Montag, 10. Januar 2011

Encounter-Gruppen von Carl Rogers

Das Erlebnis der menschlichen Begegnung

Seit mehr als fünfunddreißig Jahren sind die Psychotherapie und die individuelle Beratung der Mittelpunkt meines Berufslebens. Aber vor nahezu fünfunddreißig Jahren erfuhr ich, welche Veränderungen der Einstellungen und des Verhaltens in einer Gruppe erreicht werden können. Seither interessiert mich dieses Phänomen. Doch erst in den letzten sieben oder acht Jahren wurde es einer der beiden wichtigsten Brennpunkte meiner Arbeit - der andere ist die unbedingte Notwendigkeit größerer Freiheit innerhalb unserer erzieherischen Institutionen.
In diesen letzten Jahren habe ich über die vielfältigen Aspekte der wachsenden Bewegung zu den Encounter-Gruppen Arbeiten geschrieben und Vorträge gehalten. Ich werde ständig gefragt, was in einer Gruppe eigentlich geschieht, wie meine Arbeit aussieht und was die ganze Bewegung impliziert.
Daher beschloß ich, meine früheren Reden und Schriften zusammen mit neuem, für diesen Zweck geschriebenem Material in einem Buch zu vereinen. Ich hoffe, daß es zu einer ernsthaften Analyse und Klärung der Differenzen hinsichtlich dieses unglaublich expandierenden Trends anregt.
Wie alle meine späteren Bücher ist auch dieses ein ausgesprochen persönliches Dokument. Es soll weder eine gelehrte Betrachtung des Gebiets noch eine tiefgründige psychologische oder soziologische Analyse der Encounter-Gruppen sein. Es wird sich nicht einmal eingehend mit Spekulationen über die Zukunft der Encounter-Gruppe befassen, da diese Bewegung meiner Ansicht nach stark genug ist, um auf ihre Weise ihre eigene Zukunft zu gestalten. Dieses Buch wurde aus lebendiger, persönlicher Erfahrung geschrieben, und die Menschen, deren Leben es beschreibt und deren Aussagen es wiedergibt, sind lebendige und kämpfende Menschen. Ich hoffe, es wird Ihnen meine Vorstellung über eine der aufregendsten Entwicklungen unserer Zeit vermitteln: die intensive Gruppenerfahrung. Und ich hoffe, es wird dazu beitragen, Sie mit dem vertraut zu machen, was eine Encounter-Gruppe ist und was sie bedeuten kann.

Ursprung und Ziel des Trends zur Gruppe

Diese Überschrift mag seltsam klingen. Es ist klar, daß es immer Gruppen gab und geben wird, solange der Mensch auf diesem Planeten lebt. Aber ich benutze das Wort in einem speziellen Sinne, und zwar meine ich die geplante, intensive Gruppenerfahrung, die meiner Ansicht nach eine der ganz großen sozialen Erfindungen dieses Jahrhunderts und vermutlich die mächtigste überhaupt ist. Diese Erfindung hat viele Namen: »T-Gruppe«, »Encounter-Gruppe«, »Sen-sitivitäts-Training« sind die bekanntesten. Manchmal werden diese Gruppen als Laboratorien für menschliche Beziehungen oder Workshops für Beratung, Erziehung oder Führung bezeichnet. Gruppen, die sich mit Rauschgiftsüchtigen befassen, heißen bisweilen Syna-nons - nach der Synanon-Organisation und ihren Methoden.
Ein Element, das dieses Phänomen einer psychologischen Untersuchung wert erscheinen läßt, ist die Tatsache, daß es völlig außerhalb des »Establishments« entstanden ist. An den meisten Universitäten wird es immer noch geringschätzig betrachtet. Bis vor zwei oder drei Jahren waren weder Stiftungen noch Regierungsstellen bereit, irgendwelche Forschungsprogramme in diesem Bereich zu unterstützen. Die etablierte klinische Psychologie und die Psychiatrie verhielten sich neutral, während die politische Rechte überzeugt ist, daß es sich bei diesem Phänomen nur um eine kommunistische Verschwörungsaktion handeln kann. Ich kenne nur wenige andere Trends, die so eindeutig die Bedürfnisse und Wünsche von Menschen statt von Institutionen ausdrücken. Diese Bewegung wuchs und gedieh trotz des kompakten gegnerischen Drucks und hat sich inzwischen in allen Teilen des Landes und in den meisten modernen Organisationen ausgebreitet. Sie hat ganz offensichtlich wichtige soziale Bedeutungen. In diesem Kapitel werde ich unter anderem einige der Gründe für ihr überraschend schnelles und spontanes Wachsen erörtern.
Diese Gruppen haben in ganz verschiedenen Umgebungen funktioniert - in der Industrie, in Kirchengemeinden, an Universitäten und Regierungsstellen, in Erziehungseinrichtungen und Besserungsanstalten. Eine erstaunliche Vielzahl von Personen hat an dieser Gruppenerfahrung teilgenommen. Es gab Gruppen für die Direktoren großer

Konzerne und Gruppen für kriminelle und gefährdete Jugendliche. Andere Gruppen bestanden aus College-Studenten und Fakultätsmitgliedern, aus Beratern und Psychotherapeuten, aus Ehepaaren und Familien mit Eltern und Kindern, aus überzeugten Rauschgiftanhängern, Sträflingen und Krankenschwestern, aus Erziehern, Schulverwaltern und Industriemanagern, aus Gesandten der Regierung und Finanzbeamten.
Die geographische Verbreitung dieser rasch expandierenden Bewegung reichte von Bethel, Maine, bis San Diego, Kalifornien, und von Seattle bis Palm Beach. Auch in einer Reihe von anderen Ländern wie England, Frankreich, Holland, Australien und Japan gab und gibt es diese Intensiv-Gruppen


Ursprung

Schon vor 1947 entwickelte Kurt Lewin, ein berühmter Psychologe am Massachusetts Institute of Technology (MIT), zusammen mit seinen Mitarbeitern und Studenten die Idee, daß die Ausbildung der Fähigkeiten zu menschlichen Beziehungen eine wichtige, aber vernachlässigte Kategorie der Erziehung in der modernen Gesellschaft ist. Die erste sogenannte T-Gruppe (T steht für Training) wurde 1947, kurz nach Lewins Tod, in Bethel, Maine, gebildet. Lewins Mitarbeiter setzten die Arbeit an diesen Trainings-Gruppen zunächst am MIT und später an der University of Michigan fort. Die Sommergruppen in Bethel wurden bald berühmt. Man gründete eine Organisation, die National Training Laboratories, mit Sitz in Washington, D. C., die sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten ständig vergrößerte. Der erste Anstoß für NTL-Gruppen kam von der Industrie und erstreckte sich auf Manager und Geschäftsführer. Diese Richtung entwickelte sich zuerst, weil sich die Industrie die Kosten solcher Gruppenerfahrung für ihr Spitzenpersonal leisten konnte.
Die Gruppen entsprachen anfänglich ihrer Bezeichnung als Trainings-Gruppen. Die Mitglieder lernten das Wesen ihrer Interaktionen mit anderen und den Gruppenprozeß beobachten, um ihr eigenes Funktionieren in einer Gruppe und bei der Arbeit besser verstehen und mit schwierigen interpersonalen Situationen leichter fertig werden zu können.
In den von NTL für die Industrie und später in vielen anderen Bereichen organisierten T-Gruppen stellte man fest, daß Individuen innerhalb der vertrauenerweckenden fürsorglichen Beziehung, die zwischen den Teilnehmern entstand, oft sehr tiefe persönliche Erfahrungen über das Wesen der Veränderung machten.
Eine andere Phase der Bewegung zur intensiven Gruppenerfahrung bahnte sich ungefähr zur gleichen Zeit an der University of Chicago an. Meine Mitarbeiter und ich befaßten uns 1946 und 1947, also kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, am Counseling Center der University of Chicago mit der Ausbildung persönlicher Berater für die Kriegsopferversorgung. Man bat uns, einen kurzen, aber intensiven Trainingskurs zu entwickeln, der diese Männer - die alle mindestens einen akademischen Grad besaßen - auf ihre Aufgabe als wirkungsvolle persönliche Berater im Umgang mit den Problemen der zurückgekehrten GIs vorbereiten sollte. Wir waren der Auffassung, daß kognitives Training sie in keiner Weise auf diese Aufgaben vorbereiten konnte, und so experimentierten wir mit einer intensiven Gruppenerfahrung. Die Trainierenden fanden sich mehrere Stunden am Tag zusammen, um sich besser verstehen zu lernen und sich der Einstellungen bewußt zu werden, die in der Beratungsbeziehung zu Fehlschlägen führen können. Sie sollten in einer Weise in Beziehung zueinander treten, die ihnen bei ihrer Beratungsarbeit nützlich sein konnte. Es war dies ein Versuch, das kognitive Lernen und das Lernen durch Erfahrung in einem Prozeß zu verbinden, der für das Individuum therapeutischen Wert hatte. Dieser Prozeß vermittelte den Gruppenmitgliedern tiefe, wichtige Erfahrungen und erwies sich in der Folge als so erfolgreich, daß wir das Verfahren auch nach der Ausbildung der persönlichen Berater in Sommer-Workshops weiter benutzten.
Wir versuchten in unserer Chikagoer Gruppe nicht, diesen Ansatz weiter auszubauen; er ist hier nur erwähnt worden, weil das Chikagoer Experiment mit der Zeit in der gesamten Bewegung der intensiven Gruppenerfahrung aufging. Die Chikagoer Gruppen waren in erster Linie auf persönliches Wachsen, auf Entwicklung sowie auf Verbesserung interpersonaler Kommunikation und Beziehungen ausgerichtet und mehr therapeutisch-empirisch orientiert als die Gruppen, die in Bethel ins Leben gerufen wurden. Im Laufe der Jahre verschmolz diese Orientierung zum persönlichen und therapeutischen Wachsen mit der Ausbildung der Fähigkeiten zu menschlichen Beziehungen (»training in human relations skills«), und beide zusammen bildeten den Kern der Bewegung, die sich inzwischen im ganzen Land rapide ausbreitet.
Der begriffliche Unterbau dieser Bewegung bestand also anfänglich aus dem Denken Lewins und der Gestaltpsychologie einerseits und der klientbezogenen Therapie andererseits. In den letzten Jahren haben viele andere Theorien und Einflüsse eine Rolle gespielt



Unterschiedliche Akzente und Formen


Mit zunehmendem Interesse an der intensiven Gruppenerfahrung und wachsender Verbreitung der Bewegung entwickelte sich eine große Vielfalt an Formen und Akzenten. Die nachstehende Aufzählung mit ihren kurzen Beschreibungen vereinfacht die Situation zweifellos, aber vielleicht gibt sie eine Vorstellung von den zahlreichen Variationen, die sich anbieten.
T-Gruppen (»training groups«). Wie bereits erwähnt, wurde in ihnen ursprünglich die Ausbildung der Fähigkeiten zu menschlichen Beziehungen in den Vordergrund gestellt, aber dieser Ansatz ist inzwischen breiter geworden.
Encounter-Gruppen (»encounter groups or basic encounter groups«). Sie betonen mehr das persönliche Wachsen sowie die Entwicklung und Verbesserung der interpersonalen Kommunikation und Beziehungen durch einen Erfahrungsprozeß.
Sensitivitäts-Trainings-Gruppen (»sensitivity training groups«). Sie können den oben beschriebenen Gruppen ähneln.
Aufgaben-bezogene Gruppen (»task-oriented groups«). Sie werden hauptsächlich in der Industrie abgehalten und konzentrieren sich auf die Aufgabe der Gruppe im interpersonalen Kontext.
Sinnesbewußtheits-Gruppen (»sensory awareness groups«) und Körperbewußtheits-Gruppen (»body awareness groups«). Wie die Bezeichnungen erkennen lassen, betonen diese Gruppen die physische Bewußtheit und den Ausdruck durch Bewegung, spontanen Tanz und ähnliches.
Kreativitäts-Workshops (»creativity Workshops«). Hier bilden der kreative Ausdruck durch verschiedene Kunstmedien, die individuelle Spontaneität und die Freiheit des Ausdrucks Mittelpunkt und Ziel.
Organisatorische Entwicklungs-Gruppen (»organizational develop-ment groups«). Ihr oberstes Ziel ist die Förderung der Führungsqualitäten einer Person.
T eam-Aufbau-Gruppen (»team building groups«). Mit ihrer Hilfe versucht man in der Industrie, besser zusammenhaltende und damit leistungsfähigere Arbeitsteams zu schaffen.
Gestalt-Gruppen (»Gestalt groups«). Sie gehen aus von einem gestalttherapeutischen Ansatz, bei dem ein erfahrener Therapeut sich von einem diagnostischen und therapeutischen Standpunkt aus jeweils auf ein Individuum einzeln konzentriert.
Synanon-Gruppen oder »Spiel« (»Synanon groups or >game«<). Entwickelt von der Synanon-Organisation bei Behandlung von Rauschgiftsüchtigen. Sie versuchen mitunter, die Abwehr der Teilnehmer gewaltsam zu brechen.
Neben den unterschiedlichen Ansätzen sollte man aber auch einige der differenzierten Gruppenformen erwähnen. Es gibt »Fremd«-Gruppen (»stranger groups«), deren Teilnehmer einander nicht kennen. Und es gibt Betriebs-Gruppen (»staff groups«) von einer Organisation, zusammengesetzt aus Personen, die im gleichen Betrieb, bei der gleichen Behörde oder in welchem Tätigkeitsbereich auch immer täglich miteinander verkehren. Daneben gibt es große Workshops oder »Labs«, in denen eine Anzahl kleiner Gruppen gleichzeitig abgehalten werden kann, wobei jede ihre eigene Kontinuität behält, während der ganze Workshop sich häufig zu irgendeinem gemeinsamen Erlebnis trifft, etwa einem Gespräch oder anderen kognitiven Sitzungen. Man findet Gruppen, in denen sich Ehepaare in der Hoffnung treffen, durch gegenseitige Hilfe die ehelichen Beziehungen verbessern zu können. Eine neuere Entwicklung ist die Familien-Gruppe, bei der sich mehrere Familien in einer Gruppe zusammenfinden; hier lernen die Eltern von ihren eigenen und anderen Kindern und umgekehrt.
Unterschiede gibt es auch in bezug auf die Zeit. Die meisten Gruppen treffen sich intensiv für ein Wochenende, eine Woche oder mehrere Wochen. In manchen Fällen finden die Gruppensitzungen ein- bis zweimal wöchentlich statt. Daneben gibt es die Marathon-Gruppen, in denen man sich für vierundzwanzig Stunden oder länger trifft »)


Generelle Merkmale


Eine einfache Beschreibung der Vielfältigkeit auf diesem Gebiet führt zwangsläufig zu der Frage, wieso man diese verschiedenen Entwicklungen als zusammengehörig betrachten soll. Gibt es irgendwelche gemeinsamen Merkmale, die diese weit voneinander abweichenden Aktivitäten und Akzente verbinden? Meiner Ansicht nach gehören sie zusammen, und alle lassen sich als Konzentration auf die intensive Gruppenerfahrung klassifizieren. Daneben haben sie alle bestimmte ähnliche äußere Merkmale. Die Gruppe ist fast immer klein (acht bis achtzehn Mitglieder), sie ist relativ unstrukturiert und sucht sich ihre eigenen Ziele und persönlichen Richtungen. Die Erfahrung schließt oft, wenn auch nicht immer, eine kognitive Energiezufuhr ein - Material, das der Gruppe dargelegt wird. In fast allen Fällen besteht die Verantwortlichkeit des Leiters in erster Linie darin, den Ausdruck von Gefühlen und Gedanken seitens der Gruppenmitglieder zu erleichtern. Der Gruppenleiter und die Gruppenmitglieder konzentrieren sich auf den Prozeß und auf die Dynamik der unmittelbaren persönlichen Interaktionen. Dies sind einige jener identifizierenden Merkmale, die ziemlich leicht zu erkennen sind.
Es gibt aber auch einige praktische Hypothesen, die von all diesen Gruppen gemeinsam vertreten und ganz unterschiedlich formuliert werden können. Hier ist eine solche Formulierung:
In einer Gruppe läßt sich ein psychologisches Klima der Sicherheit herstellen, in dem sich nach und nach die Freiheit des Ausdrucks und die Reduktion der Abwehr einstellen.
In einem solchen psychologischen Klima werden viele unmittelbare Gefühlsreaktionen eines jeden Mitglieds gegenüber den anderen und eines jeden Mitglieds gegenüber sich selbst ausgedrückt. Ein Klima gegenseitigen Vertrauens entwickelt sich aus dieser wechselseitigen, gemeinsamen Freiheit, echte positive wie negative Gefühle auszudrücken. Jedes Mitglied gelangt zu größerer Akzeptierung seines totalen emotionalen, intellektuellen und physischen Seins, so wie es ist, einschließlich seines Potentials. Für Individuen, die weniger durch Abwehr-Rigidität gehemmt sind, wird die Möglichkeit einer Veränderung der persönlichen Einstellungen und des Verhaltens weniger bedrohlich. Mit verminderter Abwehr-Rigidität können Individuen einander besser verstehen und in größerem Maße voneinander lernen. Es entwickelt sich eine Rückkoppelung (»feedback«) von einer Person zur anderen, so daß jedes Individuum erfährt, wie es den anderen erscheint und welchen Einfluß es auf interpersonale Beziehungen hat.
Diese größere Freiheit und verbesserte Kommunikation führt zu neuen Ideen, neuen Konzepten und neuen Richtungen. Innovation kann eher zu einer wünschenswerten als zu einer bedrohlichen Möglichkeit werden.
Das Lernen in der Gruppe wirkt sich nach der Gruppenerfahrung zeitweilig oder auch dauerhaft auf die Beziehungen zu Ehegatten, Kindern, Studenten, Untergebenen, Ebenbürtigen und sogar Überlegenen aus.

Diese Darstellung grundlegender Aspekte der Gruppenerfahrung trifft wahrscheinlich auf den größten Teil aller Gruppen zu, nicht jedoch auf Situationen, wie man sie in der Gestalttherapie und anderen Gruppen findet, bei denen der Leiter eine viel größere Verantwortung hat und viel mehr manipuliert.
Es sei noch erwähnt, daß der Stil des Leiters und sein eigenes Konzept des Gruppenprozesses für die Erfahrung und das Verhalten der Gruppe ausschlaggebend sind. Man hat festgestellt, daß der Prozeß in führerlosen Gruppen, wo sich mehrere Personen einfach zusammenfinden, ohne eine Person zum Gruppenleiter zu bestimmen, ähnlich der oben gegebenen Beschreibung verläuft. Daher könnte man sagen, daß Variationen dieses Prozesses häufig von Stil oder Standpunkt des Gruppenleiters abhängen


Der Gruppenprozeß..

Im nächsten Kapitel werde ich versuchen, ein etwas detaillierteres Bild vom Gruppenprozeß zu geben; hier möchte ich nur ganz kurz und allgemein auf diesen Prozeß eingehen.
Aufgrund der unstrukturierten Natur der Gruppe ist das Hauptproblem der Teilnehmer die Frage, wie sie die gemeinsame Zeit nutzen sollen - ob es nun die achtzehn Stunden eines Wochenendes oder die vierzig oder mehr Stunden einer einwöchigen Gruppe sind. Häufig sind sie zunächst ängstlich und irritiert. Erst nach und nach wird offensichtlich, daß es das Hauptziel fast aller Mitglieder ist, Mittel und Wege zu finden, um Beziehungen zu anderen Gruppenmitgliedern und zu sich selbst aufzunehmen. Je mehr sie zunächst zögernd und ängstlich ihre Gefühle und Einstellungen zueinander und zu sich selbst erforschen, desto deutlicher wird es, daß sich jeder zuerst hinter Fassaden und Masken versteckt hatte. Die wahren Gefühle und die wahren Personen zeigen sich nur ganz vorsichtig, bis der Kontrast zwischen der äußeren Schale und der inneren Person im Laufe der Stunden immer offenkundiger wird. Allmählich baut sich eine echte Kommunikation auf, und die Person, die bislang durch eine Mauer von der anderen getrennt war, kommt plötzlich mit Teilen ihrer tatsächlichen Gefühle heraus. Gewöhnlich ging sie von der Einstellung aus, daß ihre wirklichen Gefühle für die anderen Mitglieder der Gruppe nicht akzeptabel sind. Aber dann stellt sie mit Erstaunen fest, daß man sie um so mehr akzeptiert, je wirklicher sie wird. Negative Gefühle sind häufig besonders gefürchtet, da jedes Individuum davon überzeugt ist, daß sein Haß und seine eifersüchtigen Gefühle von den anderen unmöglich akzeptiert werden können. So entwickelt sich langsam ein Gefühl der Zuversicht und des Vertrauens, ein Gefühl der Wärme und der Zuneigung gegenüber den anderen Mitgliedern der Gruppe. Samstags nachmittags sagt eine Frau: »Wenn mir Freitag abend jemand gesagt hätte, daß ich heute alle Mitglieder dieser Gruppe gern habe, dann hätte ich ihn für verrückt erklärt.« Teilnehmer einer Gruppe fühlen eine Nähe und eine Intimität, die sie nicht einmal ihren engsten Freunden oder den einzelnen Familienmitgliedern gegenüber empfinden, weil sie sich in der Gruppe tiefer und vollständiger offenbart haben als gegenüber ihren eigenen Angehörigen.
In einer solchen Gruppe lernt das Individuum sich selbst und jeden anderen umfassender kennen, als dies gewöhnlich in der gesellschaftlichen oder beruflichen Beziehung möglich wäre. Es lernt die anderen Mitglieder und sein eigenes, inneres Selbst kennen, jenes Selbst, das meist hinter einer Fassade verborgen ist. Daher fällt es ihm innerhalb der Gruppe und später in alltäglichen Situationen leichter, Beziehungen zu anderen herzustellen


