Phänomen der Gruppenerfahrung, die nach Abschluß der Gruppe zu schwinden beginnt und wieder den alten Gewohnheiten Platz macht. Diese Erfahrung machen wahrscheinlich die meisten Gruppenmitglieder.
Ich beantwortete Ellens Brief wie alle Briefe, die ich von ihr erhielt, aber da wir mehr als zweitausend Kilometer voneinander getrennt waren, beließ ich es dabei, mich ihren Einstellungen, Gefühlen und ihrer Situation gegenüber verständnisvoll zu zeigen. Ich empfahl ihr einen Therapeuten in ihrer Stadt, den sie aufsuchen sollte, falls sie das Bedürfnis dazu verspürte.


Mutter, die Menschenfresserin

Ihr nächster Brief erreicht mich einen Monat später. Zum erstenmal erwähnt sie das Problem mit ihrer Mutter. Sie schreibt aus dem Büro: ». . . Mutter ist heute abend ausgegangen und kommt sicher nicht vor zehn Uhr zurück. Ich werde Freunde besuchen, die sie nicht ausstehen kann, und wenn ich nach Hause komme, sollte ich einfach sagen, daß ich bei George und Carol war. Aber ich zittere bereits vor Angst, daß ich nach ihr nach Hause komme und keine plausible Erklärung dafür habe, wie ich den Abend verbrachte. Das ist verrückt, ich weiß es. Aber irgendwie komme ich nicht dagegen an. Wo ist der nächste Therapeut?!« Aber noch suchte sie ihn nicht auf.
Ihre Feststellung über die Angst vor der Mutter ist aufschlußreicher als alles, was sie in der Gruppe gesagt hatte, und sie zeigt, wie sehr sie immer noch das kleine Mädchen ist, das von der Mutter absolut beherrscht wird.
An anderer Stelle spricht sie auch von der heilenden Wirkung der
Gruppe und sagt: ». . . die >sichere< Gruppe, in der nichts das Grup-penmitglied bedroht, scheint mir das zu sein, was die Gesellschaft braucht und die Kirche bieten könnte, wenn sie nur den Mut dazu hätte, etwas, das wir in unserer Gruppe zeitweise erreichten . . .« Sie schließt: »Ich erlebe Hochs und Tiefs, aber ich weiß, daß ich einiges gewonnen habe, auch wenn es noch so wenig ist.«


Ellen überlegt eine Trennung

Ich beantwortete ihren Brief und schrieb, ich hoffte, sie würde den Mut aufbringen, der Mutter zu sagen, wo sie gewesen war, als sie George und Carol besucht hatte. Sie schrieb daraufhin:
»Leider hatte ich nicht den Mut, ihr zu sagen, wo ich gewesen war, und wahrscheinlich werde ich ihn nie aufbringen. Wie bei den meisten menschlichen Beziehungen geht es auch hier um komplexere Dinge, als es vielleicht scheint, und außerdem sind auch noch andere Leute beteiligt. Ich wollte, ich könnte das alles ausführlich mit Ihnen besprechen. Vielleicht würde mir das helfen. Ich glaube, ich könnte mich mit der moralischen Unterstützung meiner Freunde aufraffen und mir eine eigene Wohnung nehmen, wenn ich mich nicht für Mutters Wohlergehen verantwortlich fühlen würde. Aber sie ist fünfundsiebzig Jahre alt und müßte ebenfalls in eine andere Wohnung ziehen. Gesundheitlich ist sie allerdings bestens in Form und auch durchaus imstande, für sich selbst zu sorgen. Die Frage ist, wie mache ich es? Selbst heiraten wäre schwierig, weil der einzige Mensch, der als mein Partner in Frage käme (George), gleichzeitig der Mensch ist, den sie am wenigsten ausstehen kann -und darüber hinaus gibt es so gut wie keine Möglichkeit, daß er frei wird, es sei denn, er wird Witwer .. . Seine Frau ist physisch wie psychisch sehr, sehr krank, und ich kann nur dabeistehen und nach Möglichkeit helfen, weil ich sie beide gern habe und außerstande bin, das zu zerstören, was eine glückliche Ehe war oder sein könnte. Es wird immer komplizierter, nicht wahr? Aber wenn ich George nie kennengelernt hätte, besäße ich nicht ein Zehntel des Verständnisses, der Fähigkeit zu lieben und der Toleranz, die ich jetzt besitze. Er machte aus mir einen Menschen, und das gab mir die Fähigkeit zu fühlen - Freude wie Schmerz. Ich glaube, ich könnte beides noch besser ertragen, wenn ich nicht auch noch die drückenden Schuldgefühle spüren würde, die mir meine Mutter seit meiner Kindheit auferlegt hat und die derzeit in ihrer ablehnenden Haltung zu der oben erwähnten Beziehung kulminieren. Aber ich muß das tun, was mir richtig erscheint. Jeder sehnt sich nach dem Gefühl, gebraucht und geliebt zu werden. Und ich habe zufällig einen Weg eingeschlagen, der ihr fremd ist. Sie erkennen sicher die Ambivalenz. Calvinismus hier, grundlegend menschliche Bedürfnisse dort. Abhängigkeit auf der einen und der Wunsch, unabhängig zu sein, auf der anderen Seite.«

Hier sehen wir, wie Ellen - teilweise oder weitgehend als Resultat der Gruppenerfahrung - über ihre unreife und ängstliche Beziehung zu ihrer Mutter nachdenkt, an den Schuldgefühlen in bezug auf die für sie wichtige Beziehung zu George arbeitet und beginnt, ihre Gefühle für ihn zu akzeptieren.


Der Mut zu sprechen - und zu entscheiden

Der nächste Brief kam nur vier Tage später, aber die Situation hatte sich entscheidend verändert, und die Feigheit war neuem Mut gewichen. Ellen schreibt:

»Ich hatte nie die Absicht, Sie in diesem Umfang mit meinen Problemen zu beschäftigen, aber dennoch möchte ich Sie auf dem laufenden halten. Gestern abend begann meine Mutter von der seit längerem geplanten Renovierung unseres Hauses zu sprechen, und ich wagte es, den Vorschlag zu machen, zwei nebeneinanderliegende Appartements zu beziehen, damit ich abends weggehen konnte, ohne mich darum kümmern zu müssen, ob jemand bei ihr ist. Sie fürchtet sich nämlich, abends oder nachts allein im Hause zu sein. Natürlich führte eins zum anderen, und heute morgen war sie völlig hysterisch.
Ich habe mit dem Hausarzt gesprochen, und er gab mir den Rat, für uns beide getrennte und nicht einmal nebeneinanderliegende Appartements zu besorgen, was ich überhaupt nicht vorgehabt hatte. Er meinte, was alle meine Freunde mir schon immer gesagt hatten, daß sie sich einer neuen Situation sehr schnell anpassen würde, und daß es für mich das einzig Richtige sei. (Wie gut ich das weiß!) Jetzt gibt es kein Zurück mehr, dessen bin ich ganz sicher.
Heute morgen weinte sie und sagte, sie hätte dann niemanden mehr, mit dem sie reden könnte, und außerdem verfüge sie über keinerlei Einkommen. Das stimmt. Ich werde ganz einfach soviel wie möglich von unserem Besitz verkaufen und versuchen, ihr ein dauerndes und unabhängiges Einkommen zu beschaffen. Zum Teil werde ich es aus meinen eigenen Einkünften bestreiten müssen.
Vieles wurde gesagt, aber vieles blieb auch unausgesprochen, und ich merkte, daß sie mich weder verstand noch meinen Entschluß akzeptierte. Hoffentlich verläßt mich mein Mut nicht wieder. Sicherlich können Sie sich vorstellen, wie anstrengend dieser Tag für mich ist. Auf der einen Seite bin ich erleichtert und froh, daß ich es tun konnte, aber auf der anderen Seite leide ich auch darunter, daß ich es getan habe. Danke, daß Sie mir zuhören.«

Vielleicht sollten wir einfach die Tatsachen betrachten, die aus diesen drei Briefen hervorgehen. Da ist eine vierundvierzigjährige Frau, die ihr Leben lang von ihrer Mutter beherrscht wurde, nie heiratete und immer noch Angst davor hat, der Mutter zu sagen, daß sie einen Abend mit ihrem Freund (George) verbracht hat, den sie liebt. Sie ist einfach nicht fähig, die Mißbilligung der Mutter zu ertragen. Aber fünfeinhalb Tage in einer Gruppe, in der das Problem nur oberflächlich erwähnt wurde, haben zu einer Reihe von unabhängigen Überlegungen und Handlungen geführt, die ihr Leben in eine völlig neue Richtung lenkten. Die Tatsache, daß diese neue Richtung mit Angst, Unsicherheit und Schuldgefühlen verbunden ist, ändert nichts daran, daß sie einen Schritt getan hat, den sie kaum rückgängig machen kann und der ihren gesamten Lebensstil und ihre Vorstellung von sich selbst verändern wird.


Aufruhr

Ihr nächster Brief eine Woche später schildert den Umbruch, den sie mit den guten wie den bösen Gefühlen erlebt.
». . . Zunächst einmal fühle ich mich schuldig, und mich bedrückt, was ich meiner Mutter angetan habe. Daneben gibt es Momente, in denen gewissermaßen die Sonne durch die Wolken bricht und ich denke, wie lächerlich es ist, sich wegen einer derart natürlichen und normalen Sache schuldig und ängstlich zu fühlen. Was tue ich meiner Mutter denn eigentlich an? Vielleicht gelingt es mir, die nächsten drei Wochen mit dieser Einstellung durchzustehen. Mutter wird in drei Wochen in ihr Appartement ziehen. Liz, meine Angestellte, versicherte mir, alles würde gut werden, wenn ich erst allein bin. Sie hat sicher recht. Wie meine anderen Freunde hat sie das Gefühl, daß Mutter sich beruhigen wird, sobald sie einmal umgezogen ist, daß aber das große Problem meine eigene Anpassung sein werde. Vor den nächsten drei Wochen habe ich Angst. An die Zeit danach denke ich gar nicht. Die Schuldgefühle kommen wie heiße Wellen über mich. Warum? Ich glaube, ich könnte es mir erklären. Ihr Buch hilft mir dabei. Ich muß mir immer nur vor Augen halten, daß Mutters ganze Sorge bislang nur ihr selbst gegolten hat. Kaum etwas spricht dafür, daß sie sich Gedanken über mich oder meinen Werdegang gemacht hat. Meine Beziehung zu George läßt ihr immer noch keine Ruhe. Ich glaube, das beschäftigt sie am meisten. Und der Grund für meine Schuldgefühle? Ich möchte akzeptiert werden, aber ich habe das Gefühl, daß sie mich nicht akzeptieren kann, und deshalb kann ich es auch nicht. Stimmt das?«

Eine Woche später sind die Aussichten nicht mehr so trostlos. »Die nächsten zwei Wochen werden meines Erachtens die schlimmsten sein, denn Mutter wird ausziehen, und ich bleibe solange im Haus, bis es verkauft ist. Ich denke immer wieder daran, was Menschen doch für wunderbare Wesen sind. Sie sind viel stärker, als sie denken. Was die Rettung bringt, ist das Verständnis für das, was im Innern vorgeht. Sie sehen, ich bin eine Ihrer Schülerinnen geworden. Nochmals vielen Dank für Ihre Briefe. Vielleicht ahnen Sie, was sie mir in diesen anstrengenden Tagen bedeutet haben.«
Von einer Bekannten, die mich besuchen wollte, ließ sie mir ausrichten, sie feiere jetzt ihren 4. Juli. Diese Feier findet fast zwei Monate später statt, aber dennoch ist sie sehr bedeutsam. Sie schreibt: »Ich bin sicher, daß ich die Hilfe des Therapeuten jetzt nicht mehr benötige. Ich glaube, ich schaffe es allein und mit Hilfe Ihres Buches und dem Beistand meiner Freunde, die sich wunderbar um Mutter und mich kümmern.«
In dieser stürmischen Zeit erhielt sie eine Einladung zu einer anderen Encounter-Gruppe und machte Liz, ihrer Angestellten, den Vorschlag, an ihrer Stelle teilzunehmen. »Liz war sehr angetan, meinte aber, ich sollte gehen. Sie sagte, es sei so angenehm gewesen, mit mir zu arbeiten, als ich von unserer Gruppe zurückkam, aber das hätte sich doch sehr schnell wieder gelegt, und sie fände, daß ich wahrscheinlich auch von dieser Gruppe viel profitieren würde, und deshalb solle ich gehen.« (Was sie nicht tat.)


Die Tiefen

Drei Wochen später befindet sie sich in einem »regressiven Zustand«, wie sie es nennt, und schreibt einen weiteren Brief, weil sie

»es entweder niederschreiben oder alleine ausfechten muß. Meine Nerven machen sich wieder bemerkbar, und meine Arme schmerzen, so wie sie es jahrelang taten, bis mir der Arzt vor zweieinhalb Jahren Librium verschrieb. Ich glaube, das läßt gewisse Schlüsse zu.
Dieser regressive Zustand setzte vermutlich ein, als wir Samstag mit Mutters Umzug begannen. Wir brachten einige Kisten hinüber und werden die Kleinigkeiten nach und nach in ihr Appartement schaffen, bis die Möbel in zehn Tagen nachkommen. Ich reagiere auf ihre Mißbilligungen und ihre Anspielungen auf Dinge, die sie nicht mag, wieder genauso wie in alten Zeiten, und meine Schuldgefühle sind größer denn je: was tue ich dieser armen alten Frau an! Und dabei weiß ich ganz genau, daß es eigentlich gar nichts Schlimmes ist.
Ihre Wohnung ist nicht luxuriös, aber gemütlich und sehr gut gelegen. Ich tue alles, um sie schön zu machen. So lasse ich zum Beispiel überall Teppiche auslegen. Aber im Grunde versuche ich nur, mich selbst davon zu überzeugen, daß ich das Richtige tue, während ich eigentlich ein zitterndes Bündel Angst bin. Warum fürchte ich mich vor ihr? Letzte Woche bekam sie wieder einen ihrer hysterischen Anfälle und sagte, ich sei in allem entsetzlich kalt. Ich versuchte ihr zu erklären, daß ich im Innern ganz und gar nicht kalt bliebe, sondern sehr leide und nur versuche, meine Gefühle zu kontrollieren. Tatsache ist, daß ich entsetzliche Angst vor ihren Hysterien, ihrer schlechten Laune, ihren Tränen und Anschuldigungen habe. Aber warum? Wenn ich das nur wüßte! Ich erinnere mich, daß mein Vater einmal zu ihr sagte: >Du verstehst es wirklich, das Messer in der Wunde immer wieder umzudrehen.« Das sollte mir eigentlich genügen, um keine Schuldgefühle mehr zu haben, denn sie hat mir mein Leben lang Dinge angetan, die ich in ihrem vollen Umfang erst vor einigen Jahren erkannt habe. Letzte Woche geriet sie wieder einmal völlig außer sich, weil ich mir ein Appartement ohne ihre Zustimmung ausgesucht hatte, aber seltsamerweise verspürte ich ein gewisses Selbstvertrauen, weil ich die Situation so sehen konnte, wie sie war. Ich kann über alle Gründe und Ursachen reden, aber die schreckliche Angst in der Magengrube scheine ich immer noch nicht loswerden zu können, genausowenig wie es mir gelingt, zu Hause etwas zu sagen, was keine Hysterien, kein Selbstmitleid, keine Märtyrerhaltung und keine Anschuldigungen hervorruft, die in mir wiederum größte Schuldgefühle wachrufen. Gestern schlief ich den ganzen Tag, um endlich meine Kopfschmerzen loszuwerden. Machen eigentlich alle >Klienten< diese »regressiven Perioden« durch? Wahrscheinlich müssen sie das, wenn sie jahrelange Denk-und Fühlgewohnheiten verändern wollen. Aber ich glaube, ich habe das Schlimmste hinter mich gebracht. Der große Schritt war, daß ich vor sechs Wochen den Mut aufbrachte, von diesem Thema überhaupt zu reden. Wenn ich nur auch noch mit der Angst und den Schuldgefühlen fertig werden könnte!«