Wie erklärt sieb die schnelle Verbreitung?
Ich glaube, es gibt heute kaum noch eine mittlere oder größere Stadt in unserem Land, in der nicht die eine oder andere Art von Intensiv-Gruppe zu finden wäre. Es ist nahezu unglaublich, mit welcher Geschwindigkeit sich das Interesse an diesen Gruppen ausgebreitet hat. Als ich vor ungefähr einem Jahr in einer Stadt im Westen vor einem großen Kreis von Zuhörern sprechen sollte, fragte ich den Mann, der die Veranstaltung organisiert hatte, wie groß der Prozentsatz der Zuhörer mit Erfahrung in Encounter-Gruppen oder ähnlichen Gruppen seiner Meinung nach sei. Er meinte, höchstens dreißig Prozent. Nach einer kurzen Beschreibung einer solchen Gruppe und der Aufzählung verschiedener Gruppenbezeichnungen bat ich die Zuhörer, die Erfahrung mit derlei Gruppen hatten, die Hand zu heben. Von den zwölfhundert Anwesenden meldeten sich ungefähr drei Viertel. Ich bin sicher, daß es vor zehn Jahren nicht einmal fünfzig gewesen wären.
Was die schnelle Verbreitung noch erstaunlicher macht, ist die völlig unorganisierte Spontaneität, mit der die Bewegung um sich griff. Im Gegensatz zu den schrillen Stimmen der Rechten (auf die ich später zurückkomme) handelte es sich dabei nicht um eine »Verschwörung«. Ganz im Gegenteil. Keine Gruppe oder Organisation hat die Entwicklung der Encounter-Gruppen gefördert; weder irgendeine Stiftung noch die Regierung haben sie finanziert. Viele orthodoxe Psychologen und Psychiater beobachteten die Entwicklung voller Mißtrauen. Dennoch wuchs die Anzahl der Gruppen in Kirchen, Colleges und in der Industrie. Mitarbeiter unseres Center for Studies of the Person stellten kürzlich ein Sommerprogramm für die Ausbildung von Gruppenleitern zusammen, das jeweils zwei angehenden Leitern unter anderem auch die Möglichkeit bieten sollte, an mehreren aufeinanderfolgenden Wochenenden gemeinsam eine Gruppe zu leiten. Um Teilnehmer für diese Gruppen zu finden, verschickten sie eine bescheidene Anzahl von Einladungen an Adressen im Raum San Diego. Für die Gruppen wurde weder Werbung betrieben noch berichtete die Presse über diese Möglichkeit. Der einzige ungewöhnliche Anreiz an der Einladung war, daß die Teilnehmer nur für Wohnen und Essen sowie für die Anmeldung bezahlen mußten. Zusätzliche Kosten entstanden nicht, da ausdrücklich vermerkt war, daß die Führung der Gruppen von angehenden Gruppenleitern übernommen werden sollte. Ich war zunächst der Ansicht, daß sich bei so geringer Publicity kaum genügend Leute melden würden. Aber zu meinem Erstaunen meldeten sich für das erste Wochenende sechshundert und für das zweite achthundert Personen.
Wie läßt sich die schnelle Verbreitung der Gruppen erklären? Wie die offenbar gewaltige Nachfrage? Ich glaube, daß dieses Bedürfnis aus zwei Elementen erwächst. Das erste ist die zunehmende Enthuma-nisierung unserer Gesellschaft, in der der Mensch nichts zählt - in der allein seine Steuer- und Sozialversicherungsnummer wichtig sind. Diese unpersönliche Qualität bestimmt alle Institutionen in unserem
Land. Das zweite ist, daß wir wohlhabend genug sind, um uns selbst um unsere psychologischen Wünsche zu kümmern. Solange ich mir Sorgen machen muß, wie ich die nächste Miete bezahlen soll, bin ich mir meiner Einsamkeit nicht sonderlich bewußt. So ist das Interesse an Encounter-Gruppen oder anderen Gruppen in Ghettogebieten bei weitem nicht so groß wie in Teilen der Bevölkerung, die sich keine so großen Sorgen mehr um die physischen Notwendigkeiten des Alltags machen müssen.
Aber wie sieht das psychologische Bedürfnis aus, das die Leute zu den Encounter-Gruppen hinzieht? Ich glaube, es ist ein Hunger nach etwas, das der Mensch weder in seiner Arbeitswelt noch in seiner Kirche und ganz sicher nicht in seiner Schule oder auf seinem College findet. So traurig das auch sein mag - er findet es nicht einmal im modernen Familienleben. Es ist der Hunger nach engen und wirklichen Beziehungen, in denen Gefühle und Emotionen spontan, ohne Angst und Vorsicht, ausgedrückt werden können, in denen tiefe Erfahrungen - Enttäuschungen und Freuden - geteilt und neue Arten des Verhaltens gewagt und ausprobiert werden können. Kurz, der Hunger nach Beziehungen, die ihn dem Zustand näherbringen, in dem alles bekannt ist und alles akzeptiert wird und weiteres Wachsen möglich wird. Dies scheint mir das übermächtige Verlangen zu sein, das der Mensch durch seine Erfahrungen in einer Encounter-Gruppe zu stillen hofft


Angst vor der Bewegung

Alle Arten von Intensiv-Gruppen waren und sind Ziel heftiger Angriffe des rechten Flügels und reaktionärer Gruppen. Sie stellen für diese Leute eine Form der »Gehirnwäsche« und der »Denkkontrolle« dar, eine kommunistische Verschwörung und ein Komplott der Nazis. Die abgegebenen Erklärungen sind lächerlich extrem und häufig widersprüchlich. Man kann durchaus sagen, daß diese Bewegung häufig als eine der größten Gefahren bezeichnet wird, die unser Land bedrohen.
Wie bei solchen Angriffen üblich, vermischt sich in ihnen ein kleiner Teil ehrlicher Berichterstattung mit erschreckenden Schlußfolgerungen und versteckten Anspielungen. So verlas der Abgeordnete Rarick laut Kongreßbericht vom 19. Januar 1970 vor dem Kongreß eine scharfe Kritik von Ed Dieckmann jr. mit dem Titel »Sensitivität
International - ein Netzwerk zur Weltherrschaft«. Um die Technik zu illustrieren, zitiere ich einen der milderen Absätze aus diesem Artikel.

»Am 23. September 1968 sagte die damalige Präsidentin der NEA, Elizabeth D. Koontz .. .2)
>Die NEA hat für das städtische Schulproblem bereits ein vielseitiges Programm entwickelt, das unter anderem auch ein Sensitivitäts-Training für Erwachsene - Eltern wie Lehrer - einschließt^
Damit enthüllte sie das wahre Ziel: Eingliederung des gesamten Gemeinwesens in ein gigantisches Gruppensystem, genau wie in Nordvietnam, in Rußland und in China.
Es ist nicht uninteressant zu wissen, daß die gleiche Elizabeth Koontz, die erste Negerpräsidentin der NEA und ein bekanntes Mitglied des SIECUS, des berüchtigten >Sex Information & Education Council of the US< zu Beginn dieses Jahres von Präsident Nixon zur Vorsitzenden des Frauenausschusses im Arbeitsministerium ernannt wurde.
Parallel zu dieser Programmankündigung einer zwangsweisen Überzeugung oder Gehirnwäsche< - denn darum handelt es sich letzten Endes - teilte die New York University letzten Februar mit, daß sie demnächst den Magistertitel für Sensitivitäts-Training vergeben werde. Und im Mai verkündete die Redlands University in Kalifornien, daß auch sie in diesem Sommer mit ST beginne -und daß ST zum Pflichtfach erhoben werden soll!«

Hier dient ein Bona-fide-Zitat als Grundlage für völlig grundlose Behauptungen und ziemlich horrende Unterstellungen.
Ein anderer Schreiber aus dem rechten Lager, Alan Stang, stellte am 9. April 1969 in The Review of the News an seine Leser die Frage: »Werden unsere Lehrer dem >Sensitivitäts-Training< unterzogen, um sie für die diktatorische Herrschaft zu präparieren, die das Wesen des Nazismus und des Sozialismus ist?« Ein anderer Artikel, den Gary Allen in American Opinion, dem offiziellen Organ der John Birch Society, im Januar 1968 veröffentlichte, verkündet bereits in der Uberschrift: »Haß-Therapie: Sensitivitäts-Training zur organi

sierten Veränderung.« Er behauptet, daß das Sensitivitäts-Training »mittlerweile im ganzen Land von der konspirativen Linken unterstützt wird«.
Aus der Flut extremer Feststellungen der Rechten könnte man beliebig lange weiter zitieren. Es ist ganz klar, daß Sensitivitäts-Gruppen, Encounter-Gruppen und alle anderen Arten von Intensiv-Gruppen für diese Leute die schwarzen Schafe der amerikanischen Gesellschaft sind.
James Harmon kommt in einer sorgfältig dokumentierten Studie zu dem Schluß, daß sich unter den Rechten ein großer Prozentsatz autoritärer Persönlichkeiten findet3). Sie neigen zu der Annahme, daß der Mensch von Natur aus grundsätzlich böse ist. Angesichts der Übermacht der unpersönlichen Kräfte, von denen wir alle umgeben sind und die außerhalb unserer Kontrollmöglichkeiten zu stehen scheinen, suchen sie nach dem »Feind«, damit sie ihn hassen können. Dieser »Feind« war in anderen Epochen die Hexe, der Dämon, der Kommunist (man erinnere sich an Joe McCarthy), und heute sind es die Sexualerziehung, das Sensitivitäts-Training, der »nichtreligiöse Humanismus« und andere zeitgemäße Dämonen.
Meine eigene Erklärung kommt Harmons zweiter Schlußfolgerung näher. Um es mit eigenen Worten zu sagen: Encounter-Gruppen führen zu größerer persönlicher Unabhängigkeit, zu größerer Bereitschaft zu Neuerungen und zu größerer Opposition gegenüber insti-tutionaler Starrheit und Strenge. Wenn also eine Person Angst vor Veränderung in jedweder Form hat, dann hat sie ebensoviel Angst vor Encounter-Gruppen, die konstruktive Veränderungen erzeugen, wie aus den folgenden Kapiteln deutlich hervorgeht. Wer daher gegen Veränderungen ist, der wird die Intensiv-Gruppe hartnäckig oder sogar mit Gewalt bekämpfen


Schluß
Ich habe versucht, die gewaltige Entwicklung und Verbreitung der Intensiv-Gruppen in eine historische Perspektive einzuordnen und einige der gegenwärtig zu beobachtenden Formen und Akzente kurz darzulegen. Ich habe ferner versucht, die humanisierenden Elemente aufzuzeigen, die diese Gruppen charakterisieren, und eine mögliche Erklärung für das schnelle Wachsen dieser Bewegung und für die Angst zu formulieren, die sie bei jenen hervorruft, die gegen jede Veränderung sind. Vielleicht können wir jetzt dazu übergehen, jene Ereignisse etwas näher zu betrachten, die in solchen Gruppen gewöhnlich geschehen.

Der Prozeß der Encounter-Gruppe

Was geschieht eigentlich in einer Encounter-Gruppe? Diese Frage wird häufig von Leuten gestellt, die sich entweder mit dem Gedanken tragen, einer solchen Gruppe beizutreten, oder die verwirrt sind von den Berichten anderer Leute, die bereits diesbezügliche Erfahrungen gemacht haben. Diese Frage war auch für mich von großem Interesse, als ich versuchte, die offenbar aller Gruppenerfahrung gemeinsamen Elemente zu verstehen. Ich habe inzwischen zumindest eine vage Vorstellung von den Stufen oder Stadien, die eine Gruppe zu durchlaufen scheint, und möchte sie beschreiben, so gut ich kann.
Meine Formulierung ist einfach und naturalistisch. Ich bemühe mich weder um eine hochgeistige abstrakte Theorie noch um profunde Interpretationen unbewußter Motive. Ich werde nicht von der Gruppenpsyche, von Gruppenmythen, nicht einmal von Abhängigkeit und Gegenabhängigkeit sprechen. So richtig diese Interferenzen auch sein mögen, mir liegen sie nicht. Beim derzeitigen Stand unseres Wissens möchte ich lediglich die zu beobachtenden Geschehnisse beschreiben und berichten, wie sie sich meiner Erfahrung nach einander zuordnen. Dabei greife ich außer auf meine eigenen auch auf die Erfahrungen anderer zurück, mit denen ich zusammengearbeitet habe, auf Literatur zu diesem Thema, auf die schriftlichen Äußerungen zahlreicher Personen, die an solchen Gruppen teilgenommen haben, und in gewissem Umfang auch auf Tonbandprotokolle von Gruppensitzungen, mit deren Abschrift und Analyse wir erst begonnen haben.
Wenn ich die ungemein komplexen Interaktionen von zwanzig, vierzig, sechzig oder mehr intensiven Sitzungsstunden betrachte, glaube ich bestimmte Fäden zu sehen, die sich durch das ganze Muster ziehen. Diese Richtungen oder Tendenzen zeigen sich in den Gruppensitzungen teils früher, teils später, aber es gibt keine eindeutige Reihenfolge, in der die einen enden und andere einsetzen. Man stellt sich die Interaktion am besten als bunte und vielfältige Tapisserie vor, die von Gruppe zu Gruppe anders ist, aber in den meisten Fällen bestimmte eindeutig erkennbare und sich wiederholende Muster aufweist. Einige dieser gleichbleibenden Tendenzen möchte ich kurz beschreiben und anhand von Tonbandprotokollen und persönlichen Berichten illustrieren.
1.    Allgemeine Unsicherheit. Wenn der Gruppenleiter zu Beginn der Sitzungen klarstellt, daß es sich hier um eine Gruppe mit ungewöhnlicher Freiheit handelt und nicht um etwas, für das er die Verantwortung übernehmen wird, dann entsteht zumeist ein Zeitraum, in dem anfängliche Verwirrung, peinliches Schweigen, höfliche und oberflächliche Interaktion, Cocktail-Party-Unterhaltungen, Frustration und Diskontinuität vorherrschen. Die Gruppenmitglieder sehen sich der Tatsache gegenüber, daß »hier keine Struktur vorliegt, abgesehen von dem, was wir einbringen. Wir erkennen unsere Absichten nicht, wir kennen uns nicht einmal untereinander und wir sind verpflichtet, eine beträchtliche Anzahl von Stunden zusammen zu bleiben«. In dieser Situation sind Verwirrung und Enttäuschung nur natürlich. Was dem Beobachter besonders auffällt, ist die mangelnde Kontinuität des persönlichen Ausdrucks. Die Person A äußert irgendein Problem und erwartet von der Gruppe eine Reaktion. Die Person B hat ihrerseits nur auf eine Gelegenheit zum Reden gewartet und beginnt von etwas ganz anderem zu sprechen, als habe sie A gar nicht gehört. Ein Mitglied macht den ganz simplen Vorschlag: »Ich finde, wir sollten uns alle vorstellen.« Das kann zu einer vielstündigen engagierten Diskussion führen, bei der sich unterschwellige Probleme zeigen wie zum Beispiel: Wer sagt uns, was wir tun sollen? Wer ist für uns verantwortlich? Was ist der Sinn dieser Gruppe?
2.    Widerstand gegen persönlichen Ausdruck oder Exploration. In der Periode der allgemeinen Unsicherheit enthüllen einige Personen mitunter sehr persönliche Einstellungen, was außerordentlich ambivalente Reaktionen bei den anderen Gruppenmitgliedern hervorrufen negativen Einstellungen gegenüber anderen Gruppenmitgliedern oder gegenüber dem Gruppenleiter. In einer Gruppe, in der sich einige Mitglieder ziemlich ausführlich vorstellten, weigerte sich eine Frau, das gleiche zu tun, und sagte, sie zöge es vor, nicht nach ihrem äußeren Status, sondern nach dem beurteilt zu werden, was sie in der Gruppe war. Kurz danach wurde sie von einem anderen Gruppenmitglied heftig angegriffen. Der Mann warf ihr ziemlich verärgert vor, nicht mitzuarbeiten und sich aus der Gruppe herauszuhalten. Es war das erste spontane persönliche Gefühl, das in dieser Gruppe seinen Ausdruck fand.
Häufig wird der Gruppenleiter angegriffen, weil er es an der angemessenen Führung fehlen läßt. Ein Beispiel dafür liefert das Tonbandprotokoll einer der ersten Sitzungen mit einer Gruppe von Kriminellen, in der ein Mitglied den Leiter anschreit: »Wenn Sie uns nicht von Anfang an unter Kontrolle kriegen, wird man Sie fertigmachen. Sie müssen hier für Ordnung sorgen, weil Sie älter sind als wir. Das ist die Pflicht eines Lehrers. Wenn er es nicht tut, gibt es nichts als Ärger, und wir kommen zu gar nichts. (Er deutet auf zwei Jungen in der Gruppe, die sich balgen, und fährt dann fort.) Werfen Sie die beiden raus! Sie müssen einfach dafür sorgen, daß wir uns hier anständig benehmen 6)!«
Ein Erwachsener drückt seinen Ärger über Leute aus, die zuviel reden, richtet sich dabei aber an den Gruppenleiter. »Ich begreife einfach nicht, warum ihnen nicht jemand den Mund verbietet. Ich hätte Gerald längst zum Fenster hinausgeworfen. Ich hätte ihm schon lange gesagt, daß er zuviel redet und möglichst bald verschwinden soll. Ich finde, die Gruppe sollte von jemandem geleitet werden, der diese Leute einfach nicht mehr beachtet, wenn sie andere zum achtenmal unterbrechen 7).«
Warum sind negativ gefärbte Äußerungen die ersten Gefühle, die ausgedrückt werden? Darauf gibt es mehrere mögliche Antworten. Der Ausdruck negativer Gefühle ist der beste Weg, um die Freiheit und die Vertrauenswürdigkeit der Gruppe zu erproben. Ist sie wirklich ein Ort, an dem ich positiv und negativ sein und mich ausdrücken kann? Bin ich hier wirklich sicher, oder werde ich bestraft? Ein weiterer und ganz anderer Grund ist der, daß tiefe positive Gefühle viel schwieriger auszudrücken sind als negative. Wenn ich sage, ich liebe dich, dann bin ich verletzbar und kann zurückgewiesen werden. Wenn ich sage, ich hasse dich, kann man mich höchstens angreifen, und dagegen kann ich mich wiederum wehren. Was die Gründe auch immer sein mögen - die negativ gefärbten Gefühle sind in der Regel das erste »Hier und jetzt«-Material, das in einer Gruppe auftaucht.
5. Ausdruck und Erforschung von persönlich wichtigem Material. Es mag überraschend erscheinen, aber im Anschluß an solch negative Erfahrungen wie die anfängliche allgemeine Verwirrung, den Widerstand gegen persönlichen Ausdruck und den Ausdruck kritischer oder ärgerlicher Gefühle beginnt in den meisten Fällen das eine oder andere Individuum, sich signifikant vor der Gruppe zu offenbaren. Der Grund dafür liegt zweifellos in der Tatsache, daß das einzelne Gruppenmitglied inzwischen erkannt hat, daß es sich hier zum Teil um seine Gruppe handelt. Es kann dazu beitragen, aus ihr etwas zu machen. Es hat darüber hinaus erfahren, daß negative Gefühle ausgedrückt und akzeptiert oder assimiliert wurden, ohne daß dies katastrophale Folgen gehabt hätte. Es weiß, daß hier eine Freiheit existiert, auch wenn diese Freiheit nicht risikolos ist. Eine Atmosphäre des Vertrauens beginnt sich zu entwickeln. Und das Individuum geht das Wagnis ein und zeigt der Gruppe eine neue, tiefer gelegene Facette seines Selbst. Ein Mann erzählt, daß die Kommunikation zwischen ihm und seiner Frau gleich Null ist. Ein Priester berichtet von seinem angestauten Zorn über die ungerechtfertigte Behandlung durch einen seiner Vorgesetzten. Was hätte er tun sollen? Was könnte er jetzt tun? Der wissenschaftliche Leiter einer großen Forschungsabteilung findet den Mut, über seine schmerzliche Isolierung zu sprechen, und gesteht der Gruppe, daß er nie im Leben einen Freund gehabt hat. Als er ausgeredet hat, vergießt er Tränen des Selbstmitleids, die er sicher schon seit vielen Jahren zurückgehalten hat. Ein Psychiater spricht darüber, daß er sich schuldig fühlt, weil einer seiner Patienten Selbstmord begangen hat. Ein Mann Anfang vierzig berichtet von seiner absoluten Unfähigkeit, sich von seiner herrschsüchtigen Mutter zu befreien. Ein Prozeß hat begonnen, den ein Gruppenmitglied einmal als »Reise zum Mittelpunkt des Selbst« bezeichnete - häufig ein sehr schmerzhafter Prozeß.
Ein Beispiel für diese Exploration findet sich in einer auf Band protokollierten Äußerung von Sam, der Mitglied eines einwöchigen Workshops war. Jemand hatte seine Stärke erwähnt, und Sam sagte dazu:
Sam: Vielleicht bin ich mir dessen nicht bewußt, oder ich erfahre es nicht als Stärke. (Pause.) Ich glaube, als ich mit Tom sprach -am ersten Tag muß das gewesen sein —, da wurde mir zum erstenmal klar, daß ich jemandem Angst machen konnte, und das war für mich eine echte Überraschung. Eine völlig neue Erfahrung, an die ich mich erst einmal gewöhnen mußte. Ich kannte bis dahin nur das Gefühl, daß andere mir Angst machen, und deshalb war mir nie die Idee gekommen, daß auch jemand Angst vor mir haben könnte. Das hat, glaube ich, etwas damit zu tun, wie ich mich selbst empfinde.
Der Prozeß der Exploration ist nicht immer einfach, und nicht immer ist die ganze Gruppe empfänglich für derartige Selbstenthüllungen. In einer Gruppe von jugendlichen Heimbewohnern, die alle in der einen oder anderen Weise in Schwierigkeiten geraten waren, eröffnet ein Junge einen wichtigen Aspekt seiner selbst und trifft damit sofort und gleichzeitig auf Akzeptierung und scharfe Ablehnung bei den übrigen Gruppenmitgliedern.
George: Die Sache ist die, ich habe zu Hause zu viele Probleme. Ich glaube, ein paar von euch wissen, warum ich hier bin und weshalb ich verurteilt wurde. Mary: Ich nicht. Leiter: Willst du darüber reden? George: Naja - es ist irgendwie peinlich. Carol: Komm schon. So schlimm kann es nicht sein. George: Also, ich habe meine Schwester vergewaltigt. Das ist das einzige Problem, das ich zu Hause habe, und ich glaube, das habe ich bewältigt. (Ziemlich lange Pause.) Freda: Das ist ja grausam.
Mary: Jeder hat seine Schwierigkeiten, Freda. Tch meine, du weißt
doch schließlich . . .
Freda: Ja, natürlich, aber trotzdem!!!
Leiter (zu Freda): Du kennst solche Probleme, aber trotzdem erscheinen sie dir grausam.
George: Ich hab's ja gesagt. Es ist peinlich, darüber zu reden. Mary: Ja, aber es ist gut so.
George: Es tut weh, darüber zu reden, aber ich weiß, d.iß ich es tun muß, wenn ich nicht für den Rest meines Lebens mit Schuldgefühlen herumlaufen will.
Freda schließt ihn psychologisch ganz offensichtlich völlig aus, während Mary ein besonders tiefes Akzeptieren zeigt. George ist eindeutig entschlossen, das Risiko einzugehen.
6.    Der Ausdruck unmittelbarer interpersonaler Gefühle in der
Gruppe. Früher oder später beginnen die Gruppenmitglieder, jene Ge-
fühle auszudrücken, die sie anderen Gruppenmitgliedern gegenüber
im Augenblick empfinden. Diese Gefühle sind manchmal positiv, ein
anderes Mal negativ. Beispiele dafür wären: »Ich fühle mich durch
dein Schweigen bedroht.« - »Du erinnerst mich an meine Mutter, mit
der ich nie sehr gut ausgekommen bin.« - »Ich konnte dich vom er-
sten Augenblick an nicht leiden.« - »Für mich bist du in der Gruppe
wie eine frische Brise.« - »Ich mag dein Lächeln und deine Wär-
me.« - »Je mehr du redest, desto weniger mag ich dich.« Jede dieser
Einstellungen kann im zunehmenden Klima des Vertrauens erforscht
werden, was gewöhnlich auch geschieht.
7.    Die Entwicklung einer Heilungskapazität in der Gruppe. Einer der
faszinierendsten Aspekte jeder Intensiv-Gruppe besteht darin, wie
eine Anzahl von Gruppenmitgliedern eine natürliche und spontane
Fähigkeit beweist, sich mit dem Schmerz und dem Leiden anderer
hilfreich, fördernd und therapeutisch zu befassen. Ich denke dabei an
das ziemlich extreme Beispiel eines Mannes, der in einer Fabrik eine
untergeordnete Stellung innehatte und in seiner Jugend, wie er sagte,
»nicht durch Ausbildung und Erziehung verdorben worden war«. In
der ersten Zeit behandelte ihn die Gruppe eher herablassend. Aber als
die einzelnen Mitglieder tiefer in sich drangen und ihre Einstellungen
umfassender auszudrücken begannen, erwies sich dieser Mann als das
mit Abstand feinfühligste Gruppenmitglied. Er wußte intuitiv, wie
man andere versteht und akzeptiert. Er spürte Dinge, die noch nicht
ausgedrückt waren, aber dicht unter der Oberfläche lagen. Während
die anderen einem Mitglied zuhörten, das gerade sprach, merkte er,
daß ein weiteres Mitglied schweigend litt und der Hilfe bedurfte. Er
war ungemein einfühlsam. Diese therapeutische und heilende Fähig-
keit zeigt sich in den Gruppen derart häufig, daß sie meines Erach-
tens im menschlichen Leben viel verbreiteter ist, als wir annehmen.
Um sie wirksam werden zu lassen, bedarf es oft nur des Gewähren-
lassens oder einer gewissen Freiheit, die im Klima einer frei fließen-
den Gruppenerfahrung entsteht.
Ein charakteristisches Beispiel ist auch der folgende Ausschnitt aus
einer Gruppensitzung, bei der der Gruppenleiter und mehrere Gruppenmitglieder versuchen, Joe zu helfen, der über das fast vollkommene Fehlen jedweder Kommunikation mit seiner Frau berichtet hat. John versucht ihm immer wieder zu erklären, welche Gefühle seine Frau höchstwahrscheinlich hat. Marie bemüht sich, ihm zu helfen, seine eigenen Gefühle in diesem Augenblick zu entdecken. Fred zeigt ihm, welche anderen Möglichkeiten des Verhaltens sich ihm anbieten. Es geschehen natürlich keine Wunder, aber gegen Ende der Sitzung wird Joe klar, daß vermutlich nur eines helfen würde: er müßte seiner Frau gegenüber seine wahren Gefühle ausdrücken.
Joe: Ich muß richtig aufpassen, wenn ich irgendwo hingehe, wo ich Leute kenne - meine Frau fühlt sich sonst sofort ausgeschlossen und übergangen. Im letzten Jahr haben sich die Dinge zwar so weit geändert, daß ich wieder Hoffnung habe, aber eine Zeitlang hatte ich überhaupt keine. Ich weiß auch heute noch nicht, ob wir es schaffen oder nicht. (Pause.)
John: Mir kommt es immer wieder so vor, als ob sie sehr stark den Wunsch hätte, in dich zu dringen. Joe: Ja, das stimmt.
John: Ich meine nicht verletzend, ich meine
Joe: Nein. (Pause.) Aber die Frage ist, wie. Und eins ist wahr, ich
muß sie einlassen, aber ich muß auch sehr vorsichtig sein, und so
häufig bieten sich die Gelegenheiten auch nicht.
Leiter: Haben Sie das Gefühl, daß Sie hier durch Vorsicht irgend
etwas erreicht haben? (Pause.)
Joe: Ich weiß nicht. Ich glaube, hier war keiner vorsichtig, auch ich nicht.
Leiter: Stimmt. Ich glaube, Sie haben einige Risiken auf sich genommen.
Joe: Mit vorsichtig meinte ich, daß ich vorsichtig sein muß, wie ich etwas sage, damit es nicht verdreht wird.
Leiter: Wenn - also, ich glaube, ich muß direkter werden. Wenn Sie glauben, daß Ihre Frau nicht merkt, daß Sie vorsichtig sind, dann irren Sie sich. Joe: Ja, das stimmt sicher.
Leiter: Und wenn sich mir jemand nähert - und ich spüre, er bewegt sich sehr behutsam und vorsichtig, dann frage ich mich doch, was hat er mit mir vor?
Joe: Ich habe es auch schon anders versucht - das Schlimme ist -vielleicht war ich auch zu direkt. Damit fingen dann unsere Streitereien an.
Leiter: Ich finde es gut, daß Sie so viel Vertrauen zu uns haben, daß Sie überhaupt davon sprechen. Aber im Augenblick reden Sie über die Elemente, die außerhalb von Ihnen liegen.
John: Ich möchte immer noch wissen, ob du ihre Gefühle fühlen kannst.
Joe: Hm, ja - Gefühle, doch, ich spüre jetzt schon eher, was sie fühlt, und ich weiß mittlerweile auch, daß ich sie manchmal nicht verstanden und zurückgewiesen habe. Und - aber ich spüre sofort, wenn sie verärgert ist, und dann, ich weiß nicht, dann  Leiter: Wie fühlen Sie sich dann? Angenommen, Sie kommen nach Hause, und Ihre Frau sagt kein Wort, weil Sie fort waren und sie nicht weiß, was Sie alles erlebt haben, und Sie merken, daß sie ziemlich ärgerlich ist. Was empfinden Sie dann? Joe: Hm - irgendwie würde ich mich am liebsten zurückziehen. Marie: Was würdest du fühlen? Wäre es dir unbehaglich. Oder würde es dich verwirren oder vielleicht sogar ärgern? Joe: Das war früher manchmal - heute nicht mehr so sehr. Ich kann aber immer noch ziemlich ärgerlich werden, das habe ich genau beobachtet.
Marie: Gut, aber das beantwortet meine Frage nicht. Joe: Stimmt.
Marie: Ich will nicht wissen, ob du dich beherrschen kannst oder ob du deinen Ärger unterdrückst. Ich möchte wissen, was du wirklich fühlst.
Joe: Ich glaube, ich neige heute am ehesten dazu, mich zurückzuziehen und abzuwarten. Ich weiß, wenn ich den Abend überstehe, dann ist am nächsten Morgen alles anders.
Fred: Hältst du das für defensiv? Drückst du diese Abwehr dadurch aus, daß du dich zurückziehst, weil Joe: Naja, ihr gefällt es nicht.
Fred: Aber dir ist es lieber so, als in einen Streit oder in irgendeine Auseinandersetzung verwickelt zu werden.
Joe: Ja - und das einzige, was helfen könnte, wäre - wenn ich das Gefühl einfach ausdrücken würde. Ich weiß ja heute ganz genau, wann sie verärgert ist - ich wußte nur nie, was ich tun sollte. Aber jetzt wird das hoffentlich ganz anders.
Ganz deutlich versuchen die verschiedenen Gruppenmitglieder, Joe auf ihre Weise zu helfen, einen Weg zu finden, um mit seiner Frau auf realere und konstruktivere Weise auszukommen.
8. Selbst-Akzeptierung und beginnende Veränderung. Viele Leute glauben, daß Selbst-Akzeptierung einer Veränderung im Wege stehen müsse. In Wirklichkeit ist sie aber bei diesen Gruppen wie in der Psychotherapie der Beginn einer Veränderung.
Einige Beispiele für die Arten von ausgedrückten Einstellungen wären: »Ich bin eine dominierende Person, die andere gern beherrscht. Ich will andere in eine bestimmte Form zwingen.« - »Ich habe in mir einen verletzten und überlasteten kleinen Jungen, der sich selbst sehr leid tut. Ich bin dieser kleine Junge, auch wenn ich als ein fähiger und verantwortungsvoller Manager gelte.«
Ich erinnere mich an einen Regierungsbeamten, einen Mann mit hoher Verantwortung und hervorragender Ausbildung. Bei der ersten Gruppensitzung beeindruckte er mich und vermutlich auch die anderen durch sein kaltes, etwas verbittertes und zynisches Wesen. Als er erzählte, wie er seine Abteilung leitet, hatte man den Eindruck, daß er das genau nach Vorschrift tat, ohne jede Wärme oder menschliche Regung. In einer der ersten Sitzungen sprach er über seine Frau, und ein anderes Gruppenmitglied fragte ihn: »Lieben Sie Ihre Frau?« Er schwieg lange, und der Fragesteller sagte: »Danke, das ist Antwort genug.« Der Beamte sagte: »Nein, warten Sie! Ich habe nicht geantwortet, weil ich mir überlegte, ob ich überhaupt jemals einen Menschen geliebt habe. Und ich glaube, ich habe wirklich noch nie jemanden geliebt.« Uns allen war klar, daß er sich in diesem Augenblick als lieblos und kalt akzeptierte.
Ein paar Tage später hörte er mit großer Aufmerksamkeit zu, als ein Mitglied der Gruppe tiefe persönliche Gefühle der Einsamkeit, der Isolation und des Schmerzes ausdrückte und erläuterte, in welchem Ausmaß es hinter einer Maske, einer Fassade gelebt hatte. Am nächsten Morgen sagte der Regierungsbeamte: »Letzte Nacht habe ich lange nachgedacht über das, was Bill gesagt hat. Ich habe sogar etwas geweint. Ich kann mich gar nicht erinnern, wie lange es her ist, daß ich geweint habe. Ich habe wirklich etwas empfunden, und ich glaube, was ich empfunden habe, war Liebe.«
Es überrascht nicht, daß er sich innerhalb weniger Tage überlegte, wie er seinen heranwachsenden Sohn besser behandeln könnte, an den er bislang außerordentlich strenge und große Anforderungen gestellt hatte. Er begann auch, die Liebe seiner Frau zu ihm zu würdigen, und glaubte sogar, sie in gewissem Umfang erwidern zu können.
Ein anderer Auszug aus den Sitzungen einer Gruppe Jugendlicher zeigt eine Kombination von Selbst-Akzeptierung und Selbst-Explora-tion. Art hat über sein »Schneckenhaus« gesprochen und beginnt jetzt, sich mit dem Problem der Selbst-Akzeptierung und mit der Fassade zu befassen, die er gewöhnlich zur Schau stellt.
Art: Wenn ich in meinem Schneckenhaus bin, dann -Lois: So, wie jetzt. Art: Ja -
Susan: Bist du immer so, wenn du in deinem Schneckenhaus bist? Art: Nein, ich bin so sehr daran gewöhnt, daß es mich nicht mal mehr stört. Ich kenne mein wahres Selbst gar nicht. Ich glaube, ich habe das Schneckenhaus hier etwas weiter geöffnet. Wenn ich aus ihm heraustrete - was nur zweimal der Fall war -, dann bin ich wirklich ich selbst, glaube ich. Aber das geschieht so selten. Meist bin ich eingesperrt in meinem Schneckenhaus. Leiter: Und niemand ist bei dir in deinem Schneckenhaus? Art (weint): Niemand ist bei mir, ich bin allein. Ich ziehe alles in das Schneckenhaus, rolle es zusammen und stecke es in meine Tasche. Ich nehme das Schneckenhaus und mein wirkliches Selbst und stecke es in die Tasche, wo es sicher ist. Ich glaube, so mache ich es wirklich - ich ziehe mich in mein Schneckenhaus zurück und schalte die reale Welt einfach ab. Aber hier - hier möchte ich aus diesem Schneckenhaus heraus und - und eigentlich möchte ich es wegwerfen.
Lois: Du machst schon Fortschritte. Zumindest kannst du darüber reden.
Leiter: Ja. Am schwierigsten wird es sein, nicht mehr in das Schneckenhaus zurückzukehren.
Art (immer noch weinend): Wenn ich weiter darüber reden könnte, dann würde ich auch herauskommen und draußen bleiben, aber ich muß  ich muß aufpassen und mich schützen. Es tut nämlich weh. Es tut wirklich weh, darüber zu reden.
Man erkennt hier sehr deutlich, daß dieses zurückgezogene Selbst als solches akzeptiert wird. Aber auch der Beginn einer Veränderung wird deutlich.
Eine  andere   Person   berichtete  kurz  nach   einer Workshop-