Manche Leute scheinen zu glauben, daß sich das Selbst-Konzept und das persönliche Verhalten einfach und mühelos verändern ließen. Das trifft aber weder bei Personen noch bei Organisationen zu. Jede Veränderung bringt Unruhe und unterschiedlich starke Schmerzen mit sich. In Ellens Fall sind die Schmerzen besonders groß. Wenn wir etwas Wichtiges über uns selbst lernen und diesem Lernen entsprechend handeln, dann hat das Konsequenzen zur Folge, die wir nie ganz vorhersehen können. Es ist ganz natürlich, daß jede derartige Veränderung eines in vierundvierzig Jahren gewachsenen Lebensstils zu heftigen Schwankungen zwischen Zuversicht und Depression, zwischen Schuldgefühlen und gelegentlicher tiefer Befriedigung führt. Aber die Tatsache, daß dies nur natürlich ist, macht es keineswegs einfacher, und der Kampf jedes Individuums ist ein persönlicher Kampf. Jede Person hat - besonders dann, wenn die Veränderung tiefgreifend ist - das Gefühl, wie ein Schiff im Sturm hin- und hergeschleudert zu werden.
Unabhängigkeitserklärung

Zur gleichen Zeit beantwortete Ellen eine Anfrage des Mannes, der für die Organisation des Workshops, dem unsere Gruppe angehörte, verantwortlich war. In diesem Brief, von dem ich eine Kopie erhielt, versuchte sie zusammenzufassen, was das alles für sie bedeutet hatte. Sie zog darin die Summe ihrer Erfahrung in und nach der Encoun-ter-Gruppe.
». . . Wie die meisten Teilnehmer kam ich mit einer völlig falschen Vorstellung von meinen >Problemen< in die Gruppe. Wie Sie sicher wissen, war unsere Gruppe eine besonders >heilende< Gruppe, und am letzten Tag zeigte es sich, daß ich begonnen hatte, eine Tür zu meinem wahren persönlichen Problem zu öffnen. Die ganze Gruppe hatte dazu sehr viel beigetragen. Eine Bemerkung von Carl Rogers und seine Hoffnung, ich würde in Verbindung mit ihm bleiben, führten schließlich im Laufe des Sommers zu der ziemlich dramatischen Veränderung in mir.
Irgend etwas an unserer Gruppe gab mir eine neue Vorstellung vom >kostbaren< Wert des Individuums. Als ich in meine alte Umgebung zurückgekehrt war, schien mir selbst die Kirche nur noch in höchst unproduktiven Klischees zu reden . . . Meine Erfahrung mit der Gruppe hat mir geholfen, alle Erfahrungen der letzten Zeit zu einer großen Einsicht zu verschmelzen, deren Ergebnis ein ziemlich einschneidender Schritt vor sechs Wochen war. . . . Der einschneidende Schritt - das eigentliche Problem, das ich hinter meiner Fassade mit in die Gruppe gebracht hatte - war meine Trennung und Loslösung von einer dominierenden Mutter, ein Problem, das in jedem grundlegenden psychologischen Werk beschrieben wird. Aber ein Leben, das auf Angst und Unterwerfung errichtet war, ist nicht so einfach zu verändern. Ich bin noch immer nicht ganz fertig damit, aber es geht jetzt schon besser. Ich weiß, daß unsere Gruppe der große Schritt vorwärts war und daß ich immer noch nicht imstande wäre, mich von meiner Mutter zu trennen, wenn ich durch diese Gruppenerfahrung nicht zu einem besseren Verständnis meiner selbst und anderer gelangt wäre.  Ich weiß nicht, wieweit Ihnen dieser Brief zu einer Bewertung des Workshops dienen kann. Aber ich hoffe, Sie merken, welchen emotionalen Einfluß die Gruppe auf mich hatte, und Sie werden verstehen, welche Hoffnung ich aus dieser Erfahrung geschöpft habe. Mitte Vierzig habe ich endlich einen gewissen Grad an Reife erlangt. Ich werde in zwei Wochen beginnen, ein eigenes Leben zu leben, nachdem ich meiner Mutter die Sicherheiten verschafft habe, die sie braucht, um ihrerseits ihr eigenes Leben führen zu können. Ob sie es vermag, hängt nun ganz von ihr ab - ich kann ihr Leben nicht mehr für sie leben, und genausowenig kann sie weiterhin mein Leben für mich leben, so wie sie es immer versucht hat. Was der Workshop für mich bedeutet hat? Er hat mir geholfen, mein eigenes Leben zu finden.«


Der Preis für die Unabhängigkeit

Fünf Wochen vergingen, ehe der nächste Brief kam, in dem sie schrieb:

»Vielen Dank für Ihren Brief, der mir die Tür für weitere Korrespondenz offenhielt. Es tut mir gut, über meine Gefühle zu schreiben, aber ich erwarte wirklich nicht, daß Sie versuchen, auf jede Katharsis bei mir einzugehen.
. . . Sie haben ganz recht, Unabhängigkeit ist eine kostspielige Sache, aber ich weiß, daß ich nicht mehr zurückkehren kann, gleichgültig, wie hoch der Preis ist. Meine Mutter äußerte sich letzten Dienstag erstmals zu unserem neuen Status. Wir waren unterwegs zu unserer wöchentlichen Bridgeparty bei Freunden von uns. Sie sagte, sie könne sich einfach nicht an die Veränderung gewöhnen; nachts sei es am schlimmsten, und häufig läge sie stundenlang wach und denke über alles nach. Es war nicht einfach, darauf zu antworten, aber ich sagte trotzdem: >Ja, es ist schwer, etwas zu verändern. Ich habe auch Schwierigkeiten. Es wird eine Weile dauern, bis wir uns daran gewöhnt haben.< Sie sagte, sie würde sich nie daran gewöhnen, und daraufhin schwieg ich. Ich wußte nicht, was ich dazu sagen sollte. Der Abend war verdorben, und den ganzen nächsten Tag brütete ich vor mich hin. Am gleichen Tag kam Ihr Brief, der mir etwas half.
Ich bewege mich in sprungartig wechselnden Zyklen einmal nach oben, dann wieder nach unten. Manchmal erscheint es mir völlig unglaublich, daß all dies geschehen ist, und ich habe ähnliche alptraumartige Vorstellungen, wie meine Mutter sie neulich erwähnte -daß ich eines Tages aufwachen und merken werde, daß alles nur ein Traum war und die alte Situation wieder Wirklichkeit geworden ist  Ich habe manchmal das Gefühl, auf drei verschiedenen Ebenen zu leben: 1. der körperlichen Ebene (»gut level«), von der Sie gesprochen haben, auf der mein Sein das tut, was es für richtig hält; 2. der emotionalen Ebene, auf der Träume oder Illusionen von der Gegenwart mich niederdrücken; 3. der intellektuellen Ebene, die die emotionale Ebene bekämpft und versucht, alles zu rationalisieren.«