Erfahrung: »Ich kam mit dem Gefühl zurück, daß es gut so ist, wie ich bin, mit all meinen Stärken und Schwächen. Meine Frau sagte, ich sei jetzt viel wirklicher, viel echter.«
Dieses Gefühl größerer Wirklichkeit und Echtheit ist eine sehr verbreitete Erfahrung. Es scheint, als lerne das Individuum, sich selbst zu akzeptieren, es selbst zu sein und damit die Grundlage für eine Veränderung zu schaffen. Es steht seinen eigenen Gefühlen näher, die aus diesem Grunde nicht länger starr organisiert, sondern veränderbar sind.
Eine Frau schreibt, wie ihr Vater kurz nach der Encounter-Gruppe starb und sie eine lange und schwierige Reise zu ihrer Mutter unternahm. ».. . eine Reise, die mir endlos vorkam in meiner Verwirrung und meinem Schmerz, mit viel zuwenig Schlaf und ernsthaften Sorgen um die Zukunft meiner Mutter. In den ersten fünf Tagen, die ich bei ihr war, wollte ich einfach nur so sein, wie ich mich fühlte - ich wollte keine Betäubung, keine konventionellen Schranken zwischen mir und meinen Gefühlen, aber das war nur möglich, wenn ich die Erfahrung voll akzeptierte und mich dem Kummer und dem Schmerz hingab. Dieses Gefühl des Akzeptierens und Hingebens ist mir seither geblieben. Ich glaube, ganz offen, der Workshop hat viel mit meiner Bereitschaft zu tun, diese Erfahrung zu akzeptieren.«

9. Das Zerschlagen der Fassaden. Im weiteren Verlauf der Sitzungen ereignen sich gewöhnlich so viele Dinge gleichzeitig, daß es schwer ist, zu entscheiden, was man als erstes beschreiben soll. Es muß noch einmal betont werden, daß diese verschiedenen Elemente oder Stufen ineinander übergehen und sich überlappen. Ein wichtiges Element ist die zunehmende Abneigung gegenüber defensivem Verhalten. Die Gruppe findet es mit der Zeit unerträglich, wenn irgendein Mitglied ständig hinter einer Maske oder einer Fassade lebt. Die höflichen Worte, das gegenseitige intellektuelle Verstehen, die glatte Konzili-anz - all das, was bei Interaktionen außerhalb der Gruppe völlig ausreicht, genügt hier nicht mehr. Der Selbstausdruck einiger Gruppenmitglieder hat sehr deutlich gemacht, daß eine tiefere und grundlegendere Begegnung möglich ist, und die Gruppe scheint dieses Ziel intuitiv und unbewußt anzustreben. Sie fordert vom Individuum, manchmal liebevoll, ein andermal heftig, es selbst zu sein, seine augenblicklichen Gefühle nicht zu verbergen und die Maske des normalen gesellschaftlichen Umgangs abzulegen. In einer Gruppe war ein hochintelligenter und sehr gebildeter Mann, der bei anderen sehr

1A
viel wahrnehmen konnte, aber von sich selbst nichts preisgab. Die Einstellung der Gruppe drückte sich schließlich sehr deutlich aus, als ein Mitglied sagte: »Kommen Sie endlich hinter Ihrem Pult hervor, Doc. Hören Sie auf, Reden zu halten, und nehmen Sie Ihre Sonnenbrille ab. Wir wollen etwas über Sie hören.«
In Synanon, wo mit viel Erfolg aus Rauschgiftsüchtigen wieder Menschen und Personen gemacht werden, verläuft dieses Niederreißen von Fassaden häufig dramatisch. Ein Auszug aus einer der »Synanons« oder Gruppensitzungen macht das deutlich:

Joe (zu Gina): Ich frage mich, wann du endlich aufhörst, in den Synanons immer wieder so gut zu sein. In jeder Sitzung, in der ich dich erlebe, redest du wie ein Buch, wenn jemand eine Frage an dich richtet. Du weißt genau, was du alles falsch machst und wie dir klar wird, was du falsch gemacht hast und so weiter und so fort. Wann hörst du damit endlich auf? Welche Gefühle hast du Art gegenüber?
Gina: Ich habe nichts gegen Art.
Will: Du spinnst. Art hat geschrien und dich und Moe angebrüllt, aber dich läßt das alles völlig kalt.
Gina: Nein, ich spüre, daß er in vieler Hinsicht sehr unsicher ist,
aber das hat mit mir nichts zu tun
Joe: Du tust, als wärst du unheimlich verständnisvoll.
Gina: Man hat mir beigebracht, so zu tun, als verstünde ich alles.
Joe: Gut, aber hier bist du in einem Synanon. Man erwartet von
dir nicht, daß du so tust, als fehlte dir nichts. Oder geht es dir so
gut?
Gina: Nein.
Joe: Na also, und warum hörst du nicht auf, so zu tun, als ob 8)?

Es stimmt, wenn ich sage, daß eine Gruppe manchmal auf Fassaden oder Abwehr sehr heftig reagiert. Auf der anderen Seite kann sie aber auch einfühlsam und gütig sein. Der Mann, dem vorgeworfen worden war, er verstecke sich hinter einem Pult, fühlte sich durch diesen Angriff sehr verletzt; in der Mittagspause wirkte er sehr traurig und schien jeden Augenblick in Tränen ausbrechen zu wollen. Als die Gruppe sich wieder versammelte, spürten die Mitglieder das und behandelten ihn sehr milde, was ihm die Möglichkeit gab, uns seine tra

gische persönliche Geschichte zu erzählen, die die Ursache lür seine Abgeschlossenheit und seinen intellektuellen, akademischen Ansatz zum Leben war.
10. Das Individuum erhält feedback. Im Verlauf dieser Art von Interaktion erfährt das Individuum, wie es auf andere wirkt. Wer sich vertrauenswürdig gibt, merkt bald, daß andere seine übertriebene Freundlichkeit gar nicht schätzen. Der Beamte, der jedes seiner Worte sorgfältig abwägt, stellt vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben fest, daß man ihn als langweilig empfindet. Die Frau mit dem übertriebenen Bedürfnis, anderen zu helfen, erfährt sehr direkt, daß einige Gruppenmitglieder sie nicht als Mutter haben möchten. Diese Erfahrungen können sehr beunruhigend sein, aber solange sie in einer Atmosphäre des Vertrauens gemacht werden, sind sie sehr konstruktiv.
Ein Beispiel für dieses feedback findet sich im Tonbandprotokoll einer Gruppensitzung, in der vorgeschlagen worden war, daß die Mitglieder einander als lebendige oder leblose Objekte beschreiben.
John (zu Alma): Wenn wir schon reden, dann kann ich dir ja auch was sagen. Du erinnerst mich nämlich an einen Schmetterling. (Lachen.)
Alma: Wieso? Ich meine, warum gerade an einen Schmetterling? John: Naja, ein Schmetterling ist für mich etwas Merkwürdiges. Man kann ihm ziemlich nahe kommen, aber wenn man kurz davor ist und ihn vielleicht anfassen oder näher zu sich bringen und anschauen möchte, dann fliegt er fort. Alma (lacht nervös).
John: Dann ist er fort. Und wenn man ihn nicht jagt und ermüdet, bis er nicht mehr fliegen kann - oder ihm beibringt, einem zu vertrauen -, dann kommt man ihm nie so nahe, daß man ihn berühren oder etwas Wirkliches über ihn erfahren könnte, außer aus der Ferne. Das ist es, was mich bei dir an einen Schmetterling erinnert. Man kommt dir nie so nahe, daß man das sehen könnte, was an dir zu sehen vielleicht sehr schön wäre.
In der gewöhnlichen gesellschaftlichen Interaktion kommt es vermutlich nur äußerst selten dazu, daß einer Frau gesagt wird, sie habe Angst vor jeder näheren Beziehung.
Feedback kann bisweilen sehr warm und positiv sein, wie der folgende Auszug zeigt.
Leo (sehr leise und zärtlich): Es hat mich richtig getroffen, seit sie über ihr nächtliches Aufwachen gesprochen hat - wie feinfühlig und empfindlich sie ist. (Wendet sich an Mary.) Und irgendwie spüre ich - wenn ich dich nur ansehe oder dir in die Augen blik-ke -, daß es fast wie eine zärtliche Berührung ist, und mit dieser Berührung kannst du vieles von dem sagen, was du fühlst. Fred: Leo, du hast recht, als du eben sagtest, wie feinfühlig und empfindsam sie ist, da dachte ich, mein Gott, ja. Sieh dir nur ihre Augen an. Leo: M-hm.

Ein wesentlich ausführlicheres Beispiel für negatives wie positives Feedback ist dem Tagebuch eines jungen Mannes entnommen, der sich von allen ungeliebt fühlte. Er hatte der Gruppe erklärt, daß er keinerlei Gefühle für sie habe und spüre, daß auch sie nichts für ihn empfinde.

» Dann verlor eines der Mädchen die Geduld mit mir und sagte, sie könne mir nichts mehr geben. Sie sagte, ich käme ihr vor wie ein Faß ohne Boden, und sie frage sich, wie oft man mir noch sagen müsse, daß man mich gern habe. Ich geriet in eine Art Panik und dachte: >Mein Gott, kann es wahr sein, daß ich nie zufrieden sein werde und dazu verdammt bin, die Leute mit meinem Wunsch, beachtet zu werden, so lange nerve, bis ich sie fortgetrieben habe?< Ich war sehr beunruhigt. Da meldete sich eine Nonne aus der Gruppe zu Wort. Sie sagte, ich hätte sie mit den negativen Äußerungen ihr gegenüber nicht befremdet. Sie sagte, sie habe mich gern und verstünde nicht, wieso ich das nicht merke. Sie sagte, sie mache sich Sorgen um mich und wolle mir helfen. Danach kam mir etwas zu Bewußtsein, was ich ungefähr so ausdrückte: >Sie meinen, Sie sitzen da und empfinden für mich das, was ich möchte, daß sie es für mich empfinden, und ich sperre mich irgendwo im Innern dagegen, daß es mich berührt?< Ich wurde beträchtlich ruhiger und begann mich zu fragen, warum ich mich eigentlich gegen die Zuneigung der anderen gesperrt hatte. Ich fand darauf keine Antwort, und dann sagte eine Frau: >Mir scheint, du versuchst ständig, so tief in deinen Gefühlen steckenzubleiben wie heute nachmittag. Ich fände es besser, du würdest dir Zeit lassen und alles erst einmal aufnehmen. Vielleicht ruhst du dich zunächst besser aus, dann kannst du auch natürlicher zu deinen Gefühlen zurückkehren^
Dieser Vorschlag wirkte. Ich sah ein, was sie meinte, und wurde sofort ganz ruhig. Irgendwie war mir, als zöge in meinem Inneren so etwas wie ein herrlicher warmer Sonnentag herauf. Aber nicht nur der Druck war von mir genommen, ich spürte auch zum ersten Mal, daß man mir freundliche Gefühle entgegenbrachte. Es ist schwierig zu sagen, warum ich nur dieses eine Mal spürte, daß man mich mochte, aber im Gegensatz zu früheren Sitzungen glaubte ich wirklich, daß die anderen mich gern hatten. Ich habe nie ganz begriffen, warum ich mich so lange dagegen gesperrt hatte, aber an diesem Punkt begann ich fast von einem Augenblick auf den anderen daran zu glauben, daß sie mich mochten. Wie groß die Veränderung war, geht aus dem hervor, was ich als nächstes sagte. Ich sagte: >Ich bin jetzt zufrieden, und ich bin jetzt auch bereit, einem anderen zuzuhören.< Das war mein Ernst 9).«
11. Konfrontation. Manchmal ist der Terminus Feedback zu milde, um deutlich zu machen, welche Art von Interaktion stattfindet. Es ist dann besser, man sagt, daß ein Individuum ein anderes direkt konfrontiert. Diese Konfrontationen können positiv sein, aber häufig sind sie negativ, wie das folgende Beispiel zeigt. In einer der letzten Gruppensitzungen hatte Alice John gegenüber, der im religiösen Bereich tätig war, einige verächtliche und fast gemeine Bemerkungen gemacht. Am nächsten Morgen meldet sich die sonst sehr stille Norma zu Wort.

Norma (seufzt laut): Also, ich habe überhaupt keine Achtung vor dir, Alice. Nicht die geringste. (Pause.) Mir gehen hundert Dinge durch den Kopf, die ich dir sagen möchte, und ich hoffe, daß ich sie alle loswerden kann. Zunächst einmal - wenn du von uns respektiert werden willst, warum konntest du gestern abend Johns Gefühle nicht respektieren? Warum mußtest du ihn heute schon wieder angreifen? Hm? Konntest du gestern abend nicht akzeptieren oder in irgendeiner Weise begreifen, daß er sich nicht würdig fühlt, Gott zu dienen? Konntest du das nicht akzeptieren, oder mußtest du heute schon wieder damit anfangen, weil du noch mehr finden wolltest? Hm? Ich persönlich glaube nicht, daß John irgendwelche Probleme hat, die dich auch nur im mindesten etwas angehen! Keine Frau, die ich kenne, hätte sich so benommen, wie du es in der letzten Woche getan hast, und keine hätte gesagt, was du gestern gesagt hast. Das war einfach gemein! Ich hätte dich am liebsten geohrfeigt!!! Ich zittere heute noch vor Wut auf dich - ich bin so wütend, daß ich dich verprügeln könnte! Ich möchte dir so auf den Mund schlagen, daß du . .. und dabei bist du einige Jahre älter als ich, und ich habe Respekt vor dem Alter, ich achte Leute, die älter sind als ich, aber dich respektiere ich nicht, Alice. Überhaupt nicht! (Verwirrtes Schweigen.)