Ich möchte diese Feststellung vom Standpunkt eines an der Persönlichkeitstheorie interessierten Psychologen betrachten, da sie die Aspekte der persönlichen Veränderung ungemein gut beschreibt. Auf der einen Seite ist Ellen sich zum erstenmal der Gefühle und Reaktionen ihres Organismus wirklich bewußt. Ihr ganzes Sein erfährt das neue Erlebnis, durch diese Reaktionen geleitet zu werden, und es spürt, wie richtig das für sie ist. Auf der anderen Seite erheben sich alle aus der Akkumulation der von der Mutter introjizierten Werte hervorgegangenen Emotionen, um über sie herzufallen. »Du bist böse, weil du deine Mutter verlassen und betrogen hast.« — »Du bist böse, weil du nicht tust, was sie will, und dein Leben dir wichtiger ist als das ihre.« - »Du bist schlecht, weil du einen verheirateten Mann liebst.« - »Du bist böse, weil du deine Mutter wütend machst.« Die alten Gefühle der Angst und Schuld, der Schlechtigkeit und Wertlosigkeit wiederholen sich wie in der Vergangenheit. Aber diesmal gibt es einen Unterschied. Ihr Verstand ist imstande zu sagen: »Ja, ich spüre die Angst und die Schuld, aber mein Organismus erlebt meine »Bosheit« nicht. Er ist froh über die Trennung von der Mutter, glücklich über Georges Liebe und im Innern traurig über Mutters Wut.« Ihr Intellekt steht, wie sie sagt, auf der Seite des Organismus und seiner Reaktionen - auf der Seite dessen, was sie selbst erlebt. Deshalb bin ich sicher, daß die introjizierten Werte mit der Zeit ihre Macht verlieren.
Ellen fährt in ihrem Brief fort: ». . . der Konflikt ist verheerend. Ich bin physisch völlig fertig, todmüde und an nichts mehr interessiert. Letzte Woche gab ich zum erstenmal eine Einladung zum Abendessen; es ging zwar nicht alles glatt, aber ich fühlte mich doch ein wenig in Hochstimmung. In dieser Woche möchte ich am liebsten mit allem Schluß machen - mit dem Leben, meine ich. Aber vielleicht geht es mir nächste Woche wieder viel besser . . .«
Angst vor der Unabhängigkeit

»Ich glaube, das große Problem - abgesehen von den Sorgen um Mutter, die tatsächlich geringer geworden sind - stellt sich mit der Tatsache, daß ich offenbar nicht fähig bin, auf eigenen Füßen zu stehen. In diesem Punkt muß ich mich immer wieder an Ihr Buch und Ihren Ansatz erinnern. Ich kann mich nicht auf Freunde verlassen, so gern ich das auch täte. Mir fehlt mein guter Freund George, der mir viel hilft. Er ist sehr beschäftigt und beruflich in einer miserablen Situation. Seit mehr als einer Woche habe ich nicht einmal mit ihm gesprochen.
 Wenn Eltern nur einsehen könnten, wie sehr sie ihren Kindern schaden, indem sie alles für sie tun, ihnen nichts selbst überlassen und sie nicht aus dem Nest stoßen, wenn sie merken, daß sie es freiwillig nicht verlassen wollen. Aber etwas Schuld liegt auch bei mir; ich hätte das alles schon vor vielen Jahren hinter mich bringen sollen. Jetzt bin ich fünfundvierzig Jahre alt, aber ich fühle mich wie ein zehnjähriges Mädchen, das sich in einem Wald verlaufen hat. Ich weiß, daß ich irgendwann den Weg hinaus finden werde. Aber vor der Zeit bis dahin habe ich Angst, denn mehr als einen Schritt nach dem anderen schaffe ich nicht. Manchmal versuche ich mir vorzustellen, was Mutter in diesem Punkt durchmacht. Aber jeder, selbst der Pastor, versichert mir immer wieder, daß sie eine starke Frau ist und alles viel besser übersteht als ich. Und deshalb denke ich, außer wenn ich sie sehe, kaum an ihre Schwierigkeiten und brüte ausschließlich über den meinigen.«

Für mich ist es faszinierend, zu sehen, wie sich das Problem nach und nach von den Schuldgefühlen in bezug auf die Mutter zu der Erkenntnis verlagert hat, daß sie selbst das Problem ist, daß es ihr unheimlich schwerfällt, auf eigenen Füßen zu stehen und ihr eigenes Leben zu leben. Hier liegt eine Angst vor, die sie erlebt. Sie zahlt, wie sie sagt, einen hohen Preis für ihre Unabhängigkeit, und dennoch ist offenkundig, daß sie in ihrem Kampf Fortschritte macht. Sie erkennt die Tatsache, daß sie im Alter von fünfundvierzig Jahren emotional einer Zehnjährigen gleicht, und das ist ein ganz beachtlicher Schritt.
Sie wagt eine Konfrontation und ist dankbar

Der nächste Brief kam einen Monat später:

»Ich glaube, als ich das letztemal schrieb, war ich ziemlich deprimiert, aber diesmal geht es mir weit besser. Die einzigen schlimmen Tage sind die Wochenenden und unser Bridgespiel am Dienstagabend. Sie wird mit ihrer Situation nicht fertig und macht immer wieder Anspielungen, um mir zu zeigen, wie unglücklich sie ist. Ich glaube jedoch, daß viele Mütter das mit ihren Kindern machen, und werde in meiner Einstellung zu ihr immer sicherer. Dazu ein Beispiel: Meine Cousine Sally lud Mutter und mich ein, den Thanksgiving Day bei ihr zu verbringen. Sie wohnt nur zwanzig Kilometer von uns entfernt, und wir besuchen sie häufig. Weihnachten sind wir auch jedes Jahr bei ihr. Letztes Wochenende sagte Mutter, sie habe keine Lust, den Thanksgiving Day bei Sally zu verbringen, da wir Weihnachten sowieso bei ihr seien. Die Tatsache, daß sie Sally bereits versprochen hatte, für sie zu backen, schien unwichtig. Ihre Stimme hatte den bestimmten Tonfall, den ich nur zu gut kenne. Ich sagte nichts. Wenig später begann sie erneut davon zu sprechen und sagte, sie würde nicht hingehen. Wenn ich für diesen Tag etwas vorhätte, dann sollte ich tun, wozu ich Lust hätte. Ich sagte immer noch nicht viel, aber als sie zum drittenmal davon anfing, sagte ich: >Mutter, Sally hat mich eingeladen, und ich werde hingehen. Du kannst tun, was du willst.< Danach schwieg sie eine Weile, und schließlich sagte sie: >Holst du mich am Thanksgiving Day ab?< Also wirklich, wie kindisch kann ein Erwachsener nur sein!
In meinem Appartement geht es mir gut, obwohl ich seit einem Monat nicht mehr dazugekommen bin, es zu putzen. Ich lerne kochen und hatte neulich Freunde eingeladen, die seit Jahren nicht mehr bei mir gewesen waren. Es war herrlich, einfach dazusitzen, etwas zu trinken und ganz natürlich miteinander zu reden - und ich war in meiner eigenen Wohnung!
Ich glaube, an diesem Thanksgiving Day kann ich wirklich dankbar sein. Ich hoffe nur, daß meine Mutter etwas findet, das ihrem Leben einen Sinn gibt, aber ich weiß auch, daß es nicht in meiner Macht steht, es für sie zu suchen. Alles Gute für Ihre Ferien.«
Zum erstenmal hat Ellen es gewagt, ihre Mutter mit der Tatsache zu konfrontieren, daß sie eine eigenständige Person ist. Als sie ihrer Mutter ein Appartement suchte, geschah das mit großen Schuldgefühlen und ohne viel echte Konfrontation. Jetzt sagt sie jedoch zu der Mutter: »Ich gehe, du kannst tun, was du willst.« Sie hat endlich die Nabelschnur durchschnitten und es - sicherlich nicht ohne Schwierigkeiten - geschafft, zu sagen: »Ich bin selbst eine Person.« Jetzt feiert sie wirklich ihren Unabhängigkeitstag, ihren 4. Juli. Darüber schreibt sie in einem Brief, den ich einen Monat später erhielt:

». . . Das Mutterproblem erledigt sich nach und nach von selbst. Sie kommt mir zwar immer wieder mit ihrem Selbstmitleid, aber ich gehe darauf nicht mehr ein. Ich weiß, wie schwierig es für sie ist, sich anzupassen, und ich versuche ihr zu helfen, soweit es geht, ohne mich wieder an sie zu binden. Soweit es diese Situation betrifft, ist die Nabelschnur durchtrennt worden - und zwar endgültig.«
Von allen anderen Seiten hört sie, daß es ihrer Mutter eigentlich gutgeht und sie ganz zufrieden ist.


Ein weiterer Schlag

Eigentlich müßte man annehmen, daß diese schmerzliche und schwierige Trennung, die mit dem erfolgreichen Durchschneiden der Nabelschnur endete, in dieser kurzen Zeit Kampf und Wachsen genug war. Aber im gleichen Zeitraum begann George sich von Ellen, die ihn sehr liebte und sich sehr auf ihn stützte, zurückzuziehen, zum Teil aufgrund der Schwierigkeiten seiner Frau, zum Teil aber auch aus anderen Gründen. Das war, wie sie in späteren Briefen schrieb, ein »doppelter K.-o.-Schlag«. Ihre Briefe berichten von ihrem Schmerz und ihrem Kampf, damit fertig zu werden, aber im Grunde ist es die gleiche Geschichte noch einmal. In einem Brief erwähnt sie, daß eine Freundin zu ihr sagte: »Du stehst diese Krisen beachtlich gut durch.« Die Freundin ist überrascht, »daß ich mich von dem zweiten Schlag so schnell erholt habe«. Sie schreibt weiter:
»Ich war so traurig, als wäre ein Baby gestorben - aber es war eher der Schmerz über ein verlorenes Gefühl als Trauer über den Verlust eines Menschen. Durch den Verlust dieses Gefühls öffne ich vielleicht mein Leben für viele andere und interessantere Erfahrungen. Statt immer und jederzeit für ihn zur Verfügung zu stehen, kann ich jetzt daran denken, mich mit Freunden zu treffen, die ich seit langem nicht mehr gesehen habe. Nach echter Zuneigung zu suchen ist Zeitverschwendung. Wenn sie kommt, dann kommt sie. Wenn nicht, dann akzeptiere ich einfach, was ich immer empfunden habe, nämlich, daß ich nicht sonderlich liebenswert bin, weil ich nicht richtig zu lieben gelernt habe. Vielleicht hilft mir das, anderen gegenüber offener zu sein und mir einen Ersatz für die fehlende tiefe, persönliche Beziehung zu einem anderen Individuum zu schaffen.«

Lohnt sich der Schmerz des Wachsens?

In dieser Zeit, als Ellen zum zweitenmal tiefen Schmerz erlebte, erwähnte ich in einem Brief an sie die Überlegung, daß sie sich doch sicher gelegentlich wünschen müßte, sie hätte von dem Workshop, durch den sie in unsere Gruppe kam, nie etwas gehört. Sie antwortete, acht Monate nach der Gruppenerfahrung: »Sie wollen wissen, ob ich die Gruppenerfahrung noch einmal machen möchte, und ich antworte Ihnen mit >Ja<. Die Gruppe bedeutete mir sehr viel . . . Sie hat mir und meinem Leben eine neue Dimension eröffnet und mich reifer werden lassen. Nein, ich würde die Gruppenerfahrung für nichts in der Welt hergeben. Und obwohl ich in den Monaten seither mehrfach durch die Hölle gegangen bin, habe ich viel gelernt und bin dankbar für jede Erfahrung, die ich durch dieses Lernen gewonnen habe.«


Einige abschließende Gedanken

Von vielen Seiten wird heutzutage nach den Encounter-Gruppen und ihrem Wert gefragt. Diese Fragen würden in bezug auf Ellens Erfahrung in etwa lauten: War es eine beunruhigende Erfahrung? Machte diese Erfahrung sie unglücklich oder deprimiert? Führte sie zu Reibungen in ihren engeren Beziehungen? Veränderte sie ihre Einstellungen hinsichtlich der Beziehungen zwischen Mann und Frau? Entfernte sie sich aufgrund der Erfahrung von den orthodoxen Moralvorstellungen? Wurde sie emotional labil? Die Antwort auf all diese Fragen lautet zweifellos: ja! Die Gruppenerfahrung erwies sich als sehr beunruhigend; sie führte zu tiefer Depression, sie veränderte ihre Beziehung zur Mutter so sehr, daß die Mutter hysterische Anfälle bekam; ihre emotionalen Reaktionen schwankten heftig, und sie begann ihre Liebe zu einem verheirateten Mann zu akzeptieren. Daraus folgt für den Fragesteller generell, daß Ellens Erfahrung mit einer Encoun-ter-Gruppe nicht nur wertlos war, sondern auch noch einen destruktiven Einfluß ausübte. Diese Art der oberflächlichen Beurteilung hat vielfach zu kritischen und besorgten Äußerungen über die wachsende Zahl der Encounter-Gruppen geführt.
Aber betrachten wir Ellens Erfahrung von einem anderen und wichtigeren Standpunkt aus, nämlich ihrem eigenen.
•    Die Gruppenerfahrung war eine der kostbarsten Erfahrungen in ihrem Leben, eine Erfahrung mit Menschen, denen sie wichtig war und die ihr halfen, die Türen in ihrem Inneren zu öffnen. Eine Flut von Einsichten und Gefühlen half ihr ganz allmählich die Türe zur Erfahrung ihrer selbst zu öffnen. Dennoch war sie sicher, daß diese Türe sich wieder schließen würde.
•    Sie wurde sich der Tatsache bewußt, daß ihr Leben auf der einen Seite von der Mutter beherrscht wurde, daß sie aber auf der anderen Seite völlig von ihr, ihrer Zuneigung und ihrer Zustimmung abhängig war. Sie erkannte, wie sehr sie ihre Mutter fürchtete.
•    Zum erstenmal in ihrem Leben begann sie ernsthaft daran zu denken, diese Nabelschnur zu durchtrennen.
•    Sie fängt an, ihren eigenen Gefühlen zu vertrauen, statt den Wertvorstellungen und Beurteilungen der Mutter zu folgen - zum Beispiel in bezug auf ihren Freund George.
•    Sie unternimmt den entscheidenden Schritt und besorgt ihrer Mutter ein eigenes Appartement.
•    Sie erträgt die Schuldgefühle und die Angst, die dieser Entscheidung und ihren daraus resultierenden Handlungen folgen.
•    Obwohl es sie ängstigt und deprimiert, befreit sie sich von ihrer Mutter, zuerst auf innerem, psychologischem Wege, dann durch die räumliche Trennung und schließlich durch das mutige Betonen der Tatsache, daß sie ihr eigenes Leben leben will.
•    Sie ist langsam aus vielen alten Gewohnheiten herausgewachsen und kämpft darum, ihr eigenes Leben zu finden.
•    Sie hat den Schrecken des Unabhängigseins erlebt und ist mit ihm fertig geworden.
•    Den Schmerzen und Leiden in ihrem Liebesleben begegnet sie mit neuem Mut.
• Sie hat in dem nie endenden Kampf, eine bewußtere und vollständigere Person zu werden, große Fortschritte gemacht. Und der Mut, sie selbst zu sein, bedeutet ihr so viel, daß sie wenn nötig alle Schmerzen noch einmal.durchleben würde, um ihn zu finden.