Es wird den Leser vielleicht beruhigen zu wissen, daß diese beiden Frauen sich gegen Ende der Sitzung weitaus besser verstanden und einander fast akzeptierten. Aber das war eine Konfrontation!
12. Die helfende Beziehung außerhalb der Gruppensitzungen. Keine Darstellung eines Gruppenprozesses ist meiner Meinung nach vollständig, ohne die vielfältigen Möglichkeiten zu erwähnen, wie Gruppenmitglieder einander helfen. Einer der erregenden Aspekte jeder Gruppenerfahrung ist die Tatsache, daß die einzelnen Mitglieder einander helfen, wenn einer Mühe hat, sich selbst auszudrücken, oder sich mit einem persönlichen Problem herumschlägt oder aufgrund einer schmerzhaften neuen Entdeckung in bezug auf sich selbst leidet. Das kann innerhalb der Gruppensitzungen geschehen, wie früher bereits erwähnt wurde, aber noch wesentlich häufiger geschieht es bei Kontakten außerhalb der Gruppe. Wenn ich sehe, wie zwei Leute zusammen Spazierengehen oder sich in einer Ecke sitzend miteinander unterhalten, oder wenn ich erfahre, daß sie bis drei Uhr morgens aufgeblieben sind, dann weiß ich, daß ich aller Wahrscheinlichkeit nach in einer der nächsten Gruppensitzungen erfahren werde, daß die eine Person Kraft und Hilfe von der anderen bekommen und die zweite Person der ersten ihr Verständnis, ihre Hilfe, ihre Erfahrung - mit einem Wort: sich selbst - zur Verfügung gestellt hat. Viele Menschen besitzen eine unglaubliche Begabung, zu helfen und zu heilen, sobald sie sich dazu frei genug fühlen, und die Erfahrungen einer Encounter-Gruppe scheinen den Menschen diese Freiheit zu geben.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel für die heilende Wirkung der Einstellungen von Gruppenmitgliedern außerhalb wie innerhalb von Gruppensitzungen geben. Es ist einem Brief entnommen, den ein Mitglied eines Workshops der Gruppe einen Monat später schrieb. Der junge Mann berichtet von den Schwierigkeiten und den deprimierenden Umständen, denen er im Laufe dieses Monats ausgesetzt war. Er fügte hinzu:
»Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß meine Erfahrungen mit euch eine tiefe Wirkung auf mich gehabt haben. Ich bin dafür sehr dankbar. Das war etwas ganz anderes als eine Einzeltherapie. Keiner von euch mußte sich um mich kümmern. Keiner von euch erzählte mir, was mir seiner Meinung nach helfen würde. Keiner von euch sagte mir, daß ich euch geholfen habe. Dennoch habt ihr mir geholfen, und das Ergebnis ist, daß meine Erlebnisse mit euch von größerer Bedeutung für mich sind als alles andere, was ich bislang erlebt habe. Wenn ich das Bedürfnis verspüre, mich zurückzuhalten und - aus welchen Gründen auch immer - nicht spontan zu reagieren, dann erinnere ich mich, daß zwölf Menschen, die kaum anders waren als die Menschen, die ich jetzt vor mir habe, mir sagten: Komm, entspanne dich, sei du selbst. Und dafür liebten sie mich sogar noch, was kaum zu glauben ist. Das hat mir seither häufig den Mut gegeben, aus mir herauszutreten, und oft scheint es mir, als würde ich dadurch anderen helfen, eine ähnliche Freiheit zu erleben.«
13. Die grundlegende Begegnung. Kennzeichnend für einige der Trends, die ich hier beschrieben habe, ist die Tatsache, daß die Menschen viel engeren und direkteren Kontakt zueinander finden, als es im normalen Alltagsleben üblich ist. Dies ist wahrscheinlich einer der zentralsten, intensivsten und wichtigsten Aspekte der Gruppenerfahrung. Um das zu illustrieren, möchte ich ein Beispiel aus einer Workshop-Gruppe anführen. Ein Mann berichtet unter Tränen vom tragischen Verlust seines Kindes; zum erstenmal erlebt er seinen Schmerz voll und ganz, ohne seine Gefühle in irgendeiner Weise zurückzuhalten. Ein anderer Mann sagt zu ihm, ebenfalls mit Tränen in den Augen: »Ich habe noch nie zuvor wirklich physisch unter dem Schmerz eines anderen gelitten. Mit allem, was ich bin, fühle ich mit Ihnen.« Das ist eine grundlegende Begegnung gewesen.
Aus einer anderen Gruppe schreibt mir eine Mutter mit mehreren Kindern, die sich selbst als »lautes, widerborstiges und überaktives Individuum« bezeichnet. Ihre Ehe steht kurz vor dem Zusammenbruch, und für sie erschien das Leben nicht mehr lebenswert: »Ich hatte viele Gefühle unter einer dicken Zementschicht begraben, weil ich fürchtete, daß die Leute über sie lachen würden, was sich natürlich auf meine Familie und mich selbst in vielfacher Hinsicht ungeheuer negativ auswirkte. Dem Workshop sah ich mit gemischten Gefühlen, aber auch mit letzten Resten von Hoffnung entgegen. (Sie berichtet über einige Erfahrungen innerhalb der Gruppe und fügt hinzu:) Was alles mit einem Schlag änderte, war eine Geste von Ihnen. Ich hatte irgendwas darüber gesagt, daß Sie kein Mitglied der Gruppe sind und sich an Ihrer Schulter niemand ausweinen kann. Sie legten mir daraufhin einfach den Arm um die Schulter. Am Abend zuvor hatte ich in mein Tagebuch geschrieben: >Es gibt keinen Mann auf der Welt, der mich liebt !< Und an jenem Nachmittag schienen Sie so echt besorgt um mich, daß ich ganz überwältigt war. Ich fühlte mich durch Ihre Geste zum ersten Mal wirklich akzeptiert, so wie ich war, dumm und widerborstig. Das hatte ich noch nie zuvor erlebt. Sie können sich sicher vorstellen, wie dankbar und erleichtert ich war. In mein Tagebuch schrieb ich: >Ich fühlte mich tatsächlich geliebtU Ich glaube kaum, daß ich das so bald vergessen werde.«

Solche Ich-Du-Beziehungen treten in diesen Gruppensitzungen mit ziemlicher Häufigkeit auf und lösen bei den Teilnehmern fast immer Tränen aus.
Ein Mitglied, das kurz nach einem Workshop versuchte, seine Erfahrungen niederzuschreiben, spricht von der »Bindung an eine Beziehung«, die sich bei zwei Individuen entwickelt, wobei sich die beiden Personen unter Umständen zunächst gar nicht sonderlich mochten. Dieser Mann schreibt weiter: ». . . die Mitglieder der Gruppe erfuhren immer wieder das schier Unglaubliche, daß nach dem umfassenden Ausdruck negativer Gefühle gegenüber einem anderen die Beziehung wuchs und das negative Gefühl durch tiefes Akzeptieren des anderen ersetzt wurde  Es schien sich wirklich etwas zu verändern, wenn Gefühle im Kontext der Beziehung ausgedrückt und erfahren wurden. >Ich kann die Art, in der du redest, nicht ausstehend, verwandelte sich in echtes Verstehen und Mögen der Art, in der der andere redet.« Diese Erklärung umfaßt einige der komplexeren Bedeutungen des Begriffs grundlegende Begegnung.
14. Der Ausdruck positiver Gefühle. Wie im letzten Abschnitt bereits angedeutet, scheint es ein wesentlicher Teil des Gruppenprozesses zu sein, daß sich positive Gefühle und große Nähe ergeben, wenn in einer Beziehung Gefühle ausgedrückt und akzeptiert werden können. Im Verlauf der Sitzungen stellt sich daher ein zunehmendes Gefühl der Wärme und des Vertrauens ein, das nicht nur auf positiven Einstellungen beruht, sondern auf dem echten Ausdruck positiver wie negativer Gefühle. Ein Gruppenmitglied faßte dies kurz nach einem Workshop in den Worten zusammen: »Ich glaube, das hat etwas mit dem zu tun, was ich Bestätigung nenne - eine Art Bestätigung meiner selbst, der Einmaligkeit des Menschen - eine Bestätigung, daß etwas Positives entsteht, wenn wir menschlich zueinander sein können.«
Ein besonders eindeutiger Ausdruck dieser positiven Einstellungen zeigte sich in der Gruppe, in der Norma Alice mit ihren zornigen Gefühlen konfrontierte. Die Gruppenleiterin Joan war zutiefst verstört und begann zu weinen. Die positiven und heilenden Einstellungen der Gruppe in bezug auf ihren Leiter sind ein ungewöhnliches Beispiel für die Nähe der Beziehungen.
Joan (weinend): Ich habe irgendwie das Gefühl, daß es für mich so verdammt einfach ist, mich in eine andere Person zu versetzen, und ich glaube, ich spüre das alles, bei John, bei Alice, und bei dir, Norma.
Alice: Und wer leidet, bist du.
Joan: Vielleicht nehme ich einiges von diesem Leiden in mich auf. Ja, ich glaube, das ist es. (Weint.)
Alice: Das ist eine wunderbare Gabe. Ich wollte, ich besäße sie auch.
Joan: Du besitzt davon sehr viel.
Peter: In einer Weise trägst du - ich glaube, weil du die Leiterin bist, trägst du wahrscheinlich eine besonders schwere Last - für uns alle  Wir versuchen uns gegenseitig zu akzeptieren, so wie wir sind - und ich glaube, jeder von uns sagt auf seine Weise, bitte, akzeptiert mich. Ich möchte das hier lassen, und  Norma: Und dann tun wir es nicht.
Peter: Und jetzt laden wir dir diese Last auf, vielleicht - und mit deinen Gefühlen kann es eine besonders schwere Last sein, wenn Leute dich bitten, sie zu akzeptieren. Meinst du, das könnte es sein?
Joan (immer noch weinend): Ich will wirklich nicht den Leuten die Schuld geben; ich glaube, das ist - das ist mein Problem, wirklich -, daß ich diese Last, oder was es auch sein mag, auf mich nehme. Ich meine, ich würde das genauso gut tun, wenn ich nicht Leiterin der Gruppe wäre - ich glaube nicht, daß es an der Rolle liegt.
Peter: Nein, nein, sicher nicht. Norma: Ganz bestimmt nicht.
George: Ich glaube nicht, daß es das ist, was die Leute dir aufladen. Ich glaube viel eher, daß es deine unwahrscheinliche Sensiti-vität ist - das, was du davon in die Gruppe einbringst -, und dann trägst du die Last, ich glaube, du bedeutest mir jetzt sehr viel mehr als zuvor. Manchmal wunderte ich mich über dich und fragte mich, ob wir für dich Menschen sind oder Klienten. Ich glaube, ich habe diese Woche allerdings einmal gesagt, daß ich das Gefühl habe, du würdest uns das Skelett im Schrank zeigen, wenn es jemals erforderlich wäre oder wenn du es für notwendig hieltest. Du bist eben in allen Dingen sehr ehrlich. Und ich finde, das zeigt auch, daß du -ich meine, eben hast du es bewiesen; eben hast du uns die andere Seite von dir gezeigt, die wir die ganze Woche über nie zu sehen bekamen. Es tut mir leid, daß ich so bin - daß ich dir nicht helfen kann, damit es dir besser geht.

Mancher wird seine Zweifel äußern angesichts einer Gruppenleiterin, die so empfindlich ist, daß sie aufgrund der Spannungen innerhalb der Gruppe, die sie in sich aufgenommen hat, in Tränen ausbricht. Für mich ist dies jedoch lediglich ein weiterer Beweis dafür, daß die Menschen, wenn sie ehrlich und aufrichtig in ihren Beziehungen zueinander sind, eine erstaunliche Fähigkeit besitzen, einen anderen Menschen mit echter und verstehender Liebe zu heilen, gleichgültig, ob diese Person ein Gruppenmitglied oder die Leiterin einer Gruppe ist.

15. Das Verhalten ändert sich in der Gruppe. Aus vielfältigen Beobachtungen läßt sich schließen, daß sich das Verhalten innerhalb der Gruppe selbst häufig ändert. Auch Gesten ändern sich. Und die Stimmen werden manchmal lauter, manchmal sanfter, meist aber spontaner, weniger gekünstelt und gefühlvoller. Überhaupt zeigen die Mitglieder ein erstaunliches Maß an Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft gegenüber dem anderen.
Unser Hauptinteresse gilt jedoch den Veränderungen des Verhaltens, die im Anschluß an die Gruppenerfahrung auftreten. Diese Tatsache ist noch längst nicht umfassend genug erforscht worden. Ein
Gruppenmitglied zählt die Veränderungen auf, die es bei sich selbst im Anschluß an eine Gruppenerfahrung festgestellt hat. Diese Aufzählung mag manchem etwas übertrieben erscheinen, aber ähnliche Veränderungen haben auch andere ehemalige Gruppenmitglieder bei sich festgestellt. Der junge Mann schreibt: »Ich bin offener, spontaner. Ich drücke mich leichter und freier aus. Ich bin mitfühlender, einfühlender und toleranter geworden. Ich habe mehr Vertrauen. Ich bin auf meine Weise religiöser geworden. Meine Beziehungen zu meiner Familie, meinen Freunden und Mitarbeitern sind ehrlicher, und ich drücke meine Zuneigung und Abneigung und meine wirklichen Gefühle offener aus. Ich gebe schneller zu, daß ich etwas nicht weiß. Ich bin fröhlicher. Ich habe häufiger den Wunsch, anderen zu helfen.«
Ein anderes Gruppenmitglied sagt: »Seit meiner Erfahrung mit dem Workshop habe ich eine neue Beziehung zu meinen Eltern gefunden. Es war nicht leicht, aber ich kann jetzt freier mit ihnen reden, besonders mit meinem Vater. Meiner Mutter komme ich langsam näher, als ich es in den letzten fünf Jahren je gewesen bin.« Ein Mann erzählt: »Die Gruppenerfahrung hat meine Gefühle in bezug auf meine Arbeit geklärt und mich ehrlicher und fröhlicher im Umgang mit meinen Mitarbeitern werden lassen. Sie hat meine Beziehung zu meiner Frau offener und tiefer gemacht. Wir fühlen uns seither freier und reden über alles im Vertrauen darauf, daß wir mit allem, was wir bereden, auch fertig werden können.«
Manchmal sind die festgestellten Veränderungen sehr subtil. »Die wichtigste Veränderung ist die positivere Einstellung zu meiner Fähigkeit, andere anzuhören und auf den >stummen Schrei< eines anderen einzugehen.«
Auf die Gefahr hin, daß das Ergebnis manchem Leser allzu positiv erscheinen mag, möchte ich noch hinzufügen, was eine Mutter kurz nach einem Workshop schrieb. »Die direkte Auswirkung auf meine Kinder war für mich und meinen Mann besonders interessant. Ich glaube, die Tatsache, daß eine Gruppe von lauter Fremden mich so akzeptiert und geliebt hat, war für mich derart stärkend, daß sich bei meiner Rückkehr nach Hause meine Liebe zu den Menschen, die mir am nächsten stehen, viel spontaner zeigte. Die Erfahrung, akzeptiert und geliebt zu werden und selbst zu lieben und zu akzeptieren, wirkte sich auch auf die Beziehungen zu meinen engeren Freunden aus.«
In einem späteren Kapitel werde ich versuchen, die verschiedenen
Arten von positiven wie negativen Veränderungen des Verhaltens zusammenzufassen

Fehlschläge, Nachteile, Gefahren

Bis hierher könnte man meinen, daß jeder Aspekt des Gruppenprozesses positiv sei. Soweit es sich beurteilen läßt, scheint der Prozeß für die Mehrheit der Teilnehmer fast immer ein positiver zu sein. Dennoch kommt es zu Fehlschlägen. Lassen Sie mich deshalb kurz einige der negativen Aspekte des Gruppenprozesses beschreiben, wie sie bisweilen auftreten.
Der offensichtlichste Mangel der intensiven Gruppenerfahrung liegt darin, daß die erreichten Veränderungen des Verhaltens häufig nicht von Dauer sind. Das wird von den Teilnehmern oft selbst erkannt. Einer schreibt: »Ich wollte, ich wäre imstande, die >Offen-heit< beizubehalten, mit der ich die Gruppe verließ.« Ein anderer sagt: »Ich habe in dem Workshop sehr viel Wärme, Liebe und Akzeptierung erfahren. Aber es fällt mir schwer, dies alles mit Leuten außerhalb des Workshops in der gleichen Weise zu teilen. Ich finde es einfacher, in meine alte unemotionale Rolle zurückzufallen, statt die Arbeit zu leisten, die für offene Beziehungen notwendig ist.«
Manchmal erleben Gruppenmitglieder dieses »Rückfall«-Phänomen mit Gelassenheit. »Die Gruppenerfahrung ist keine Lebensweise, sondern eine Orientierungshilfe. Meine Vorstellungen von unserer Gruppe geben mir - obwohl ich mir über manche ihrer Bedeutungen nicht klar bin - eine angenehme und nützliche Perspektive in bezug auf meine Alltagsroutine. Sie sind wie ein Berg, den ich erstiegen habe und zu dem ich hoffentlich bei Gelegenheit zurückkehren möchte.« Ich werde auf dieses Rückfall-Phänomen in dem Kapitel über Forschungsergebnisse noch einmal zurückkommen.
Ein zweites Risiko der intensiven Gruppenerfahrung, das in öffentlichen Diskussionen besonders häufig herangezogen wird, liegt darin, daß ein Individuum in der Gruppe vielleicht sehr viel von sich preisgibt, dann aber mit Problemen allein gelassen wird, die nicht aufgearbeitet wurden. Es gibt viele Berichte von Leuten, die im Anschluß an eine Intensiv-Gruppe glaubten, zu einem Therapeuten gehen zu müssen, um die Gefühle durchzuarbeiten, die in der Gruppe zutage getreten, aber ungeklärt geblieben waren. Natürlich läßt sich ohne nähere Kenntnis der jeweiligen individuellen Situation nur schwerlich sagen, ob dies ein negatives oder ein teilweise beziehungsweise ganzlieh positives Ergebnis ist. Bisweilen, wenn auch sehr selten, erfährt man von Personen, die während oder direkt nach einer intensiven Gruppenerfahrung in eine Psychose gerieten. Andererseits ist es eine Tatsache, daß manche Individuen offenkundig psychotische Phasen im Kontext einer Encounter-Gruppe sehr konstruktiv durchlebt haben. Ich glaube, je positiver der Gruppenprozeß verläuft, desto unwahrscheinlicher ist es, daß jemand durch die Teilnahme an einer Gruppe psychische Schäden erleidet. Es ist jedoch nicht zu bestreiten, daß dies ein wichtiges Problem darstellt, über das wir noch längst nicht genug wissen.
Ein Teilnehmer eines Workshops beschreibt sehr eindringlich die Spannungen, die sich bei manchen Gruppenmitgliedern aufgrund dieser möglichen Schädigungen einstellen. »Ich erlebte in diesem Workshop einige für mich sehr kostbare Augenblicke, in denen ich mich bestimmten Personen wirklich sehr nahe fühlte. Es gab aber auch beängstigende Momente, in denen ich das Potential des Gruppenprozesses deutlich spürte und erkannte, daß es einen Menschen sehr tief verletzen oder ihm ungeheuer helfen konnte - nur wußte ich nicht, wie es enden würde.«
Die Encounter-Gruppe birgt noch eine weitere Gefahr in sich. Bis vor wenigen Jahren war es nicht üblich, daß Ehepaare gemeinsam an einem Workshop teilnahmen. Das kann zu einem echten Problem werden, wenn sich während des Workshops oder im Anschluß daran bei einem Ehegatten eindeutige Veränderungen einstellen. Ein Mann schreibt dazu: »Ich glaube, es ist für eine Ehe sehr gefährlich, wenn nur ein Ehepartner an einer Gruppe teilnimmt. Für den anderen ist es zu schwierig, mit der Gruppe zu konkurrieren.« Es ist eine der häufigsten Nachwirkungen einer intensiven Gruppenerfahrung, daß eheliche Spannungen, die bislang verdeckt worden waren, nun offen zur Diskussion stehen.
Ein weiteres Risiko, das in gemischten Workshops nicht selten neue Schwierigkeiten verursacht, liegt darin, daß sich zwischen Mitgliedern der Gruppe sehr positive, warme und liebende Gefühle entwickeln (wie deutlich aus einigen vorangegangenen Beispielen und aus späteren Kapiteln hervorgeht). Einige dieser Gefühle haben durchaus auch eine sexuelle Komponente, was für die Gruppenteilnehmer problematisch und für die zu Hause gebliebenen Ehepartner bedrohlich werden kann, wenn diese Dinge innerhalb des Workshops nicht ausreichend durchgearbeitet werden. Außerdem kann es zu einer Quelle ständiger ehelicher Schwierigkeiten werden, wenn zum Beispiel eine
Ehefrau nicht an der Gruppe teilgenommen hat, aber ihre Ängste in bezug auf den Verlust des Mannes - ob begründet oder nicht - auf die Workshop-Erfahrung überträgt, die er ohne sie gemacht hat.
Ein Mann, der an einer gemischten Gruppe teilgenommen hatte, schrieb mir ein Jahr später und erwähnte dabei die Spannungen in seiner Ehe, die sich aus seiner Bekanntschaft mit Marge, einem Mitglied seiner Gruppe, ergeben hatten. »Marge war ein Problem. Bei mir hatte sich ein sehr warmes Gefühl für Marge entwickelt, ein großes Mitleid, denn ich spürte, daß sie sehr einsam war. Ich glaube, daß sie diese Wärme in gleicher Weise erwiderte. Jedenfalls schrieb sie mir einen langen zärtlichen Brief, den ich meiner Frau zu lesen gab. Ich war stolz, daß Marge diese Gefühle für mich hegte. (Er hatte sich zuvor sehr minderwertig gefühlt.) Aber meine Frau war beunruhigt, weil sie in den Brief eine Liebesaffäre hineinlas - oder zumindest eine potentielle Gefahr. Ich hörte auf, Marge zu schreiben. Kurz darauf nahm meine Frau selbst an einer Encounter-Gruppe teil, und seither versteht sie mich. Jetzt schreibe ich Marge wieder.« Sicherlich enden nicht alle derartigen Episoden so harmonisch.
In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß in den letzten Jahren immer mehr Workshops für Ehepaare veranstaltet wurden.
Eine andere Gruppenteilnehmerin, Emma, eine geschiedene Frau mit mehreren Kindern, berichtet sehr offen, wie sie sich in einen Mann aus ihrer Gruppe verliebte.