Ihre Geschichte ist kein Einzelfall. Die intensive Gruppenerfahrung war für viele andere Menschen ein Wendepunkt in ihrem Leben. Aber hier geht es nur darum, was mit einer Person aufgrund der Erfahrungen einer einwöchigen Encounter-Gruppe geschah.


Sechs Jahre später

Durch Zufall stieß ich sechs Jahre nach der Gruppe in jenem Workshop wieder auf die Korrespondenz zwischen Ellen und mir. Ich erkannte, wieviel Persönliches darin enthalten war und wie sehr es anderen helfen konnte, die ähnliche Kämpfe durchmachten. Ich schrieb ihr und bat sie um die Erlaubnis, Auszüge aus ihren Briefen veröffentlichen zu dürfen, was sie mir gern erlaubte. Als ich dieses Kapitel zusammengestellt hatte, schickte ich ihr eine Kopie und bat sie um Durchsicht auf mögliche Irrtümer hin. Sie war mit allem einverstanden und schrieb mir in diesem Zusammenhang zwei weitere Briefe, die meiner Ansicht nach einen passenden Epilog für den hier beschriebenen Kampf um persönliches Wachsen abgeben. Die nachstehenden Auszüge lassen erkennen, wie tief die fortlaufende Veränderung in ihr gegangen ist.

»Lieber Carl,
es war ein seltsames Erlebnis, Ihr Manuskript zu lesen. Ich fühlte mich völlig unbeteiligt, so als läse ich einen Fallbericht in einem Ihrer Bücher. An einige der in meinen Briefen geschilderten Emotionen kann ich mich kaum noch erinnern. Wie wunderbar ist doch der Mensch - er kann Schmerz und Leid vergessen. Ich möchte das alles dennoch nicht noch einmal durchmachen, aber da ich es durchgemacht habe, weiß ich, daß ich zukünftige Krisen weitaus besser meistern werde, weil ich begonnen habe, mein eigenes Leben zu leben - wirklich zu leben.«

Die Beziehung zu George blieb nach unserem letzten Briefwechsel noch einige Zeit bestehen, aber sie wurde immer unbefriedigender, bis
Ellen schließlich die Initiative ergriff und einen offenen und ehrlichen Bruch herbeiführte. »Damit befreite ich mich von einer weiteren Fessel - von einer jahrelangen emotionalen Abhängigkeit, die überhaupt nicht notwendig war. In gewisser Hinsicht war es die Durchtrennung einer zweiten Nabelschnur.«
Über ihr unabhängiges Leben in ihrem Appartement schrieb sie: »Ich habe es eingerichtet, sammle Bilder (soweit ich es mir leisten kann), koche mittlerweile gern und gut und habe häufig Gäste. All das bedeutet, daß ich erwachsen werde. Ich habe nie gelernt zu kochen, Gäste zu bewirten oder überhaupt eine Hausfrau zu sein. Seit ich allein lebe, mußte ich mir das alles selbst beibringen.
Natürlich ist nicht alles großartig. Ich habe immer noch schlimme Kopfschmerzen, aber ich glaube, die Ursache ist eher physischer als psychischer Natur. Demnächst werde ich das untersuchen lassen.«
Sie berichtet mit echter Befriedigung, wie sie in einer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung geholfen hat. Die Mutter, eine Freundin von ihr, war eine steife, formelle Person, die ihre Tochter ständig wegen ihrer »Hippie«-Neigungen kritisierte. Ellen war es gelungen, ein entspanntes Klima zu schaffen, in dem Mutter und Tochter sich ausdrücken konnten. »Ich habe das Gefühl, daß vieles von dem, was in den letzten zweieinhalb Monaten geschehen ist, auf das zurückzuführen ist, was ich in der Encounter-Gruppe über mich selbst und über andere gelernt habe. Ich bin anderen Leuten gegenüber ganz sicher nicht mehr so verschlossen wie früher.«
Sie fährt fort:

»Vielleicht das wichtigste von allem: Ich habe jetzt eine bessere Vorstellung von mir selbst; ich bin zwar in keiner Weise völlig zufrieden mit mir, aber ich glaube, ich kann mit meinen Grenzen leben und meide ganz einfach Situationen, mit denen ich nicht fertig werde. Zum Beispiel gehe ich kaum noch zu geschäftlichen Versammlungen, bei denen ich die einzige oder fast die einzige Frau bin und keinen der Männer kenne. Es ist sinnlos, sich fortlaufend unangenehmen Situationen auszusetzen, wenn es nicht absolut notwendig ist. Genauso, wie ich mich entschlossen habe, nicht mehr über Gebirgsstraßen zu fahren, weil mir dabei schlecht wird. In mancher Hinsicht bin ich verkrüppelt und werde es wahrscheinlich immer bleiben, so wie das Gegenteil bei manchen anderen zutrifft, die in der einen oder anderen Weise zu schnell erwachsen wurden.«
Es ist schwierig sich vorzustellen, daß Ellen ihre Mutter nur nebenbei erwähnt, aber in diesem Sinne beginnt einer ihrer letzten Absätze:
»Übrigens geht es meiner Mutter sehr gut. Ich bewundere mittlerweile ihren starken Willen, geistig frisch und aktiv zu bleiben. Sie zeigt wieder ein neues Interesse an der Arbeit der sozialen Organisation, der sie seit Jahren angehört, und nimmt wieder an ihren Veranstaltungen teil. Es macht mir Spaß, am Wochenende mit ihr zusammen zu sein oder Samstag mit ihr einkaufen zu gehen. Wenn ich allerdings mehr als zwei Stunden bei ihr sitze, esse und fernsehe, dann bin ich reif für ein Beruhigungsmittel. Sie scheint sich als Gast in meiner Wohnung wohl zu fühlen und interessiert sich sehr dafür, wie ich sie eingerichtet habe, obwohl sie gelegentlich ein wenig entsetzt ist, daß ich für Bilder Geld >hinausschmeiße<.«