» Schon in der ersten Woche fiel mir in der Gruppe ein Mann auf, der sich seiner Männlichkeit sehr bewußt schien, aber dennoch sehr viel Wärme und Freundlichkeit ausstrahlte. Diese Mischung zog mich sehr an, und ich erkannte, daß ein Mann wie er mir Frieden geben konnte. Gegen Ende der ersten Woche hatten wir festgestellt, daß wir viele Dinge gemeinsam hatten. Wir saßen oft unter den Pinien und sprachen miteinander. Einmal sagte er im Anschluß an eine Gruppensitzung: »Emma, ich glaube, ich sehe, daß du für deinen Mann eine Bedrohung warst, und ich glaube, daß du das gleiche für andere Männer werden könntest.< Als Antwort auf meine unausgesprochene Frage sagte er: >Du bist so verdammt sicher, daß du recht hast, wenn du zu einer Einsicht gelangst.< Meine Selbstachtung war auf den Nullpunkt gesunken. Wir brachen auf und gingen zur nächsten Gruppensitzung, und er setzte sich neben mich. Etwa fünf Minuten später drehte er sich mit Tränen in den Augen zu mir um und sagte: »Mein Gott, Emma, was ich in dir gesehen habe, ist genau das, was ich jeden Tag und in jeder Gruppensitzung bei mir selbst feststellen Auf diese Bemerkung hin verliebte ich mich in ihn mit Haut und Haaren. Er hatte ausgesprochen, daß dieses Problem bei Männern ebenso zu finden ist wie bei Frauen, und mich damit aus dem Käfig befreit, auf dem stand: >Eine Gefahr für alle Männer.<
Samstagnachmittag fuhr Allen nach Hause zu seiner Familie. Als er Sonntagabend zurückkam, hatte ich das Gefühl, daß er mich mit Augen ansah, aus denen nichts als Liebe sprach, und meine Welt war in Ordnung. Montagmorgen wachte ich schluchzend auf. Ich war ein kleines Mädchen in einem kurzen Spitzenkleid. Eine verschwommene männliche Gestalt erschien zögernd am Rande der Szene. In den nächsten drei Stunden erfuhr ich, wie es ist, von einem Vater geliebt zu werden. Interessant war, daß ich in diesen drei Stunden nie das Gefühl verlor, eine Frau zu sein, die in einen Mann verliebt ist. Irgendwie schien Allens Liebe zur rechten Zeit und am rechten Ort das Gefühl der Vaterliebe zuzulassen und damit unsere Begegnung zu erhöhen. Es tut mir leid, wenn ich mich nicht klar genug ausdrücke, aber besser kann ich es nicht. ..  Freitagmorgen war unser letzter Tag, und Allen bestand darauf, daß wir nach der Gruppe noch ein paar Minuten allein blieben. Wir setzten uns auf eine niedrige Felsmauer in die Sonne. Er fragte mich, wie die zwei Wochen für mich gewesen seien, und ich sagte darauf ungefähr dies: »Unsere Beziehung war wunderbar und zart. Seit ich dir vertraut habe, bin ich sicher, daß du den Weg finden kannst. Die Zukunft? Ich glaube nicht, daß ich mir einbilden werde, du seist mein Ehemann. Ich glaube, ich werde dich immer lieben und ehren als den Allen E., der durch seine Liebe in mir die Fähigkeit geweckt hat, eine liebenswerte und liebende Frau zu sein. Ich hoffe, daß diese Erfahrung dir bewußter gemacht hat, wie groß deine Fähigkeit ist, ein liebender Mann zu sein. Was uns in der Zukunft Kraft geben wird? Ich glaube, unser beider Wissen wird uns stärken, daß wir jeder auf seine Weise den anderen, mit denen wir leben, unseren Familien und Kollegen, helfen können werden. Ich habe das deutliche Gefühl, daß meine drei Kinder, wenn sie mein neues Ich wahrnehmen, erfahren werden, wie es ist, einen Vater zu haben.< Als ich geendet hatte, meinte Allen, der sich soviel besser ausdrücken kann als ich, mit Tränen in den Augen: >Das hast du wunderschön gesagt. Wir haben ein Leben gemeinsam gelebt.<
Seit ich zu Hause bin, fällt eine Angst nach der anderen von mir ab, und mein neues Ich beginnt in einer neuen Welt zu leben.«
Hier wurde eine tiefe und zarte Liebesbeziehung sehr reif gehandhabt. Ich bin sicher, daß diese Beziehung bei beiden Personen zu weiterem Wachsen und weiterer Entwicklung führte.
In den letzten Jahren ist deutlich geworden, daß Encounter-Gruppen noch eine weitere negative Möglichkeit in sich bergen. Personen, die an früheren Encounter-Gruppen teilgenommen haben, können auf neuere Workshops, an denen sie teilnehmen, einen unguten Einfluß ausüben. Sie haben häufig das Gefühl, die »Spielregeln« zu kennen, und versuchen offen oder unter der Hand, den Neulingen diese Regeln aufzudrängen. Statt echten Ausdruck von Gefühlen oder Spontaneität zu fördern, rufen sie Schuldgefühle bei den Mitgliedern wach, die nicht gleich imstande sind, ihre Gefühle auszudrücken, die sich weigern, Kritik oder Feindseligkeit auszusprechen, über Situationen außerhalb der Gruppe zu reden oder Angst haben, sich zu entblößen. Diese »alten Hasen«, wie ich sie manchmal nenne, versuchen meiner Ansicht nach, die alten konventionellen Restriktionen durch eine neue Art der Tyrannisierung interpersonaler Beziehungen zu ersetzen. Das ist für mich eine totale Verkehrung des wahren Gruppenprozesses. Wir müssen uns fragen, woher diese Travestie der Spontaneität kommt. Ich persönlich hege in erster Linie Zweifel an der Leitung der Gruppen, an denen diese Personen früher teilgenommen haben.

Schluß
Ich habe versucht, ein naturalistisches und anschauliches Bild von den Elementen des Prozesses zu zeichnen, die in der freiheitlichen Atmosphäre einer Encounter-Gruppe aufzutreten pflegen. Ferner habe ich auf die Nachteile und Gefahren der Gruppenerfahrung aufmerksam gemacht. Ich hoffe, es ist darüber hinaus klargeworden, daß in diesem Bereich noch ungemein viel erforscht und untersucht werden muß.

Kann ich in einer Gruppe eine fördernde Funktion haben?

Als ich das Kapitel über den Prozeß von Encounter-Gruppen beendet hatte, dachte ich, daß der nächste logische Schritt ein Kapitel über »Die Förderung und Leitung von Encounter-Gruppen wäre.« Aber irgendwie sprach mich das überhaupt nicht an, und ich ließ die Arbeit mehr als ein Jahr lang liegen. Immer wieder dachte ich an die vielen verschiedenen Arbeitsweisen von Gruppenleitern, mit denen ich zusammengearbeitet hatte oder die ich kannte. Alles, was ich über Gruppenleitung schreiben könnte, mußte durch die gebotene Kürze allein schon so homogen sein, daß jede darin enthaltene Wahrheit in gewissem Maße auch wieder eine Verfälschung wäre.
Dann dachte ich daran, das Thema einzuschränken und über »Meine Art der Gruppenleitung« zu schreiben, in der Hoffnung, auf diese Weise andere anzuregen, das gleiche zu tun. Aber in Gesprächen mit verschiedenen anderen Gruppenleitern kam ich zu dem Schluß, daß auch dies nicht das richtige Thema war, weil es immer noch nach Expertentum klang, was zu betonen nicht meine Absicht war. Ich glaube, der derzeitige Titel drückt meine eigentliche Absicht am besten aus. Ich möchte so offen wie möglich über meine Bemühungen schreiben, in einer Gruppe eine den Prozeß fördernde Person zu sein, und soweit wie möglich darlegen, wo meine Stärken, Schwächen und Unsicherheiten liegen, wenn ich versuche, mich wirkungsvoll in der Kunst der interpersonalen Beziehungen zu betätigen



Hintergrund der Philosophie und Einstellungen

Einer Gruppe tritt man nicht als eine tabula rasa bei. Deshalb möchte ich kurz mitteilen, welche Einstellungen und Überzeugungen ich mitbringe.
Ich vertraue darauf, daß eine Gruppe, sofern das Klima einigermaßen förderlich ist, ihr eigenes Potential und das ihrer Mitglieder erschließt. Für mich ist diese Fähigkeit der Gruppe etwas Ehrfurchtgebietendes. Als Folge habe ich mit der Zeit sehr großes Vertrauen in den Gruppenprozeß entwickelt, das zweifellos dem Vertrauen gleicht, das ich in bezug auf den therapeutischen Prozeß hege, wenn dieser gefördert und nicht gesteuert wird. Mir erscheint die Gruppe wie ein Organismus, der seine eigene Richtung kennt, auch wenn er sie intellektuell nicht definieren kann. Ich fühle mich immer an einen medizinischen Film erinnert, der einst tiefen Eindruck auf mich machte. Er zeigte, wie die weißen Blutkörperchen sich relativ ziellos innerhalb des Blutkreislaufs bewegten, bis ein Krankheitserreger erschien. Auf diese Bakterie bewegten sie sich in einer Weise zu, die sich nur als planmäßig bezeichnen läßt. Sie umzingelten und zerstörten sie, dann bewegten sie sich wieder so ziellos und blindlings wie zuvor. In ähnlicher Weise scheint mir eine Gruppe die ungesunden Elemente innerhalb ihres Prozesses zu erkennen, zu überwinden oder zu eliminieren und aus diesem Ablauf als eine gesündere Gruppe hervorzugehen. Diese »Weisheit des Organismus« habe ich bei Gruppen immer wieder beobachtet.
Das bedeutet aber nicht, daß alle Gruppen »erfolgreich« 10) sind oder daß der Prozeß immer der gleiche ist. Die eine Gruppe beginnt vielleicht auf einer sehr ausdrucksarmen, nichtssagenden Ebene und bewegt sich nur langsam, aber stetig auf eine größere Freiheit zu. Eine andere kann dagegen sehr spontan und ausdrucksfreudig beginnen und dennoch sehr lange brauchen, bis sie ihr Potential voll erschlossen hat. Beides scheint mir ein Teil des Gruppenprozesses zu sein, und ich vertraue jeder Gruppe im gleichen Maße, auch wenn meine persönliche Freude an der einen Gruppe größer sein kann als an der anderen.
Eine andere Einstellung hat mit Absichten zu tun. Gewöhnlich habe ich hinsichtlich einer Gruppe kein bestimmtes Ziel im Auge, sondern wünsche mir wirklich, daß sie ihre eigene Richtung findet. Es gibt jedoch Fälle, in denen ich aufgrund irgendwelcher persönlicher Vorurteile oder Ängste für eine Gruppe ein bestimmtes Ziel habe. Wenn dem so war, dann hat die Gruppe dieses Ziel entweder vereitelt oder sich so lange mit mir befaßt, bis es mir leid tat, daß ich mir überhaupt ein festes Ziel vorgenommen hatte. Ich betone die negativen Aspekte bestimmter fester Ziele, weil ich einerseits hoffe, sie zu
") Was heißt »erfolgreich«? Vorläufig möchte ich diesen Begriff nur auf die einfachste Art definieren. Wenn einen Monat nach Abschluß der Gruppe eine bestimmte Anzahl der Teilnehmer das Gefühl hat, daß es eine sinnlose, unbefriedigende oder gar schmerzliche Erfahrung war, von der sie sich immer noch erholen, dann war die Gruppe für diese Leute sicher nicht erfolgreich. Wenn andererseits die meisten oder alle Mitglieder immer noch das Gefühl haben, es sei eine lohnende Erfahrung gewesen, die sie in ihrem Wachsen irgendwie weitergebracht hat, dann verdient sie es meiner Ansicht nach, als erfolgreiche Gruppe bezeichnet zu werden.
vermeiden, andererseits aber wünsche, daß in der Gruppe irgendeine Prozeßbewegung einsetzt. Ich glaube sogar, einige der wahrscheinlichen generellen Richtungen - wenngleich nicht irgendeine spezifische Richtung - vorhersagen zu können. Für mich ist das ein wichtiger Unterschied. Die Gruppe wird sich bewegen - dessen bin ich sicher -, aber es wäre anmaßend zu glauben, ich könnte oder sollte diese Bewegung in Richtung auf ein bestimmtes Ziel lenken.
Dieser Ansatz unterscheidet sich, soweit ich sehen kann, philosophisch nicht von dem Ansatz, den ich vor Jahren im Hinblick auf die Individualtherapie übernommen habe. Ich führe das auf ein in Gruppen erfahrenes persönliches Wachsen zurück.
Normalerweise ist die Frage, wie meine Art der Gruppenleitung auf andere Personen wirkt, für mich nicht interessant. In dieser Hinsicht fühle ich mich eigentlich kompetent und zufrieden. Andererseits weiß ich aus Erfahrung, daß ich zumindest vorübergehend auf einen Gruppenleiter eifersüchtig sein kann, der die Gruppe besser fördert als ich.
Meine Hoffnung ist, daß ich mit der Zeit ebenso ein Mitglied der Gruppe wie ihr Leiter werde. Das läßt sich schwer erklären, ohne den Eindruck zu erwecken, daß ich bewußt zwei verschiedene Rollen spiele. Wenn man ein Gruppenmitglied beobachtet, das wirklich und ehrlich es selbst ist, dann wird man sehen, daß es manchmal Gefühle, Einstellungen und Gedanken zu dem Zweck ausdrückt, das Wachsen eines anderen Gruppenmitglieds zu fördern. Bei anderen Gelegenheiten wird es mit der gleichen Offenheit und Echtheit Gefühle oder Sorgen ausdrücken, um selbst wachsen zu können. Damit habe ich auch mich selbst beschrieben, abgesehen von meinem Wissen, daß ich zu der zweiten Art des Ausdrucks eher in den späteren als in den frühen Phasen einer Gruppe neige. Aber immer ist das, was ich tue, ein Teil von mir und kein Rollenspiel.
Vielleicht ist hier noch eine weitere kurze Analogie von Nutzen. Wenn ich versuche, einem Fünfjährigen irgendein wissenschaftliches Phänomen zu erklären, dann ist meine Terminologie und selbst meine Einstellung eine gänzlich andere, als wenn ich das Phänomen einem aufgeweckten Sechzehnjährigen erklären würde. Bedeutet das, daß ich zwei verschiedene Rollen spiele? Natürlich nicht - es bedeutet einfach, daß zwei verschiedene Facetten meines wirklichen Selbst ins Spiel gebracht werden. Genauso möchte ich in dem einen Augenblick einer Person gegenüber förderlich sein und im anderen das Wagnis eingehen, einen neuen Aspekt meiner selbst darzulegen.
Ich glaube, die Art, in der ich eine fördernde Funktion ausübe, ist für das Leben der Gruppe wichtig, aber viel wichtiger als meine Bemerkungen oder mein Verhalten ist der Gruppenprozeß, der stattfinden wird, wenn ich ihn nicht aufhalte. Ich fühle mich den Gruppenmitgliedern gegenüber verantwortlich, aber ich fühle mich nicht für sie verantwortlich.
In jeder Gruppe wünsche ich mir bis zu einem gewissen Grad, daß die ganze Person gegenwärtig ist, affektiv wie kognitiv. Ich habe festgestellt, daß das nicht einfach zu erreichen ist, da die meisten von uns offenbar in irgendeinem gegebenen Augenblick nur das eine oder das andere sind. Dennoch bleibt dies eine Art des Seins, die für mich einen großen Wert hat. Ich versuche selbst, in dieser Hinsicht Fortschritte zu machen und in einer Gruppe voll und ganz gegenwärtig zu sein, die ganze Person einzubringen mit Gefühlen, die von Gedanken durchdrungen, und mit Gedanken, die von Gefühlen durchdrungen sind. Aus Gründen, die ich nicht ganz begreife, ist dies vor einiger Zeit in einer Gruppe von uns allen in höchst befriedigendem Maße erreicht worden


Die das Klima bestimmende Funktion

Ich neige dazu, eine Gruppe höchst unstrukturiert zu eröffnen und allenfalls eine simple Bemerkung zu machen, etwa in der Art wie: »Ich glaube, am Ende dieser Gruppensitzungen werden wir einander wesentlich besser kennen, als wir es jetzt tun.« Oder: »So, da sind wir. Wir können aus dieser Gruppenerfahrung genau das machen, was wir machen wollen.« Oder: »Ich fühle mich nicht sonderlich wohl, aber es geht mir schon besser, wenn ich mich umsehe und feststelle, daß es allen anderen ähnlich geht. Wo wollen wir anfangen?« In einer auf Tonband protokollierten Diskussion mit einigen anderen Gruppenleitern erläuterte ich diese Auffassung folgendermaßen:

»Weil ich der Gruppe vertraue, kann ich eigentlich von Anfang an in einer Gruppe locker und entspannt sein. Das ist vielleicht etwas übertrieben, denn zu Beginn der ersten Sitzung habe ich immer ein wenig Angst, aber im großen und ganzen denke ich: >Ich habe zwar keine Ahnung, was jetzt kommt, aber was auch immer kommt, ich bin sicher, daß es das richtige ist.< Und ich teile den anderen in nichtverbaler Form mit: »Keiner von uns weiß offenbar, was geschehen wird, aber das scheint kein Grund zur Sorge zu sein.< Ich glaube, daß mein Entspanntsein und die Tatsache, daß ich nicht den Wunsch habe, zu dirigieren, auf die anderen befreiend wirkt.«
Ich höre jedem Individuum, das sich ausdrückt, so einfühlend, sorgsam und genau zu, wie ich nur kann. Gleichgültig ob das, was es sagt, oberflächlich oder bedeutsam ist, ich höre ihm zu. Für mich verdient jedes Individuum, das spricht, verstanden zu werden. Meine Kollegen sagen, daß ich die Person in diesem Sinne »bestätige«.
Es steht außer Zweifel, daß ich selektiv zuhöre, folglich »direktiv« bin, wenn man mich dessen beschuldigen will. Meine Aufmerksamkeit gilt dem Gruppenmitglied, das spricht, und zweifellos bin ich an den Einzelheiten seines Ehestreits oder an seinen Schwierigkeiten am Arbeitsplatz oder an dem, was er an den Darstellungen anderer auszusetzen hat, weit weniger interessiert als an der Bedeutung, die diese Erfahrungen jetzt für ihn haben, und an den Gefühlen, die sie in ihm wachrufen. Und auf diese Bedeutungen und Gefühle versuche ich zu reagieren.
Ich gebe mir alle Mühe, dem Individuum ein psychologisch sicheres Klima zu schaffen. Ich möchte, daß es von Anfang an das Gefühl hat: Wenn ich es riskiere, etwas sehr Persönliches oder Absurdes oder Feindseliges zu sagen, dann gibt es in diesem Kreis zumindest eine Person, die mich so weit respektiert, daß sie mir zuhört und das, was ich sage, als authentischen Ausdruck meines Selbst nimmt.
Es gibt noch einen etwas anderen Weg, auf dem ich versuche, dem Gruppenmitglied das Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Ich weiß genau, daß man die Erfahrung nicht ohne den Schmerz einer neuen Einsicht oder den Schmerz durch ehrliches Feedback von anderen machen kann. Aber ich möchte, daß das Individuum das Gefühl hat, daß ich - was immer auch in ihm oder mit ihm geschieht - psychologisch sehr stark bei ihm bin, in schmerzlichen wie in freudigen Augenblicken oder in Augenblicken, die beides zugleich sind und häufig das Wachsen anzeigen. Ich glaube, ich spüre in den meisten Fällen, wann ein Gruppenmitglied Angst hat oder verletzt ist, und in diesen Augenblicken gebe ich ihm zu verstehen, verbal oder nicht verbal, daß ich es wahrnehme und in seinem Schmerz oder seiner Angst bei ihm bin.
Das Akzeptieren der Gruppe.
Ich habe mit einer Gruppe und mit dem einzelnen Gruppenmitglied sehr viel Geduld. Wenn ich eines gelernt und in den letzten Jahren immer wieder erfahren habe, dann dies, daß es letzten Endes ungemein lohnend ist, wenn man eine Gruppe so akzeptiert, wie sie ist. Wenn eine Gruppe rationalisieren will, ganz oberflächliche Probleme diskutieren möchte oder große Angst hat vor persönlicher Kommunikation, dann geht mir das weniger »auf die Nerven« als manchen anderen Gruppenleitern. Ich weiß, daß bestimmte Übungen oder Aufgaben, die der Gruppenleiter stellt, die Gruppe praktisch zu einer besseren »Hier-und-jetzt«-Kommunikation zwingen können. Es gibt Gruppenleiter, die in diesen Dingen sehr bewandert sind und zu Zeiten große Wirkungen erzielen. Ich bin jedoch Wissenschaftler genug, um immer wieder Nachuntersuchungen anzustellen, und ich weiß, daß das anhaltende Resultat solcher Verfahrensweisen bei weitem nicht immer so befriedigend ist wie die momentane Wirkung. Das kann im besten Fall zur Jüngerschaft (die ich gar nicht schätze) und zu Aussprüchen führen wie: »Welch wunderbarer Gruppenleiter. Er hat es geschafft, daß ich mich öffne, obwohl ich das gar nicht vorhatte.« Es kann aber auch dazu führen, daß die ganze Erfahrung abgelehnt wird. »Warum habe ich all diese verrückten Sachen gemacht, zu denen er mich aufgefordert hat?« Im schlimmsten Fall kann es dazu führen, daß die Person das Gefühl hat, ihr eigenes Selbst sei in irgendeiner Weise verletzt worden. Sie wird sich in Zukunft davor hüten, dieses Selbst noch einmal in einer Gruppe zu enthüllen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß es auf längere Sicht nicht gut geht, wenn ich versuche, eine Gruppe auf eine tiefere Ebene zu drängen.
Deshalb habe ich für mich festgestellt, daß es sich lohnt, mit der Gruppe genau dort zu leben, wo sie sich befindet. Einmal arbeitete ich mit einer Gruppe sehr gehemmter Wissenschaftler - die meisten waren Naturwissenschaftler -, die ihre Gefühle nur sehr selten offen ausdrückten und bei denen es eine persönliche Begegnung auf einer tieferen Ebene einfach nicht gab. Aber auch diese Gruppe wurde viel freier, ausdrucksfreudiger und Neuerungen gegenüber aufgeschlossener. Unsere Sitzungen zeitigten viele positive Resultate.
Ähnliche Ergebnisse erbrachte meine Arbeit mit höheren Beamten aus dem Kulturbereich - sie zählen wahrscheinlich zu den starrsten, mit den bestfunktionierenden Abwehrmechanismen ausgestatteten Menschen in unserer Gesellschaft. Das heißt aber nicht, daß es immer leicht für mich ist. In einer Gruppe von Erziehern wurde sehr viel Oberflächliches geredet und sehr viel rationalisiert, aber nach und nach gelangte die Gruppe zu einer tieferen Ebene. Eines Abends wurde das Gespräch immer trivialer, bis jemand fragte: »Tun wir eigentlich das, was wir wollen?« Die Antwort war ein fast einstimmiges »Nein«. Aber wenige Augenblicke später drehte sich das Gespräch erneut um gesellschaftliche Dinge, die mich nicht interessierten. Ich war in einer schwierigen Lage. Um die anfänglich beträchtliche Angst innerhalb der Gruppe zu beschwichtigen, hatte ich in der ersten Sitzung deutlich gesagt, die Gruppe könne aus den Sitzungen machen, was sie wolle, und nun schien sie sehr laut zu sagen: »Wir wollen die teure und kostbare Zeit mit Reden über Nichtigkeiten verbringen.« Meine Langeweile und meinen Ärger auszudrücken schien mir ein Widerspruch zu der Freiheit, die ich ihnen eingeräumt hatte Nach einigen Minuten kam ich zu dem Schluß, daß sie absolut das Recht hatten, über Nichtigkeiten zu reden, während ich berechtigt war, mir das nicht anzuhören. Also stand ich auf, verließ den Raum und ging ins Bett. Die Reaktionen am nächsten Morgen waren so unterschiedlich wie die Teilnehmer. Einer fühlte sich getadelt und bestraft, ein anderer hatte das Gefühl, ich hätte sie hereingelegt, ein dritter schämte sich der Zeitverschwendung, und ein weiterer hatte sich über die nichtigen Reden genauso geärgert wie ich. Ich erklärte ihnen, daß ich versucht hatte, mich meinen widersprüchlichen Gefühlen entsprechend zu verhalten, daß sie jedoch das Recht hatten, die Sache auf ihre Weise zu sehen. Danach wurden die Interaktionen jedenfalls weitaus sinnvoller

Akzeptierung des Individuums

Ich gestehe einem Gruppenteilnehmer das Recht zu, sich der Gruppe auszusetzen oder sich ihr zu verschließen. Wenn jemand psychologisch Abstand halten will, dann hat er dazu meine unausgesprochene Erlaubnis. Die Gruppe selbst kann damit einverstanden sein oder auch nicht, ich persönlich bin bereit, seine Haltung zu akzeptieren. Ein skeptischer Verwaltungskollege sagte, er habe in der Gruppe als Wichtigstes gelernt, daß er sich der persönlichen Teilnahme enthalten
u) Hätte ich in der ersten Sitzung gesagt: »Wir können daraus machen, was wir wollen« — was vorzuziehen und wahrscheinlich ehrlicher gewesen wäre —, dann wäre es mir leichter gefallen zu sagen: »Mir paßt nicht, was wir daraus machen.« Aber ich war ganz sicher, daß ich gesagt hatte: »Ihr könnt daraus machen, was ihr wollt.« Man muß für seine Fehler immer zahlen.
könne und sich dabei wohl fühle. Ich hielt dies für eine sehr wertvolle Erfahrung, da sie ihm wahrscheinlich bei nächster Gelegenheit eine persönliche Teilnahme leichtermachen würde. Aus Berichten über sein Verhalten ein Jahr nach Beendigung der Gruppe entnahm ich, daß er durch seine scheinbare Teilnahmslosigkeit gewonnen und sich verändert hatte.
Schweigen oder völliges Verstummen eines Individuums kann ich akzeptieren, vorausgesetzt, ich weiß genau, daß es sich nicht um unausgedrückten Schmerz oder um Widerstand handelt.
Ich neige nicht dazu, die Äußerungen eines Individuums anzuzweifeln. Als Gruppenleiter (wie in meiner Funktion als Therapeut) ziehe ich es entschieden vor, für leichtgläubig gehalten zu werden. Ich glaube daran, daß ein Individuum mir eine Sache so erzählt, wie sie sich ihm darstellt. Wenn nicht, dann hat es die Freiheit, sich zu einem späteren Zeitpunkt zu korrigieren und wird es wahrscheinlich auch tun. Ich habe keine Lust, meine Zeit mit der Überlegung zu verschwenden, was es eigentlich sagen will.
Ich reagiere mehr auf gegenwärtige Gefühle als auf Feststellungen über vergangene Erfahrungen, aber ich bin bereit, mir beides anzuhören. Ich halte nicht viel von der Vorschrift: »Wir reden nur über das Hier und Jetzt.«
Ich versuche klarzumachen, daß alles, was geschieht, auf Entscheidungen der Gruppe zurückgeht, gleichgültig ob diese klar und bewußt oder unsicher und unbewußt getroffen werden. Wenn ich mit der Zeit ein Mitglied der Gruppe geworden bin, dann trage ich mein Teil an Einfluß bei, aber ich kontrolliere die Geschehnisse nicht.


Einfühlendes Verstehen

Der wichtigste Aspekt meines Verhaltens in der Gruppe ist, daß ich versuche, die genaue Bedeutung dessen zu verstehen, was ein Individuum mitteilt.
Für mich gehört es zu diesem Verstehen, daß ich mich bemühe, die Kommunikation immer wieder auf das zurückzuführen, was sie der Person bedeutet. So reagierte ich auf die sehr komplizierte und etwas unzusammenhängende Feststellung eines Mannes mit der Antwort: »Mit der Zeit haben Sie also immer mehr Dinge für sich behalten, die Sie Ihrer Frau früher mitgeteilt hätten. Stimmt das?«
»Ja.«
Ich glaube, für den Ehemann hatte diese Reaktion eine klärende Wirkung, und den Gruppenmitgliedern war es danach leichter, ihn zu verstehen; sie brauchten zu den komplizierten Einzelheiten keine Fragen mehr zu stellen und konnten auf das eigentliche Problem des Mannes eingehen.
Wenn das Gespräch allgemein wird oder die Gruppenmitglieder anfangen zu rationalisieren, dann sage ich etwa: »Es wird hier zwar nur generell darüber gesprochen, was der einzelne in bestimmten Situationen tut, aber ich glaube, jeder spricht mit dem, was er sagt, in erster Linie für sich. Stimmt das?« Oder: »Du hast gesagt, wir alle tun oder fühlen dies oder jenes. Heißt das, daß du dies oder jenes tust und fühlst?«
Zu Beginn einer bestimmten Gruppe sagte Al etwas ziemlich Wichtiges. John, ein anderes Gruppenmitglied, begann ihm wieder und wieder Fragen über das zu stellen, was er gesagt hatte, aber ich hörte daraus mehr als Fragen. Ich sagte schließlich zu John: »Gut, du versuchst dahinterzukommen, was er gesagt und gemeint hat, aber ich glaube, du versuchst auch, ihm etwas zu sagen, nur weiß ich nicht, was es ist.« John dachte kurz nach und begann dann für sich selbst zu sprechen. Bis zu diesem Augenblick hatte er offensichtlich versucht, Al dazu zu bringen, daß er seine (Johns) Gefühle formulierte, um sie nicht selbst und als von ihm selbst kommend aussprechen zu müssen. Dieses Verhalten findet man sehr häufig.
Wenn unterschiedliche Gefühle ausgedrückt werden, habe ich den sehr starken Wunsch, beide Seiten gleichermaßen zu verstehen. So sagte ich in einer Gruppe, die über die Ehe diskutierte und in der zwei Mitglieder sehr unterschiedliche Ansichten äußerten: »Ihr-beiden seid da sehr verschieden, denn du, Jerry, sagst: >Ich suche in einer Beziehung Ruhe. Ich möchte, daß alles nett und reibungslos verlauft<; und Winnie sagt: >Zum Teufel damit! Was ich will, ist Kommuni-kation.<« Das trug wesentlich dazu bei, die Unterschiede deutlicher zu machen und zu klären.


Meinen Gefühlen entsprechend handeln

Ich habe mit der Zeit gelernt, immer freier Gebrauch von meinen augenblicklichen Gefühlen zu machen, gleichgültig, ob der Gruppe als Ganzem, einem Individuum oder.mir selbst gegenüber. Ich empfinde fast immer ein echtes Interesse an jedem einzelnen Mitglied und an der Gruppe als Ganzem. Das zu erklären ist schwer. Es ist einfach eine Tatsache. Ich achte jede Person; aber diese Achtung ist keine Garantie für eine bleibende Beziehung. Sie ist ein Interesse und ein Gefühl, das hier und jetzt existiert. Ich glaube, ich empfinde das so klar, weil ich nicht sage, daß es von Dauer ist oder sein wird.
Ich glaube, ich spüre sehr deutlich, wenn sich ein Individuum zu sprechen bereit fühlt oder gegen Schmerz, Tränen oder Zorn ankämpft. Ich sage dann etwas Ähnliches wie: »Laßt uns Carlene eine Chance geben.« — Oder: »Du siehst aus, als würde dich irgendwas bedrücken. Willst du darüber reden?«
Wahrscheinlich reagiere ich besonders auf Verletztsein mit einfühlendem Verstehen. Dieses Bedürfnis, zu verstehen und der Person in ihrem Schmerz psychologisch beizustehen, geht wahrscheinlich zum Teil auf meine Erfahrung als Therapeut zurück.
Ich bemühe mich, jedes nachhaltige Gefühl, das ich einem Individuum oder der Gruppe gegenüber empfinde, auszusprechen. Das ist natürlich bei Beginn einer Gruppe noch nicht möglich, da man zu diesem Zeitpunkt noch nicht von anhaltenden Gefühlen sprechen kann. Wenn mir also das Verhalten eines Gruppenmitgliedes in der ersten Gruppensitzung mißfällt, dann würde ich dieses Mißfallen noch nicht ausdrücken. Bliebe mir dieses Gefühl jedoch auch in den nächsten Sitzungen, dann würde ich es aussprechen.
Bei einem Gespräch über diesen Punkt sagte ein Gruppenleiter: »Ich habe versucht, mich an ein elftes Gebot zu halten: >Du sollst immer sagen, wie du dich fühlst.<« Ein anderer Gesprächsteilnehmer erwiderte: »Wissen Sie, wie ich darauf reagiere? Wir sollten immer die Wahl haben. Manchmal entschließe ich mich, meine Gefühle auszudrücken; bei anderen Gelegenheiten bin ich entschlossen, es nicht zu tun.«
Ich persönlich stimme eher mit der Äußerung des zweiten Gruppenleiters überein. Wenn man sich der komplizierten Vielfältigkeit seiner Gefühle in einem bestimmten Augenblick bewußt ist - das heißt, wenn man sich selbst hinreichend zuhört -, dann kann man sich entscheiden, ob man starke und anhaltende Einstellungen ausdrückt oder nicht ausdrückt, wenn einem der Augenblick höchst unpassend erscheint.
Ich vertraue den Gefühlen, Worten und Impulsen, die in mir auftauchen. Auf diese Weise setze ich mehr ein als nur mein bewußtes Selbst; ich verlasse mich auch auf die Fähigkeiten meines Organismus. Zum Beispiel: »Ich hatte gerade die Vorstellung, du seist eine Prin-
Zessin und hättest es gern, wenn wir alle deine Untertanen wären.« Oder: »Ich spüre, daß du sowohl der Richter als auch der Angeklagte bist und unnachgiebig zu dir selbst sagst: Du bist in jedem Punkt schuldig.«
Die Intuition kann auch komplexere Formen annehmen. Während ein verantwortungsvoller Verwaltungsangestellter spricht, sehe ich vielleicht plötzlich den kleinen Jungen, den er mit sich herumträgt -den scheuen, ängstlichen kleinen Jungen, der er einmal war, den er aber zu leugnen versucht und dessen er sich schämt. Und ich wünsche mir, er würde dieses Kind lieben und umsorgen. Und dann spreche ich das aus - nicht als eine Wahrheit, sondern als etwas, das ich mir vorgestellt habe. Das führt häufig zu überraschend tiefen Einsichten und Reaktionen.
Ich möchte positive und liebende Gefühle genauso offen ausdrük-ken wie negative, enttäuschte oder ärgerliche Gefühle. Das kann unter Umständen riskant sein. In einem Fall habe ich vermutlich den Gruppenprozeß empfindlich gestört, weil ich in den ersten Sitzungen positive und warme Gefühle gegenüber einer Anzahl von Gruppenmitgliedern allzu stark ausgedrückt habe. Da mich die Gruppe immer noch als Gruppenleiter anerkannte, wurde es für andere schwieriger, ihre negativen und zornigen Gefühle auszusprechen. Dazu kam es erst in der letzten Gruppensitzung, und die ganze Erfahrung fand ein ausgesprochen unglückliches Ende.
Mir fällt es schwer, mir meiner zornigen oder ärgerlichen Gefühle schnell bewußt zu werden. Ich bedaure das; in dieser Hinsicht lerne ich aber langsam etwas dazu.
Es wäre gut, wenn man seine augenblicklichen Gefühle unbefangen ausdrücken könnte. In einer Encounter-Gruppe, in der sehr viel geschah, wurden die Gespräche auf Band aufgenommen. Erst zwei Jahre später hatte ich Gelegenheit, mir dieses Band anzuhören, und ich war erstaunt, welche Gefühle ich besonders anderen gegenüber ausgedrückt hatte. Wenn ein Mitglied dieser Gruppe mir (nach diesen zwei Jahren) gesagt hätte: »Dieses Gefühl haben Sie mir gegenüber ausgedrückt«, dann hätte ich das glatt abgestritten. Aber hier hatte ich den Beweis, daß ich als Person in einer Gruppe unbefangen, ohne jedes Wort abzuwägen oder mögliche Konsequenzen zu überlegen, die Gefühle ausgedrückt hatte, die ich im jeweiligen Augenblick empfand. Ich hielt das für sehr gut.
Ich scheine in einer Gruppe am besten zu funktionieren, wenn meine positiven oder negativen Gefühle in direkter Wechselwirkung zu denen eines Gruppenmitglieds stehen. Für mich bedeutet das Kommunikation auf einer tiefen Ebene, und bei dieser Kommunikation komme ich einer Ich-Du-Beziehung am nächsten.
Wenn ich etwas gefragt werde, versuche ich, meine eigenen Gefühle zu Rate zu ziehen. Spüre ich aber, daß die Frage wirklich eine Frage ist und keine andere Botschaft mit sich trägt, dann versuche ich sie nach bestem Wissen zu beantworten. Ich fühle mich jedoch nicht gezwungen, auf etwas zu antworten, bloß weil es als Frage formuliert wurde. In dieser Frage können andere Mitteilungen liegen, die viel wichtiger sind als die Frage selbst.
Ein Kollege erklärte mir einmal, ich würde »meine eigene Zwiebel häuten«, das heißt, ich würde Schicht für Schicht tiefer in meine Gefühle eindringen und sie ausdrücken, wenn sie mir in einer Gruppe bewußt werden. Ich kann nur hoffen, daß das stimmt.


Konfrontation und Feedback
Ich neige dazu, Individuen mit Eigenarten ihres Verhaltens zu konfrontieren. »Ich mag nicht, wie du alles ständig wiederholst. Mir scheint, du sagst eine Sache mindestens drei- oder viermal. Ich möchte viel lieber, du würdest schweigen, wenn du das, was du sagen willst, einmal gesagt hast.«
Oder ich konfrontiere eine andere Person mit meinen Gefühlen. »Heute morgen bin ich aufgewacht mit dem Gefühl: >Ich will dich nie wieder sehen.<«
Die Abwehr einer Person anzugreifen, scheint mir nicht richtig. Wenn jemand sagt: »Du versteckst deine Feindseligkeit vor uns« oder: »Du rationalisierst wahrscheinlich ständig, weil du Angst vor deinen eigenen Gefühlen hast«, dann halte ich diese Beurteilungen und Diagnosen für alles andere als förderlich. Enttäuscht mich jedoch das, was ich als die Kälte der Person wahrnehme, irritiert mich ihr Rationalisieren oder ärgert mich ihre Brutalität gegenüber einer anderen Person, dann möchte ich ihr diese Enttäuschung, diese Irritation oder diesen Ärger in mir vorhalten. Für mich ist das sehr wichtig.
Ich benutze bei der Konfrontation mit einer Person häufig ganz bestimmtes Material, das die Person zuvor mitgeteilt hat: »Jetzt sind Sie wieder der >arme kleine Bauernjunge<, wie Sie es genannt haben.« - Oder: »Jetzt scheinen Sie mir wieder genau das zu tun, was Sie vorhin beschrieben haben - Sie sind wieder das Kind, das um jeden Preis Aufmerksamkeit erregen will.«
Wenn ein Individuum durch meine Konfrontation oder durch die anderer Gruppenmitglieder getroffen zu sein scheint, dann bin ich sofort bereit, ihm zu helfen, wenn es das wünscht. »Sie sehen aus, als wäre Ihnen das im Augenblick genug. Möchten Sie, daß wir Sie jetzt in Ruhe lassen?« Seine Antwort ist das einzige, wonach man sich richten kann; manchmal wünscht ein Individuum, daß es weiter konfrontiert wird, auch wenn es noch so schmerzlich ist.


Ausdruck eigener Probleme

Wenn mich in meinem Leben etwas quält, bin ich bereit, das in der Gruppe auszudrücken, aber andererseits vergesse ich nicht, daß ich für die Leitung der Gruppe bezahlt werde und meine Probleme in einer anderen Gruppe oder mit einem Therapeuten bearbeiten sollte, statt die Zeit der von mir geleiteten Gruppe dafür zu beanspruchen. Wahrscheinlich bin ich in dieser Sache aber zu vorsichtig. In einem Fall hatte ich tatsächlich das Gefühl, die Gruppe zu hintergehen. Ich war von einem ernsten Problem sehr stark in Anspruch genommen, hatte aber das Gefühl, daß es die Gruppe nichts anging, und sprach nicht darüber. Im Nachhinein glaube ich, daß es für den Gruppenprozeß sehr förderlich gewesen wäre, wenn ich meine Sorgen ausgesprochen hätte; ich glaube, es wäre den anderen danach viel leichter gefallen, sich selbst auszudrücken.
Wenn ich mich nicht frei genug fühle, meine persönlichen Probleme zur Sprache zu bringen, hat das zwei negative Konsequenzen. Erstens höre ich den anderen nicht so gut zu wie sonst, und zweitens weiß ich aus Erfahrung, daß es die Gruppe sowieso merkt, wenn ich beunruhigt bin. Die Gruppe glaubt dann, sie sei in irgendeiner Weise die Ursache.

Vermeidung von Planung und »Aufgaben«

Ich versuche jedes Verfahren zu vermeiden, das geplant ist; gegen Künstlichkeit bin ich ausgesprochen allergisch. Wenn irgendein geplantes Verfahren ausprobiert wird, sollten die Gruppenmitglieder über die Planung genauso informiert sein wie der Gruppenleiter und selbst entscheiden, ob sie diesen Ansatz verwenden wollen oder nicht.
In ganz seltenen Fällen, wenn die Gruppe auf dem Nullpunkt angelangt oder ich selbst frustriert war, habe ich einen »Kunstgriff« ausprobiert, der aber meistens nichts gebracht hat - wahrscheinlich, weil ich selbst nicht glaube, daß es wirklich sinnvoll ist, damit zu arbeiten.
Man kann den Gruppenmitgliedern eine Verfahrensweise erklären, aber was daraus wird, hängt weitgehend von ihnen selbst ab. In einer teilnahmslosen Gruppe schlug ich ein »Spiel« vor, wie es andere Gruppen auch spielen, um etwas in Bewegung zu setzen. Es sollten zwei Kreise - ein äußerer und ein innerer - gebildet werden, und wer im äußeren Kreis stand, sollte versuchen, die Gefühle der Person auszudrücken, die ihm im inneren Kreis gegenüberstand. Die Gruppe beachtete den Vorschlag überhaupt nicht und tat, als sei er nie gemacht worden. Aber binnen einer Stunde hatte ein Mann den zentralen Aspekt des Vorschlags aufgegriffen und gesagt: »Ich möchte für John sprechen und sagen, was er meiner Ansicht nach tatsächlich fühlt.« In den folgenden Tagen geschah es mindestens ein dutzendmal, daß andere das gleiche taten, aber spontan und auf ihre Weise, nicht weil sie einem Vorschlag folgten.
Für mich ist alles echt, was spontan geschieht. Und daher kann man Rollenspiel, Körperkontakt, Psychodrama und Übungen, wie ich sie beschrieben habe, oder andere Verfahren durchaus anwenden, wenn sie wirklich das ausdrücken, was man im Augenblick tatsächlich empfindet.
Spontaneität ist das wertvollste und am schwersten zu definierende Element, das ich kenne. Ich tue etwas ganz spontan, und es ist höchst wirkungsvoll. In der nächsten Gruppe bin ich versucht, es wieder zu tun - »spontan« -, und ich begreife nicht, warum die Wirkung ausbleibt. Offenbar war die Spontaneität nicht echt.


Vermeidung interpretierender oder prozeßbezogener Bemerkungen
Ich mache nur sehr sparsame Bemerkungen zum Gruppenprozeß, da die Gefahr besteht, daß sie die Gruppe befangen machen und den Mitgliedern das Gefühl geben, sie würden kontrolliert. Bemerkungen dieser Art implizieren auch, daß ich die Gruppenteilnehmer nicht als Personen, sondern als eine Art von Haufen oder Konglomerat betrachte, und das möchte ich vermeiden. Wenn überhaupt, dann ist es das beste, wenn Bemerkungen über den Gruppenprozeß von den Gruppenmitgliedern selbst kommen.
Ganz ähnlich denke ich von prozeßbezogenen Kommentaren über das Individuum. Für mich ist es beispielsweise wichtiger, das Gefühl der Eifersucht zu erfahren und es offen zu erleben, als vom Gruppenleiter zu hören, wie er das Verhalten bezeichnet. Ich habe jedoch nichts dagegen, wenn ein Gruppenmitglied dergleichen tut. So beklagte sich zum Beispiel ein Fakultätsmitglied über Studenten, die immer Fragen stellen und ständig Antworten auf ihre Fragen erwarten. Er dachte, sie wären nicht selbstsicher genug. Wieder und wieder wollte er von mir wissen, wie er sich demgegenüber verhalten sollte, bis schließlich ein anderes Gruppenmitglied sagte: »Sie führen uns gerade sehr deutlich vor Augen, worüber Sie sich beklagen.« Diese Bemerkung schien sehr viel zu helfen.
Ich neige nicht dazu, in das einzudringen, was hinter dem Verhalten einer Person stehen könnte. Mir scheint, eine Interpretation der Ursache individuellen Verhaltens kann nie mehr als eine hochgespannte Vermutung sein. Sie kann nur dann von Bedeutung sein, wenn eine Autorität mit ihrer ganzen Erfahrung hinter ihr steht. Aber mit dieser autoritären Einflußnahme möchte ich nichts zu tun haben. »Ich glaube, Ihr Verhalten ist nur deshalb so prahlerisch, weil Sie sich als Mann unzulänglich fühlen« — dies ist eine Bemerkung, wie ich sie nie machen würde.


Das therapeutische Potential der Gruppe

Wenn in einer Gruppe eine sehr ernste Situation entsteht und ein Individuum psychotisches Verhalten zeigt oder seltsam und bizarr reagiert, dann verlasse ich mich auf die Gruppenmitglieder, weil ich aus Erfahrung weiß, daß die Gruppe therapeutisch wirksam werden kann und manchmal therapeutischer wirkt als ich selbst. Bisweilen greift man als Therapeut zu Fachbezeichnungen und sagt zum Beispiel: »Das ist absolut paranoides Verhalten!« Die Folge ist, daß man sich etwas zurückzieht und die betreffende Person eher wie ein Objekt behandelt. Das naivere Gruppenmitglied behandelt die Person jedoch weiterhin als Person, und das ist meiner Erfahrung nach weitaus therapeutischer. Deshalb verlasse ich mich in Situationen, in denen ein Gruppenmitglied eindeutig pathologisches Verhalten zeigt, viel eher auf die Weisheit der Gruppe als auf meine eigenen Kenntnisse, und häufig bin ich zutiefst erstaunt über die therapeutischen Fähigkeiten der Mitglieder. Das ist ebenso demütigend wie begeisternd. Ich erkenne in solchen Fällen immer wieder, über welch unglaubliches Hilfspotential der durchschnittliche unausgebildete Mensch verfügt, wenn er sich nur frei genug fühlt, dieses Potential zu nutzen.

Physische Bewegung und physischer Kontakt
Ich drücke mich in physischer Bewegung so spontan wie möglich aus, obwohl ich in dieser Hinsicht nicht besonders frei bin. Aber wenn ich mich unruhig fühle, stehe ich auf, strecke mich und gehe herum; wenn ich mit einer anderen Person den Platz tauschen möchte, dann frage ich, ob sie dazu bereit ist. Man kann auf dem Boden sitzen oder liegen, sofern es den persönlichen Bedürfnissen entspricht. Ich bemühe mich jedoch nicht sonderlich darum, bei anderen physische Bewegung zu fördern, aber es gibt Gruppenleiter, die das sehr gut und sehr wirkungsvoll können.
Mit der Zeit habe ich gelernt, mit physischem Kontakt zu reagieren, wenn es wirklich, spontan und angemessen scheint. Als einmal eine junge Frau zu weinen begann, weil sie geträumt hatte, daß niemand in der Gruppe sie liebt, umarmte und küßte ich sie und streichelte ihr Haar. Wenn eine Person leidet, und ich spüre in mir den Wunsch, zu ihr zu gehen und meinen Arm um sie zu legen, dann tue ich das. Aber ich versuche nicht, diese Art des Verhaltens bewußt zu fördern. Ich bewundere die jüngeren Leute, die in dieser Hinsicht lockerer und freier sind.