Schluß

Meiner Ansicht nach bestätigen diese letzten Briefe alles, was bereits in der früheren Korrespondenz erkennbar war. Ellen wird erwachsen, wie sie sagt, und obwohl dieses Reifen viel später als sonst üblich stattfindet, bereichert und erhöht es ihr Leben. Sie trifft ihre eigenen Entscheidungen, folgt ihrer eigenen Richtung und begegnet dem Leben sehr realistisch. Wer von uns könnte mehr verlangen!
 der Gruppe entdeckt wird und welche Angst selbst eine äußerlich entschieden liebenswerte Person vor der Tatsache hat, daß man ihr inneres Selbst nicht akzeptiert. Sue machte den Eindruck eines ziemlich ruhigen, aber offenbar sehr aufrichtigen und offenen Mädchens. Sie war eine gute Schülerin und Leiterin einer Organisation, deren Mitglieder sie ihrer Tüchtigkeit wegen gewählt hatten. Zu Anfang der Wochenend-Gruppe sprach sie über ihre derzeitigen Probleme. Sie zweifelte an ihrem religiösen Glauben und an einigen ihrer Wertvorstellungen, sie fühlte sich sehr unsicher und gelegentlich sogar verzweifelt, wenn sie nach Antworten auf die Fragen suchte, die diese Zweifel in ihr wachriefen. Sie wußte, daß sie die Antworten in sich selbst finden mußte, aber sie schienen sich ihr zu entziehen, und das machte ihr Angst. Einige Mitglieder der Gruppe versuchten sie zu beruhigen, aber das zeigte kaum eine Wirkung. An einer anderen Stelle sprach sie davon, daß häufig andere Schüler mit ihren Problemen zu ihr kamen. Sie hatte das Gefühl, ihnen nützlich gewesen zu sein, und es befriedigte sie, wenn sie anderen helfen konnte.
Am nächsten Tag wurden einige sehr bewegende Gefühle ausgedrückt, und die Gruppe verharrte eine geraume Zeit in tiefem Schweigen. Dieses Schweigen unterbrach Sue schließlich mit einigen intellektuellen Fragen, die absolut vernünftig waren, aber in diesem Augenblick völlig unpassend wirkten. Ich spürte intuitiv, daß sie nicht das sagte, was sie in Wirklichkeit sagen wollte, aber ihre Fragen enthielten keinerlei Hinweis auf ihre eigentliche Mitteilung. Ich fühlte den Wunsch, zu ihr zu gehen und mich neben sie zu setzen, aber dieser Impuls schien mir irgendwie verrückt, denn nichts deutete darauf hin, daß sie Hilfe suchte. Der Impuls war jedoch so stark, daß ich das Risiko einging, mich erhob und sie fragte, ob ich mich neben sie setzen dürfte, wohl wissend, daß die Möglichkeit bestand, von ihr zurückgewiesen zu werden. Sie machte mir Platz, und sobald ich neben ihr saß, setzte sie sich auf meinen Schoß, beugte den Kopf über meine Schulter und begann zu schluchzen.
»Seit wann weinst du?« fragte ich sie.
»Ich habe nicht geweint.«
»Nein, ich meine, seit wann du im Innern weinst.« »Seit acht Monaten.«
Ich hielt sie einfach fest wie ein Kind, bis ihr Schluchzen allmählich nachließ. Einige Zeit später konnte sie über ihre Sorgen sprechen.
Sie hatte das Gefühl, daß sie anderen helfen konnte, daß aber niemand sie lieben und daher niemand ihr helfen konnte. Ich schlug ihr vor, sich umzusehen und die Gruppe zu betrachten, dann würde sie sehr viel Liebe und Zuneigung in den Gesichtern der anderen bemerken. Dann erzählte ein anderes Gruppenmitglied, eine Nonne, daß sie in ihrem Leben eine ähnliche Periode der Zweifel, der Hoffnungslosigkeit und des Gefühls, nicht geliebt zu werden, durchgemacht habe. Schließlich sprach Sue über die Scheidung ihrer Eltern. Sie vermißte ihren Vater sehr, und es bedeutete ihr viel, daß ein Mann ihr seine Zuneigung gezeigt hatte. Offenbar hatte ich intuitiv richtig gehandelt, aber ich habe keine Ahnung, wie es dazu kam. Sue war ein Mädchen, das wahrscheinlich jeder als charmante und liebenswerte Person bezeichnen würde, aber sie selbst empfand sich als nicht liebenswert. Meine Zuneigung und die der übrigen Gruppenmitglieder trugen viel dazu bei, diese Vorstellung zu ändern.
Aus den Briefen, die ich seither von ihr bekommen habe, geht deutlich hervor, daß die Erfahrungen dieser Liebe und Zuneigung seitens der Gruppe ihr über die Verzweiflung hinweggeholfen haben. Sie hat immer noch Zweifel und Fragen, aber die Hoffnungslosigkeit und das Gefühl, allein und ungeliebt zu sein, sind verschwunden.


Das Wagnis eingehen, das eigene innere Selbst zu sein
Wie aus einigen dieser Beispiele deutlich hervorgeht, kann die tiefe individuelle Einsamkeit, die Teil des Lebens so vieler Menschen ist, nur behoben werden, wenn das Individuum das Wagnis eingeht, anderen Individuen gegenüber sein wahres Selbst zu zeigen. Erst dann kann es feststellen, ob es menschlichen Kontakt schließen oder die Bürde seiner Einsamkeit erleichtern kann.
In dem oben bereits erwähnten Film Rachel, Rachel kommt dieser Augenblick, als Rachel bereit ist, ihre sexuellen Gefühle zu akzeptieren und sich einem jungen Mann hinzugeben, den sie zweifellos idealisiert hat. Die Liebesaffäre ist nicht das, was man als Erfolg bezeichnen würde, und Rachel wird von ihrem Freund verlassen. Dennoch hat sie gelernt, daß sie einem anderen Menschen nur wirklich begegnen kann, wenn sie bereit ist, ein Wagnis einzugehen. Diese Erfahrung bleibt ihr und stärkt sie als Person auf dem Wege in eine unbekannte Welt.
Ich kann darüber sehr persönlich reden, weil die Fähigkeit, ein