Die Ansicht dreier verschiedener Generationen

Als ich das obere Kapitel geschrieben hatte, bot sich mir die Gelegenheit zur Diskussion über nichtverbale Kommunikation und physischen Kontakt mit meiner Tochter, Mrs. Natalie R. Fuchs, und mit einer meiner Enkelinnen, Anne B. Rogers. Natalie hat häufig selbst Gruppen geleitet, und Anne, die das College besucht, hatte kurz zuvor an einer Encounter-Gruppe teilgenommen. Beide waren enttäuscht, daß ich diese Themen nicht ausführlicher behandelt hatte, und mir kam die Idee, durch Wiedergabe ihrer Beobachtungen zu zeigen, wie sich die Fragen des physischen Kontakts und anderer nichtverbaler Kommunikationswege den drei Generationen einer Familie darstellen. Das Folgende ist kein wortwörtlicher Bericht, sondern eine sinngemäße Darstellung des jeweiligen Gesprächs, wobei die erste Person Singular deutlich machen soll, daß jede der Damen für sich spricht. Hier zunächst Natalie Fuchs.
»Ich habe als Gruppenmitglied aus verschiedenen physischen und nichtverbalen Erfahrungen sehr viel für mich gewonnen. Deshalb habe ich sie auch in Gruppen eingeführt, deren Leiterin ich war, und ich finde, daß die Gruppenmitglieder diese neuen Formen der Kommunikation sehr zu schätzen wissen.
Ich nehme immer auch selbst an diesen Erfahrungen teil, die ich in eine Gruppe einführe. Mir persönlich fällt es schwer, den Leuten zu sagen, was sie tun sollen. Es fällt mir auch schwer, ihnen vorzuschlagen, was sie tun könnten, aber ich mache es mir dadurch leichter, daß ich jedem Mitglied jederzeit die Möglichkeit biete, aus solchen Übungen auszusteigen. Wenn ich Teilnehmer einer Gruppe bin, dann möchte ich die Freiheit der Wahl haben - ich mag keine Befehle erhalten, deshalb gebe ich auch keine.
Ich glaube, daß unsere Gesellschaft hinsichtlich körperlicher Berührungen entsetzlich unfrei ist. Sie unterstellt ihnen immer nur eine Bedeutung: die sexuelle - ob nun die hetero- oder die homosexuelle. Auf diese Weise bringen wir uns um sehr viel Wärme und Unterstützung. Im Schutz der Gruppe kann ein Individuum jedoch das Risiko eingehen, diese neuen Wege zu erproben und seine Gefühle in bezug auf Berührungen kennenzulernen. Eine Frau stellt vielleicht fest, daß sie von einem viel jüngeren Mann väterlich umarmt werden möchte, homosexuelle Gefühle für eine andere Frau empfindet und sich von einem bestimmten Mann sexuell angezogen fühlt. All diese Gefühle können akzeptiert werden. Statt sich vor ihren Emotionen zu fürchten, kann sie aufgrund ihrer neu entdeckten Gefühle rationale Entscheidungen treffen.
Für mich ist es wichtig, daß nichtverbale Übungen dem momentanen Bedürfnis oder der jeweiligen Stimmung der Gruppe oder bestimmter Individuen in der Gruppe entsprechen. Wenn die Gruppenmitglieder gerade erst begonnen haben, sich kennenzulernen und einander zu vertrauen, dann schlage ich etwas vor, das ihnen hilft, sich auf einer ziemlich tiefen Ebene zu offenbaren.
Zum Beispiel neigen die Leute in vielen Gruppen dazu, sich einander wie auf einer Cocktail-Party vorzustellen: >Ich bin Mutter, Hausfrau oder Sozialhelferin.< In solchen Fällen mache ich vielleicht den Vorschlag, daß jeder ein abstraktes Selbstporträt von sich oder seinem Inneren zeichnet. Die Zeichnungen werden an die Wand geheftet und erläutert. >Das ist der zornige Teil in mir - dieser rote Klecks hier. Die meiste Zeit bleibt er eingemauert, aber manchmal bricht er hier und da durch.<
Es kann sein, daß Gruppenmitglieder zu der Zeichnung Fragen stellen, aber Interpretationen unterbinde ich, da sich das Objekt selbst enthüllen soll.
Gelegentlich benutze ich folgende Instruktionen, um einer Gruppe zu helfen, sich möglichst schnell kennenzulernen. >Es fällt uns offenbar schwer, über die gesellschaftlich akzeptierte Art des gegenseitigen Kennenlernens hinauszukommen. Für diejenigen, die etwas Neues ausprobieren möchten, schlage ich vor, daß wir herumgehen, uns die Hand geben, einander mit Vornamen anreden und in die Augen blik-ken.< Und einige Minuten später: >Jetzt geben wir uns nur noch die Hand und sehen uns in die Augen.< Und dann: >So, jetzt lassen wir das Händeschütteln und suchen uns eine andere Möglichkeit, um Hallo zu sagen.<
Die Leute erfahren auf diese Weise sehr viel über sich selbst und andere. Darüber wird dann entweder anschließend oder in einer späteren Sitzung gesprochen.
Ich habe festgestellt, daß das Spiel >Blinde Kuh<, bei dem eine Person mit verbundenen Augen von einer anderen Person geführt wird, sehr geeignet ist, das Verhalten in bezug auf Abhängigkeit deutlich zu machen. Es gibt sehr viele sogenannte >Vertrauens-Übungen<, die ich auch angewandt habe. Für mich ist es wichtig, daß sie nicht einfach als Party-Spiele betrachtet, sondern im rechten Augenblick eingesetzt werden.
Ich habe zusammen mit einem anderen Gruppenleiter eine Gruppe zur Förderung der Sinneswahrnehmungen (>sensory awareness group<) für entfremdete Jugendliche geleitet und dabei viele in Esalen entwickelte Verfahrensweisen angewandt. Außerdem nehme ich an den wöchentlichen therapeutischen Sitzungen dieser Gruppe teil. In diesen therapeutischen Sitzungen befaßt man sich hauptsächlich mit früheren Erfahrungen - mit Beziehungen in der Familie, mit schlechten Trips und Einstellungen gegenüber der Schule und der Gesellschaft. Die Erfahrungen in der Sinnesbewußtheits-Gruppe scheinen die Therapie zu ergänzen. Sie betonen die positiven Dinge im Leben - die Freuden des Berührens, des Riechens, des Sich-hier-und-jetzt-Bewußtseins.
Eines Tages machte einer der Jungen einen sehr erschöpften und einsamen Eindruck auf mich. Ich fragte, ob wir irgend etwas für ihn tun könnten, und er sagte: >Es war eine ungeheuer anstrengende Woche für mich - zu Hause und überhaupt. Was ich jetzt wirklich gerne hätte, das wäre eine Körpermassage.< Er legte sich auf den Bauch, und die übrigen Mitglieder der Gruppe versammelten sich um ihn und massierten ihn kräftig und liebevoll. Er schien zu spüren, daß sie sich um ihn sorgten.
Häufig geschieht in einer Gruppe spontan etwas Nichtverbales, wenn der Gruppenleiter zuvor klargestellt hat, daß Handlungen dieser Art erlaubt sind.
In einer Erwachsenengruppe bat ein Mann die anderen Mitglieder um Feedback. Sie teilten ihm ihre Eindrücke ehrlich und offen mit. Auf mich wirkte er, so wie er in der Ecke saß und aufgrund dessen, was er uns in anderen Sitzungen erzählt hatte, einsam, ängstlich und passiv. Als ich an der Reihe war, bat ich ihn, aus seiner Ecke herauszukommen und sich vor mich zu setzen, da ich so direkter reagieren könnte. Als er Platz genommen hatte, konnte ich nicht anders, als ihm einen leichten Stoß zu versetzen. Er fiel zurück, und ich stieß ihn erneut an. Er fiel noch weiter zurück. Ich wurde ärgerlich und stieß ihn diesmal fest gegen die Schulter. Wir sprachen kein Wort, sahen uns aber die ganze Zeit über an. Schließlich setzte er sich zur Wehr, und wir begannen zu kämpfen, bis ich merkte, daß ich ihn nicht zu Boden bekam. Aus dieser Erfahrung gewannen wir beide sehr viel. Ich glaube, er fühlte sich zumindest vorübergehend wie ein Mann.
Wir reden fast immer über das, was unsere nichtverbalen oder physischen Kontakte für uns bedeuten. Einige Erfahrungen scheinen sich in vielen Gruppen zu wiederholen. Die unter Umständen wichtigste ist die Erkenntnis, daß Berührung >desexualisiert< wird. Das heißt nicht, daß sie ihre sexuellen Nebenbedeutungen verliert, aber sie büßen viel von ihrem beängstigenden Charakter ein, und die Berührung als solche erhält eine ganze Reihe neuer Bedeutungen. Das kann auch dazu führen, daß ein Gruppenmitglied sich fragt: >Möchte ich einer anderen Person wirklich nahe sein?< Und da es schließlich viel einfacher ist, anderen oder gar sich selbst mit Worten etwas vorzumachen, wirft diese Erfahrung auch die Frage auf: >Bin ich aufrichtig? Meine ich auch, was ich sage, oder bin ich nur in meinen Handlungen wirklich?< Das sind einige der positiven Seiten, die ich bei dieser Art von Gruppenerfahrung festgestellt habe.«
Soweit Natalie, die als Gruppenleiterin berichtet hat.
Als nächstes der Bericht von Anne, meiner Enkelin, über die nichtverbalen Aspekte einer Encounter-Gruppe, in der sie einer Gruppe zum erstenmal so weit vertraut hatte, daß sie sich auf physische Weise ausdrücken konnte. Auch dieser Bericht ist eine Rekonstruktion unserer Unterhaltung.
»John, ein Gruppenmitglied, brachte aus früheren Gruppen Erfahrungen mit Psychodrama und Körperbewegung mit. Zuerst ging er uns allen auf die Nerven, weil er sich uns überlegen zu fühlen schien, aber gegen Ende der ersten abendlichen Sitzung begannen wir plötzlich alle, uns in die Mitte des Zimmers zu begeben. Ich weiß nicht, vielleicht hatte er damit angefangen; mit einem Mal waren wir jedenfalls eine dichte Masse von Körpern, hatten einander die Arme umgelegt und schwankten mit geschlossenen Augen vor und zurück. Es war ein ungewöhnliches Gefühl, und am nächsten Tag fiel es uns allen viel leichter, in physischen Kontakt zueinander zu treten, wenn wir den Wunsch danach hatten.
Es wäre schwer, alle Arten zu beschreiben, in denen wir unsere Gefühle physisch ausdrückten. Manchmal saßen wir dicht beieinander auf dem Boden, oder wir hielten uns an den Händen. Bei anderen Gelegenheiten versetzten sich Mitglieder, die wütend aufeinander waren, gegenseitig mehr oder weniger feste Stöße. Einmal kam es zu einem wütenden Ringkampf, bei dem wir anderen uns bereithielten, die beiden Männer und das Zimmer zu schützen, falls das nötig werden sollte. Aber es gab auch sehr zarte Augenblicke, in denen Leute einander umarmten und streichelten. Und eines Abends fühlten wir uns ausgelassen und albern und drückten auch das aus - indem wir wie die Affen herumsprangen und tanzten. Es machte Spaß, alles einfach so herauszulassen, wie es kam.
In unserer Gruppe waren zwei Männer, die ausgesprochen Angst vor Berührungen hatten. Der eine war verheiratet und hatte das Gefühl, seiner Frau gegenüber irgendwie unfair zu sein, wenn er andere Frauen in der Gruppe berührte oder ihnen zärtliche Gefühle zeigte. Seine Einstellung änderte sich nach und nach. Der andere war ein verkrampfter junger Bursche, der zu glauben schien, er würde völlig die Kontrolle über sich verlieren, wenn er seine Gefühle nicht außerordentlich streng kontrollierte - besonders seine zornigen und sexuellen Gefühle.
Als dieser junge Mann sehr emotional von einem Problem in seiner Familie sprach, das viel Ähnlichkeit mit einem Problem in meiner Familie hatte, begann ich zu weinen. Ich ging einfach zu ihm und weinte an seiner Schulter weiter. Hinterher schien es mir, als hätte ihm das geholfen, zu erkennen, daß physischer Kontakt mit einem

Mädchen nicht unbedingt Sex bedeutet. Später konnten wir darüber diskutieren, warum seine Intensität auf Mädchen beängstigend wirkt.
Ich glaube, etwas von dem, was all dies für mich bedeutet hat, steht in den Notizen, die ich mir im Anschluß an die Gruppe gemacht habe. Sie sind ziemlich flüchtig, aber wenn du willst, kannst du sie verwenden. (Ich habe aus diesen Notizen nur einiges ausgewählt, da es aus Platzgründen nicht möglich ist, sie vollständig zu zitieren:)
Verbale Kommunikation: sehr wichtig. Aber Worte sind auch eine Barriere; können benutzt werden, um Kontakt abzuwehren. Und was kann ich tun, wenn ich Dinge oder mich selbst auf andere Weise ausdrücken will? Kann ich den anderen mit Augen, Lächeln, mit einer Berührung erreichen?
Wir gehen alle herum und achten darauf, nicht mit anderen zusammenzustoßen. So viel Energievergeudung, nur um etwas zu vermeiden.
Aber nichts ist schöner und menschlicher, als festgehalten, umarmt, geliebt zu werden, die Wärme und Offenheit eines anderen zu spüren und dem anderen das gleiche zu geben. Worte können täuschen, eine Umarmung nicht.
Warum fürchten wir uns so, andere zu berühren? Weil Berührung Sex bedeutet.
Aber siehst du es nicht? Es gibt nicht nur Schwarz oder Weiß. Dazwischen liegt unendlich viel mehr. Sicher - berühren, umarmen, festhalten ist auch Sex. Der kühlste Händedruck, selbst wenn er jede Emotion leugnet, ist sexuell. Es geht nicht darum, Berührung zu desexualisieren, sondern darum, die Existenz von Sinnlichkeit anzuerkennen und sie zu akzeptieren. Wenn ich die Berührungserfahrung akzeptieren kann, wird sie mich nicht länger beunruhigen. Wenn ich meine Reaktionen akzeptiere, die sie in mir auslöst, werde ich wahrscheinlich nicht Angst und Abneigung erleben, sondern Liebe, Wärme und Freude - die wahren Inhalte einer Umarmung.
Wenn ich in einer Gruppe oder sogar bei einem Individuum Unsicherheit hinsichtlich meines Verhaltens zeige, wenn ich zu jemandem hingehen und seine Hand ergreifen möchte, um ihn wissen zu lassen, daß ich ihn verstehe, aber nicht weiß, ob meine Geste angenommen wird, dann fühle ich mich innerlich verkrampft und angespannt, als säße ich auf einem Vulkan und versuchte, eine Eruption zu verhindern. Ein scheußliches Gefühl. Mein Verstand
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sagt mir: >Sei kein Narr! Laß das sein, man wird dich zurückweisen. Der andere wird sich ungemütlich fühlen, und dir wird es peinlich sein; alle werden sich über dich wundern; mach dich nicht verdächtige Also bleibe ich verkrampft und ängstlich sitzen und wünsche mir, ich wäre frei.
Es ist etwas so Natürliches und Schönes, warm und wirklich zu sein, spontan das Leben zu spüren, anzuerkennen und es zu teilen.«
Dies war eine ziemlich lange Abschweifung, aber ich hoffe, sie hat dazu beigetragen, nicht nur eine Tendenz bei den Encounter-Grup-pen, sondern auch eine Tendenz innerhalb unserer Gesellschaft deutlich zu machen. Meine Tochter Natalie kann in den von ihr geleiteten Gruppen Bewegung und Kontakt viel freier einsetzen als ich. Und für mich ist völlig klar, daß es mir als Student unmöglich gewesen wäre, genauso zu empfinden oder dieselben Aufzeichnungen zu machen wie meine Enkelin Anne. Es ändern sich eben die Encounter-Gruppen wie die Zeiten.

Mängel, die mir bewußt sind

Ich fühle mich in einer Gruppe, in der jedes Gefühl ausgedrückt wird, weitaus wohler als in einer apathischen Gruppe. Ich bin nicht besonders geschickt, wenn es darum geht, eine Beziehung herzustellen, und ich hege große Bewunderung für einige Gruppenleiter, von denen ich weiß, daß sie ohne weiteres imstande sind, echte und bedeutsame Beziehungen herzustellen, die sich auch weiterhin entwickeln. Ich wähle eine solche Person häufig als zweiten Gruppenleiter.
Wie ich bereits kurz erwähnte, dauert es bei mir ziemlich lange, bis ich meinen eigenen Ärger spüre und ausdrücke. Daher kann es vorkommen, daß ich mir meiner Verstimmung erst später bewußt werde und sie auch erst später ausdrücke. Kürzlich ärgerte ich mich in einer Gruppe verschiedentlich über zwei Teilnehmer. Mein Ärger über die erste Person wurde mir erst mitten in der Nacht klar, und ich mußte bis zum nächsten Morgen warten, um ihn auszudrücken. Im anderen Fall konnte ich den Ärger bereits während der Sitzung, in der er aufkam, realisieren und ausdrücken. Beide Male führte dies zu einer echten Kommunikation, zu einer Verstärkung der Beziehung und nach und nach zu echten gegenseitigen Sympathien. Aber leider lerne ich in diesem Bereich nur sehr langsam und weiß daher zu würdigen, was

andere durchmachen, wenn sie versuchen, ihre Abwehr so weit zu lockern, daß ihnen unmittelbare Gefühle auch bewußt werden können.

Ein besonderes Problem
In den letzten Jahren mußte ich mich mit einem Problem auseinandersetzen, das sich in der einen oder anderen Form jedem stellt, der durch seine Schriften und Theorien bekannt geworden ist. Die Leute kommen mit allen möglichen Erwartungen in meine Gruppen. Ich versuche mich von diesen Hoffnungen und Ängsten so schnell wie möglich abzusondern. Durch Kleidung, Benehmen und meinen ausdrücklichen Wunsch, man möge mich als Person sehen und nicht als einen Namen, ein Buch oder eine Theorie, versuche ich für die Gruppenmitglieder eine Person zu werden. Es ist immer wieder erfreulich für mich, eine Gruppe von beispielsweise jungen Schülerinnen oder Geschäftsleuten zu finden, für die ich nicht ein »Name« bin und in der ich meine Fähigkeiten als die Person, die ich bin, unter Beweis stellen muß. Ich hätte das junge Mädchen am liebsten geküßt, das zu Beginn einer Gruppe herausfordernd sagte: »Ich finde, das alles klingt ziemlich riskant. Wer sind Sie eigentlich, und wer sagt, daß Sie das können?« Ich erwiderte, daß ich einige Erfahrung in der Arbeit mit Gruppen hätte und hoffte, man würde feststellen, daß ich für diese Arbeit qualifiziert sei; ich könnte ihre Bedenken jedoch durchaus begreifen, und sie müßte sich ihr Urteil über mich selbst bilden.


Verhalten, das mir nicht förderlich scheint.

Zu Beginn dieses Kapitels betonte ich zwar, daß es viele wirksame Arten der Gruppenarbeit gibt, aber es gibt auch eine Anzahl von Leuten, die Gruppen führen und die ich nicht empfehle, weil mir ihr Ansatz für eine Gruppe und ihre Mitglieder nicht förderlich, sondern eher schädlich erscheint. Ich kann dieses Thema nicht abschließen, ohne einige dieser Verhaltensweisen zu erwähnen. Die Forschung auf diesem Gebiet ist noch so jung, daß man nicht vorgeben kann, Ansichten und Ansätze wie die folgenden basierten tatsächlich auf eindeutigen Untersuchungsergebnissen. Diese Ansichten sind ganz einfach ein Resultat meiner Erfahrung, und ich werde sie auch nur als solches formulieren.
1.    Ich bin entschieden mißtrauisch gegenüber Personen, die hier und dort auftreten, um das derzeitige Interesse an Gruppen für sich auszunützen. Das enorm wachsende Interesse innerhalb der Bevölkerung unseres Landes hat Leute hervorgebracht, deren Devise offenbar lautet: »Der Wagen rollt, spring auf. Sieh zu, daß du schnell berühmt wirst.« Wenn ich diese Auffassung bei Personen, die mit Gruppen arbeiten, vorfinde, dann bin ich tief gekränkt.
2.    Die Arbeit eines Gruppenleiters bleibt wirkungslos, wenn er die Gruppe antreibt, manipuliert, ihr Vorschriften macht und versucht, sie zu seinen eigenen unausgesprochenen Zielen zu führen. Diese Einstellung kann, auch wenn sie nur andeutungsweise vorliegt, das Vertrauen der Gruppe in den Gruppenleiter verringern (oder gar zerstören) oder - was noch schlimmer ist - die Gruppenmitglieder zu seinen treuen Anhängern machen. Wenn ein Gruppenleiter bestimmte Ziele im Auge hat, dann teilt er sie der Gruppe am besten mit.
3.    Daneben gibt es den Gruppenleiter, der den Erfolg oder Mißerfolg einer Gruppe nach der Zahl der Mitglieder beurteilt, die geweint haben oder »angeturnt« wurden. Diese Art der Beurteilung scheint mir reichlich fragwürdig.
4.    Ich empfehle keinen Gruppenleiter, der nur eine Ansatzmöglichkeit als das einzig wichtige Element des Gruppenprozesses betrachtet. Für den einen ist der »Angriff auf die Abwehr« die Conditio sine qua non. Ein anderer schwört einzig und allein auf die Methode, »aus jeder Person den grundlegenden Zorn herauszuholen«. Ich habe großen Respekt vor Synanon und seiner wirkungsvollen Arbeit mit Rauschgiftsüchtigen, aber was mich empfindlich stört, ist das eilfertig formulierte Dogma, daß unnachgiebiges Attackieren, gleichgültig, ob es auf echten oder unechten Gefühlen beruht, das einzige Kriterium ist, nach dem der Erfolg oder Mißerfolg einer Gruppe beurteilt werden kann. Ich möchte, daß feindselige oder zornige Gefühle ausgedrückt werden, wenn sie vorhanden sind, und ich drücke sie gern selbst aus, wenn sie wirklich in mir auftauchen, aber es gibt noch eine ganze Menge anderer Gefühle, die im Leben und in der Gruppe genauso wichtig sind.
5.    Ich kann keine Person als Gruppenleiter empfehlen, deren eigene Probleme so groß und so bedrückend sind, daß sie Gefahr läuft, das Gruppeninteresse auf sich selbst zu konzentrieren und dann nicht mehr imstande ist, andere Personen und ihre Probleme wahrzunehmen. Eine solche Person wäre besser Mitglied einer Gruppe als Gruppenleiter.
6.    Ich begrüße keinen als Gruppenleiter, der häufig die Motive oder die Ursachen des Verhaltens von Gruppenmitgliedern interpretiert. Wenn diese Interpretationen unzutreffend sind, nützen sie nichts. Wenn sie zutreffen, dann können sie heftige Abwehr hervorrufen oder, noch schlimmer, der Person allen Widerstand nehmen und sie verwundbar und möglicherweise verletzt zurücklassen. Feststellungen wie: »In Ihnen sitzt bestimmt eine Menge latenter Feindseligkeit«, oder: »Ich glaube, Sie kompensieren Ihre fehlende Männlichkeit«, können monatelang an einem Individuum nagen und sein Vertrauen in seine eigene Fähigkeit, sich selbst zu verstehen, untergraben.
7.    Ich mag es nicht, wenn ein Gruppenleiter irgendwelche Übungen oder Aufgaben mit Worten beginnt wie: »Und nun wollen wir alle « Das ist einfach eine spezielle Form der Manipulation, der sich das Individuum nur sehr schwer widersetzen kann. Wenn Übungen angesetzt werden, dann sollte meiner Ansicht nach jedes Gruppenmitglied die vom Gruppenleiter eindeutig ausgesprochene Möglichkeit haben, an ihr teilzunehmen oder ihr fernzubleiben.
8.    Ich mag keinen Gruppenleiter, der sich von jeder persönlichen emotionalen Beteiligung an der Gruppe distanziert - der den Fachmann hervorkehrt und sich aufgrund seines überlegenen Wissens imstande wähnt, den Gruppenprozeß und die Reaktionen der Gruppenmitglieder zu analysieren. Dies findet man häufig bei Leuten, die sich ihren Lebensunterhalt als Gruppenleiter verdienen. Ihr Verhalten läßt meist auf innere Abwehrhaltung und auf mangelnden Respekt vor den Gruppenmitgliedern schließen. Sie verleugnen ihre eigenen spontanen Gefühle und bieten der Gruppe das Modell der jederzeit kühlen, analytischen Person, die genau das Gegenteil von dem ist, an das ich glaube. Jedes Gruppenmitglied wird natürlich genau dieses Modell als Ziel anstreben - das Gegenteil dessen, worauf ich meine Hoffnung setze. Ich persönlich hoffe, daß Nichtabwehr und Spontaneität - nicht die Verteidigung der eigenen Abgeschlossenheit - in einer Gruppe entstehen werden.
Ich möchte klarstellen, daß ich nichts gegen all diese bereits erwähnten Eigenschaften bei jedem Gruppenmitglied einzuwenden habe. Mit einem manipulierenden, ständig interpretierenden, attackierenden oder emotional neutralen Individuum wird die Gruppe selbst umzugehen wissen. Sie wird dieses Verhalten auf die Dauer einfach nicht zulassen. Wenn aber ein Gruppenleiter dieses Verhalten zeigt, dann besteht die Gefahr, daß er der Gruppe eine Norm setzt, bevor die Gruppenmitglieder gelernt haben, daß sie ihn ebenso behandeln und konfrontieren können wie alle anderen.