1 1 Q

Risiko einzugehen, zu den Dingen gehört, die ich selbst in Encounter-Gruppen gelernt habe. Ich habe gelernt, daß es grundsätzlich nichts gibt, wovor man sich fürchten müßte, auch wenn ich nicht immer dieser Erkenntnis entsprechend lebe und handle. Wenn ich mich so gebe, wie ich bin - wenn ich ohne Abwehr, ohne Schutz und Schild einfach ich selbst sein kann und die Tatsache akzeptiere, daß ich viele Unzulänglichkeiten und Fehler habe, häufig voreingenommen statt aufgeschlossen bin und oft Gefühle habe, die durch die Umstände nicht gerechtfertigt sind, dann kann ich viel realer, viel wirklicher ich selbst sein. Und wenn ich keine Waffen trage und nicht versuche, anders zu sein, als ich bin, dann lerne ich viel mehr - auch aus Kritik und Feindseligkeit - und komme den Leuten viel näher. Aufgrund meiner Bereitschaft, verwundbar zu sein, bringen mir andere Menschen weitaus mehr echte Gefühle entgegen, so daß es sich immer lohnt, diese Bereitschaft zu riskieren. Ich genieße das Leben deshalb viel mehr, wenn ich nicht defensiv bin und mich nicht hinter einer Fassade verstecke, sondern einfach versuche, mein wirkliches Selbst auszudrücken und zu sein.
Diese Bereitschaft zu dem Wagnis, das eigene innere Selbst zu sein, ist zweifellos einer der Schritte zur Befreiung von der Einsamkeit, die in jedem von uns existiert. Ein College-Student drückte das sehr gut aus, als er sagte: »Ich fühlte mich heute in der Gruppe völlig allein und gleichzeitig völlig entblößt. Die anderen wissen jetzt viel zuviel von mir, dachte ich. Aber dann tat es mir auch gut zu wissen, daß ich mich nicht mehr hinter meiner kühlen Fassade verstecken mußte.«
Die einsame Person ist zutiefst davon überzeugt, daß man sie nicht mehr akzeptiert oder liebt, wenn ihr wahres Selbst bekannt wird. Es gehört zu den faszinierendsten Augenblicken im Leben einer Gruppe, wenn man sieht, wie diese Überzeugung langsam schwindet. Die Feststellung, daß eine ganze Gruppe von Leuten es viel einfacher findet, sich um das wahre Selbst statt um die äußere Fassade zu kümmern, ist nicht nur für die betreffende Person, sondern auch für die übrigen Gruppenmitglieder eine bewegende Erfahrung.
Nehmen wir zum Beispiel den Geschäftsmann Jerry, von dem bereits die Rede war und der stolz verkündete, er brauche keine Freunde, bis er dann seine Einsamkeit erlebte und erkannte. In einer der letzten Sitzungen sagte er zögernder, als ich es wiedergeben kann: »Ich glaube, es ist möglich, daß die anderen einem entgegenkommen, wenn man selbst bereit ist, ihnen entgegenzukommen. Ich meine, es ist möglich, daß das geschieht. Ich weiß nicht, warum es mir so schwerfällt, das zu sagen. Das einzige, worauf ich mich beziehen kann, ist das Gefühl, das ich hatte, als Beth von ihrem Problem sprach - und die Reaktion von Roz holte mich irgendwie zurück in die Gruppe - oder zurück zu den Menschen und zu den Gefühlen anderer Leute. Sie sind beteiligt. Sie können es sein. Die Leute können sich mit dir befassen, gleichgültig wer und wie du bist. Das habe ich erkannt. Und aus dieser Gruppe werde ich die Uberzeugung mitnehmen, daß nicht nur hier, sondern überall die große, große Möglichkeit besteht, daß dies geschieht.« Als Jerry das sagte, war er den Tränen nahe, und alle anderen Gruppenmitglieder schienen tief bewegt.
Seine Worte enthalten eine tiefe Wahrheit: Er wurde zu den Menschen und zu den Gefühlen anderer Leute zurückgeholt. Das Individuum kann erst dann das Gefühl entwickeln, als Person respektiert und geliebt zu werden, wenn es merkt, daß es als das geliebt wird, was es ist, und nicht als das, was es mit seiner Maske vorgibt zu sein. Erst dann kann es Fühlung zu anderen aufnehmen und mit anderen in Fühlung bleiben. Es gehört mit zu den generellen Resultaten einer Encounter-Gruppe, daß eine Person zu neuem Respekt vor dem Selbst gelangt, das sie wirklich ist. Sie hat nicht mehr das Gefühl, ein Schwindler zu sein oder die anderen ständig betrügen zu müssen, um geliebt zu werden. Aber dieser neue Respekt vor dem eigenen Selbst geht nach der Gruppenerfahrung nicht selten wieder verloren, und nicht jedes Gruppenmitglied verliert seine Einsamkeit in der hier beschriebenen Weise. Dennoch scheint es mir ein Anfang zu sein.
Ich hoffe, diese Beispiele machen deutlich, daß die intensive Gruppenerfahrung dem Individuum oft Gelegenheit bietet, in sein Inneres zu blicken und die Einsamkeit seines wahren Selbst zu erkennen, das hinter seiner Alltagsfassade oder hinter dem Schutz seiner Rolle existiert. Es kann diese Einsamkeit voll erfahren und zugleich erleben, daß diese Erfahrung von anderen Gruppenmitgliedern akzeptiert und respektiert wird. Es kann Aspekte seiner selbst ausdrücken, deren es sich bislang geschämt hat oder die ihm allzu privat erschienen. Zu seiner Überraschung wird es feststellen, daß die Gruppenmitglieder auf sein wirkliches Selbst viel wärmer reagieren als auf die äußere Fassade, mit der es der Welt sonst begegnet. Dieses wahre Selbst können die anderen lieben, auch wenn es noch so fehlerhaft und unvollkommen ist. Wenn sich in einer Gruppe ein solches wahres Selbst einem anderen wahren Selbst nähert, dann kommt es zu der Ich-Du-Beziehung, die Martin Buber so gut beschrieben hat. Die Einsamkeit vergeht, die Person empfindet den echten Kontakt zu

en

der anderen Person; das Gefühl der Entfremdung, das so sehr Teil ihres Lebens gewesen ist, schwindet.
Ich bin sicher, daß es viele andere Wege gibt, um mit der Einsamkeit, der Entfremdung und der Unpersönlichkeit in unserer Gesellschaft fertig zu werden. Ein Künstler kann seine Einsamkeit und sein echtes inneres Selbst in einem Gemälde oder in einem Gedicht ausdrücken und hoffen, daß er irgendwann und irgendwo die Wärme des Verstehens und der Anerkennung findet, die er braucht. Der Anblick echter Gefahr kann die Einsamkeit der Menschen ebenfalls vermindern. Unter Soldaten in Kriegszeiten oder unter anderen Personen in Todesgefahr kommt es häufig zu einer Öffnung des wahren Selbst, zu Verständnis und Akzeptierung seitens der anderen. Das erklärt die Intimität, die in solchen Gruppen möglich ist, das erklärt auch die Sehnsucht des Soldaten nach seinen ehemaligen Kameraden, wenn die Gruppe auseinandergefallen ist.


Schluß

Zweifellos gibt es noch weitere Möglichkeiten, diese Einsamkeit zu mildern. Ich habe lediglich versucht, einen Weg aufzuzeigen, nämlich die Encounter-Gruppe oder die intensive Gruppenerfahrung, in der sich offenbar die Möglichkeit bietet, wirkliche Individuen in Berührung mit anderen wirklichen Individuen zu bringen. Die Encounter-Gruppe ist meiner Ansicht nach die erfolgreichste moderne Erfindung, um mit dem Gefühl der Unpersönlichkeit, der Entfremdung und der Isolation fertig zu werden, unter dem so viele Menschen in unserer Gesellschaft leiden. Wie die Zukunft dieser Erfindung aussehen wird, weiß ich nicht. Vielleicht gerät sie in die Hände von Ideologen oder Manipulatoren. Vielleicht tritt auch etwas an ihre Stelle, das noch wirksamer ist. Im Augenblick ist sie jedenfalls das beste mir bekannte Instrument zur Heilung von der Einsamkeit, die viele Menschen beherrscht, und sie gibt Anlaß zu der Hoffnung, daß Einsamkeit nicht die Grundstimmung unseres individuellen Lebens sein muß.

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