Schluß

Ich habe versucht zu beschreiben, wie ich mich als Gruppenleiter verhalten möchte. Nicht immer gelingt es mir, meine eigenen persönlichen Absichten durchzuführen, was gelegentlich zur Folge hat, daß die Erfahrung für die Gruppe wie für mich selbst weniger befriedigend sein mag. Ich habe auch versucht, die Verhaltensweisen zu beschreiben, die ich nicht für förderlich halte. Ich hoffe, daß diese Darstellung andere ermutigt, über ihren persönlichen Stil der Gruppenleitung zu sprechen.

Veränderungen durch Encounter-Gruppen: bei Personen, Beziehungen und Organisationen
hat. Wir repräsentieren also nur einen Teil des breiten Spektrums spezieller Theorien, Praktiken und Akzentuierungen, die die Gruppenbewegung von heute charakterisieren. Deshalb lautet die Frage von meiner Perspektive aus, wie ich sie zu beschreiben versucht habe: Welche Veränderungen habe ich bei Individuen im Anschluß an die Erfahrung mit einer Encounter-Gruppe festgestellt?



Es wird viel darüber debattiert, ob die Gruppenerfahrung das Verhalten in irgendeiner Weise signifikant verändert und ob diese Veränderungen auch von Dauer sind. Ich möchte in diesem Kapitel ihren Einfluß auf das individuelle Verhalten, auf die Beziehungen der Individuen sowie auf die Politik und Struktur von Organisationen untersuchen, denen viele dieser Individuen angehören. Ich werde dabei in erster Linie von meinen eigenen Erfahrungen ausgehen und die bislang noch begrenzten Kenntnisse, die die Forschung uns vermittelte, zu einem späteren Zeitpunkt erläutern.
Aus irgendwelchen Gründen habe ich eigentlich den Wunsch, die Schlußfolgerungen als erstes niederzuschreiben - ich weiß, das ist eine sehr fragwürdige Art der Darstellung. Später hoffe ich, ein Gefühl für die persönlichen und phänomenologischen Grundlagen vermitteln zu können, auf denen diese vorläufigen Schlußfolgerungen basieren.
Vielleicht sollte ich noch betonen, daß meine Feststellungen weitgehend auf Erfahrungen mit Gruppen aufbauen, die von meinen Kollegen oder mir selbst geleitet wurden. Ich glaube, wir sehen den Schwerpunkt unserer Arbeit ein wenig anders als heutzutage üblich. Wie aus dem vorangegangenen Kapitel ersichtlich, versuchen wir in erster Linie rezeptiv zu sein und zu verstehen, statt zu manipulieren; wir vertrauen mehr auf die Gruppe und den Gruppenprozeß als auf die Kraft und Fähigkeit des Gruppenleiters; wir erwarten uns verbale wie nichtverbale Kommunikation, ergreifen aber weder für das eine noch das andere Partei; wir möchten, daß die Gruppenmitglieder ihre eigenen individuellen Zielvorstellungen entwickeln, statt irgendein vorgegebenes Ziel wie Glück, Freude oder Zufriedenheit anzustreben. Wir wissen, daß der Gruppenprozeß schmerzhaft ist, wenn er zum Wachsen führt, und wir glauben, daß Wachsen immer verwirrend und beunruhigend, aber auch gleichermaßen befriedigend ist. Wir glauben nicht, daß die Gruppenerfahrung, gleichgültig wie erhebend sie auch sein mag, in sich etwas Abgeschlossenes ist; wir sind vielmehr der Überzeugung, daß ihre Bedeutung in erster Linie in dem Einfluß liegt, den sie auf das spätere Verhalten außerhalb der Gruppe

Individuelle Veränderung

Zahlreiche Bilder und Erinnerungen tauchen in mir bei dem Versuch auf, diese Frage zu beantworten. Ich habe gesehen, wie Personen ihre Vorstellungen von sich selbst sehr deutlich ändern, wenn sie ihre Gefühle in einem akzeptierenden Klima erforschen und von Gruppenmitgliedern hartes oder gütiges Feedback erhalten. Ich habe gesehen, wie Personen beginnen, ihr eigenes Potential zu realisieren und es durch ihr Verhalten in der Gruppe wie auch außerhalb derselben einzusetzen. Immer wieder habe ich erlebt, das Personen aufgrund einer Erfahrung mit Encounter-Gruppen ihrem Leben eine ganz neue -philosophische, berufliche oder intellektuelle - Richtung geben. Einige Personen machen Encounter-Gruppen mit, ohne davon berührt zu werden und ohne signifikante Veränderungen zu zeigen. Manche bleiben von der Erfahrung nur scheinbar unberührt; sie zeigen aber später in ihrem Verhalten höchst interessante Veränderungen. Von den vielen hundert Personen, die ich bei meiner Arbeit mit Gruppen kennengelernt habe, zeigten zwei meines Dafürhaltens negative Veränderungen. Die eine geriet im Anschluß an die Gruppe in eine vorübergehende Psychose, und die andere (die, wie ich später erfuhr, bereits vor der Gruppe viele psychotische Symptome gezeigt hatte) verfiel nach der Gruppenerfahrung einer anhaltenden Psychose. Beide Fälle passierten vor mehr als zwanzig Jahren, und ich glaube, heute wäre die Wahrscheinlichkeit, daß sich derartiges in einer meiner Gruppen ereignet, weitaus geringer. Eine Anzahl von Personen hat nach einer Encounter-Gruppe mit einer Einzel- oder einer Gruppentherapie begonnen. In einigen Fällen schien dies ein höchst positiver Schritt, der zu weiterem Wachsen führte, während sich in anderen Fällen die Frage stellte, ob die Erfahrung vielleicht zu solch schnellen und schmerzlichen Veränderungen führte, daß das Individuum gezwungen war, weitere Hilfe zu suchen. Letzteres würde ich persönlich als verhängnisvoll betrachten.

V'eränderte Beziehungen..

Ich möchte mich meiner zweiten Frage zuwenden und auch sie ganz summarisch beantworten. Welche Veränderungen habe ich bei den Beziehungen von Personen während und/oder im Anschluß an Encounter-Gruppen festgestellt? Ich habe Personen gekannt, für die die Erfahrung in der Encounter-Gruppe eine fast ans Wunderbare grenzende Veränderung der Tiefe ihrer Kommunikation mit dem Ehegatten oder den Kindern bedeutete. Manchmal wurden zum erstenmal echte Gefühle geteilt. Das geschah bisweilen höchst dramatisch, wenn die Gruppenteilnehmer abends nach Hause zurückkehrten oder wenn es sich um Mitglieder von Ehepaar- oder Familiengruppen handelte. Diese Personen waren imstande, ihre wachsenden Einsichten zu teilen und das Risiko auf sich zu nehmen, ihre wahren positiven wie negativen Gefühle auszudrücken, sobald sie sich ihrer bewußt geworden waren. Dieser Prozeß kostet eine Menge Schlaf, aber das Wachsen der Beziehung ist nachgerade außergewöhnlich. Ich habe Väter gekannt, die nach Hause kamen und zum ersten Mal seit Jahren imstande waren, mit ihren Söhnen zu kommunizieren. Ich habe Lehrer gesehen, die aufgrund ihrer Erfahrungen in einer Encounter-Gruppe aus ihren Klassen persönliche, vertrauensvolle und interessierte Lerngruppen machten, in denen die Schüler offen und voll an der Aufstellung des Lernplans und an allen anderen Aspekten ihrer Erziehung beteiligt waren. Harte Geschäftsleute, die eine bestimmte berufliche Beziehung als hoffnungslos bezeichneten, machten sich auf, um diese Beziehung in eine konstruktive Beziehung zu verwandeln. Studenten aus Priesterseminaren mit den verbalen Idealen der Liebe und der Brüderlichkeit - in scharfem Kontrast zur Realität einer fast totalen Entfremdung und Einsamkeit — unternahmen gewaltige Anstrengungen, um zu einer echten Kommunikation und Nächstenliebe zu gelangen.
Es hat Fälle gegeben, in denen ein Ehegatte, der an Einsicht und Offenheit enorm gewonnen hatte, nach einer Encounter-Gruppe nach Hause kam und den anderen durch seine Spontaneität so erschreckte oder bedrohte, daß die Kommunikationskluft vorübergehend - oder auch für immer - noch größer wurde. Manchmal erkennen Ehepaare in einer Gruppe die verborgenen Differenzen zwischen sich und finden häufig zu einer echten Versöhnung; in anderen Fällen geben sie offen zu, daß sie die Kluft zwischen sich nicht überbrücken können. Ich habe viele erstaunliche Veränderungen der Beziehungen zwischen
Personen erlebt; die meisten dieser Veränderungen waren positiv, andere aber — vom gesellschaftlichen, nicht unbedingt von einem persönlichen Standpunkt aus - auch negativ.


Organisatorische Veränderungen
Und was hat sich im Anschluß an Encounter-Gruppen in den Methoden und Strukturen von Organisationen verändert? Zu dieser Frage kann ich aufgrund meiner Erfahrung nur in geringem Umfang und äußerst vorsichtig Stellung nehmen. Ich habe Situationen erlebt, in denen sich Individuen beträchtlich veränderten, während ihre Institutionen sich kaum veränderten. Lehrer können tiefe, ihr Wachsen ungemein fördernde Erfahrungen machen, aber bei der nächsten Fakultätssitzung fast oder genauso steril sein wie in der Vergangenheit. Auf der anderen Seite habe ich erlebt, daß Lehrer nach einer Encounter-Gruppe das Benotungssystem änderten, Schüler oder Studenten in alle einschlägigen Komitees beriefen und die Kommunikation zwischen Verwaltung, Lehrkörper und Schülerschaft förderten.
Leitende Angestellte und Geschäftsführer gaben anstrengende und Spannungen erzeugende Praktiken wie »periodisches Beurteilen Untergebener« zugunsten eines gegenseitigen und konstruktiven Feedbacks auf. Ich habe gesehen, wie interpersonale Kommunikation zur Grundlage eines Betriebes wurde, und ich habe inzwischen erkannt, daß Encounter-Gruppen, die individuelle Unabhängigkeit, Offenheit und Integrität fördern, nicht zu bedingungsloser Loyalität gegenüber der Institution beitragen. Leitende Angestellte haben ihre Stellung aufgegeben, Priester und Nonnen ihre Orden verlassen und Professoren die Universität gewechselt. So manche haben sich aufgrund des neuen Muts, den ihnen diese Gruppen gaben, entschlossen, lieber außerhalb als innerhalb ihrer jeweiligen Institution für Veränderungen einzutreten. Kurz gesagt, so wie Wachsen und Veränderungen Unruhe in das Leben des Individuums bringen, so bringen sie Unruhe und Aufruhr auch fast unausbleiblich in Institutionen und Organisationen, was für die traditionelle Verwaltung natürlich eine höchst bedrohliche Erfahrung darstellt.

Die Basis für diese vorläufigen Schlußfolgerungen

Ein Fall von individueller Veränderung



Es scheint, als hätte ich bei dieser Darstellung mit dem Ende begonnen, aber irgendwie ergibt sich diese Reihenfolge ganz natürlich. Es waren Lektionen, die ich gelernt, und vorläufige Ergebnisse, die ich aus meiner Erfahrung gezogen habe.
Wie sieht diese Erfahrung aus? Ich habe mich mit einem breiten Spektrum von Encounter-Gruppen befaßt, um mein eigenes Wissen zu vergrößern. Ich verfüge über eine dreijährige Erfahrung als Berater von Verwaltung, Fakultät und Studenten der University of California, bei der ich sehr viel gelernt habe. Eine andere wichtige Erfahrung waren die drei Jahre Zusammenarbeit mit den Schulen -Volksschulen, Highschools und Colleges die dem Orden vom Unbefleckten Herzen unterstehen. Ferner machte ich viel zu kurze -zwei- bis fünftägige - Erfahrungen mit den Verwaltern und einigen Fakultätsmitgliedern der sechs Claremont Colleges, mit Förderern, Verwaltern, Fakultätsmitgliedern und Studenten der Columbia University, mit Fakultät und Studenten von dreizehn Junior-Colleges, mit den Präsidenten großer Konzerne, mit leitenden Angestellten in unterschiedlichen Positionen, mit Krankenschwestern, mit schwarzen und braunen Ghettobewohnern, die die Wohlfahrt und die öffentlichen Gesundheitsdienste beanspruchen mußten, mit Sozialarbeitern und Fürsorgern aller Kategorien und schließlich mit ganzen Collegeklassen, die in Encounter-Gruppen unterrichtet wurden. Bei den betreffenden Gruppen handelte es sich um Encounter-Gruppen, Gruppen zur persönlichen Entwicklung, aufgabenorientierte Gruppen und beratende Gruppen. Ich habe Gruppen mit Fremden, mit Kollegen, mit Jugendlichen und mit Ehepaaren geleitet, nicht nur in Amerika, sondern auch in Australien, Japan und Frankreich. Keine Erfahrung habe ich mit Gruppen, die aus Familien, Kindern im Volksschulalter oder älteren Erwachsenen bestehen. Aber alles in allem bin ich mit einer großen und vielfältigen Anzahl von Personen in den unterschiedlichsten Situationen zusammengetroffen. Ich habe mich bemüht, so offen und aufmerksam zu sein wie möglich, und die zu Beginn dieses Kapitels getroffenen Feststellungen sind das beste, was ich aus dieser umfangreichen Erfahrung machen konnte.
Ich habe viele Fälle von tiefgreifender persönlicher Veränderung beobachtet, möchte aber hier nur einen Fall wiedergeben. Fünf Jahre nach einer Gruppenerfahrung beschreibt ein Mann die Einstellungen, mit denen er in die Encounter-Gruppe kam, was er dort erlebte und wie sich anschließend sein Verhalten, seine Persönlichkeit und seine Lebensziele veränderten. Hier der Brief des Mannes, den ich John nennen werde.

»Lieber Carl,
ich möchte versuchen, so klar und genau wie möglich die Veränderungen zu beschreiben, die sich als Resultat der Erfahrung in einer Encounter-Gruppe vor nunmehr fünf Jahren in meinem Leben ergeben haben. Es waren viele und unterschiedliche Veränderungen, die alle in eine Richtung liefen, und jede von ihnen bereitete mich gewissermaßen auf die nächste vor und führte mich zu ihr. Wenn ich mich an jenes einwöchige Erlebnis im Workshop mit Ihnen zurückerinnere, fange ich sofort wieder an, ganz aufgeregt zu werden, und ich spüre ganz genau die Emotionen, die ich damals hatte. Ich freute mich damals auf den Workshop, ahnte aber nicht im geringsten, was mir bevorstand. Ich wußte nicht einmal, was eine Encounter-Gruppe ist. Ich hatte nie etwas davon gehört. Ich wußte nur, daß ich Ihre Psychologie und Ihre Philosophie schätzte, da sie meinen eigenen Ansichten in allem vollkommen entsprachen. Ich freute mich darauf, eine ganze Woche lang zu Füßen des >Meisters< sitzen zu können.
Wir begannen an einem Montag. Am Mittwoch war ich ziemlich durcheinander. Ich konnte mir beim besten Willen einfach nicht erklären, was hier vorging. Und ich schwieg. Als ich den ersten Schock wegen der kritischen Bemerkung eines Teilnehmers zu dem Mann, der neben mir saß, überwunden hatte, begann ich verwundert und ängstlich und mit wachsender Erregung die Interaktion rings um mich zu beobachten. Es schien so, als würde etwas Neues, Fesselndes, Berauschendes, aber auch etwas Beängstigendes Wirklichkeit werden. Ich begann mich zu fragen, ob das alles real war oder ob wir bloß ein Spiel spielten. Ich glaube, meine ersten Worte an diesem Mittwoch waren: >Meinen wir das alles eigentlich ernst, oder spielen wir bloß?< Ich erinnere mich, gesagt zu haben, daß ich nicht sicher wäre, ob ich die Gruppenmitglieder überhaupt kennenlernen wollte. Ich war absolut nicht sicher, ob ich überhaupt wollte, daß sie mich kennenlernten.
Sobald ich aber das Gefühl hatte, >in< der Gruppe zu sein, und dieses Gefühl auch aussprach, begann etwas ganz Außerordentliches. Die beiden letzten Tage schienen mir wie die Geburt zu einer neuen Existenz. Es war, als würde eine ganze Reihe von Dingen, die verbal einen Wert für mich hatten, nun tatsächlich Wirklichkeit. Es ist unheimlich schwierig, diese Erfahrung zu beschreiben. Ich hatte keine Ahnung, wie wenig ich mir meiner tiefsten Gefühle bewußt war oder was sie für andere Leute bedeuten mochten. Erst als ich anfing auszudrücken, was von irgendwo tief in mir aufzusteigen begann, und die Tränen in den Augen der anderen Gruppenmitglieder sah, weil ich etwas gesagt hatte, was auch für sie zutraf - erst von diesem Augenblick an spürte ich, daß ich wirklich ein Teil der Menschheit war. Vor dieser Gruppenerfahrung hatte ich nie im Leben >mich selbst< so intensiv erlebt. Und daß dieses >Ich< von der Gruppe bestätigt und geliebt wurde, war wie ein Geschenk, das ich nie zu erhoffen wagte, weil ich bis dahin nicht einmal im Traum gedacht hätte, daß es das gibt. Ich merkte, daß ich den anderen Gruppenmitgliedern etwas Einmaliges, Wunderschönes und Beglückendes gab, wenn ich meine innersten Gefühle, mein innerstes Ich ausdrückte, das ich bislang immer versteckt hatte. Ich konnte das kaum fassen. Aber es ließ sich auch nicht leugnen, dazu waren die Beweise zu stark und zu eindeutig. Ich erinnere mich an das ganz starke Gefühl, daß ich zum erstenmal die Welt der Menschen entdeckt hatte, daß ich -wenn ich wirklich ich sein und über die Dinge hinwegkommen konnte, die mir Angst vor anderen machten -, daß ich dann andere Menschen lieben und von ihnen geliebt werden konnte. Obwohl ich in der Zwischenzeit einige sehr schmerzliche Perioden des Wachsens in meinem Leben durchgemacht habe, kann ich die Realität der positiven Hoffnung nicht leugnen, die ich in mir trage, seit ich in jener ersten Gruppe erfahren habe, was Menschlichkeit ist, Menschlichkeit, die mein ist und die ich mit anderen teilen kann.
Und wie hat sich nun mein Leben aufgrund jener Erfahrungen in der ersten Encounter-Gruppe geändert? Beruflich überhaupt nicht. Ich war damals Seminarist und bin mittlerweile Priester. Aber innerhalb meines Berufs als Priester haben sich sowohl in mir als auch außerhalb von mir tiefe Veränderungen vollzogen. Innerlich begann ich aus einem Jungen ein Mann zu werden. Äußerlich wurde ich in bezug auf Autorität und menschlichen Respekt wesentlich freier. Im Innern war ich mir selbst und damit auch anderen gegenüber viel gegenwärtiger. Meine Arbeit als Berater und Therapeut wurde um hundert Prozent wirkungsvoller. Ich hatte mir so viel Mühe gegeben, ein guter Berater zu sein, Einfühlungsvermögen zu zeigen und anderen Menschen wirklich zuzuhören. Ich war zwar kein schlechter Berater, aber irgendwie schien das, was ich erreichen konnte, ziemlich begrenzt.
Während des Workshops nahm ich an einem Beratungs-Praktikum teil, und der Unterschied zwischen dem, was sich früher in meinem Beratungszimmer abspielte, und dem, was nach meiner Erfahrung mit der Encounter-Gruppe passierte, war für mich nachgerade erstaunlich. Ganz plötzlich stellte sich alles, was ich theoretisch gelernt hatte, tatsächlich ein, ohne daß ich große Energien darauf verwandt hätte. Ich war da. Ich hörte. Ich war imstande, mich selbst und meine eigenen Gefühle zu riskieren, und der Klient öffnete sich plötzlich und nahm auf völlig neue Weise Fühlung mit sich auf. Mit einem Mal lief der Beratungsprozeß wie nie zuvor. Wahrscheinlich sollte ich sagen, daß ich in einer Weise wirksam wurde, wie ich es nie zuvor gewesen war. Und das alles wirkte vollkommen echt, natürlich und in keiner Weise künstlich. Diesen hohen Grad an Wirksamkeit habe ich seither nicht immer beibehalten. Manchmal bin ich besser, manchmal schlechter, aber nach dem Workshop war ich nie wieder die gleiche Person, die ich gewesen war, als ich zum erstenmal in die Gruppe kam. Ich habe meine Ausbildung als Berater und Therapeut fortgesetzt und viele weitere Erfahrungen in Encounter-Gruppen gesammelt. Ich bin heute als Gruppenleiter tätig.
Statt wie geplant ein Schuldirektor zu werden, wechselte ich auf das Gebiet der Beratungs-Psychologie und promoviere in Kürze über menschliches Verhalten. Mir selbst und auch anderen wurde klar, daß ich für den menschlichen Bereich und für den Bereich der interpersonalen Beziehungen geeigneter bin als für einen Verwaltungsposten. Ich hätte einen sehr schlechten Verwaltungsbeamten abgegeben, aber ich besaß das Potential für einen guten Berater und Therapeuten. Im Verlauf des Prozesses, der mit jener ersten Gruppenerfahrung begann, habe ich einige der persönlichen Unzulänglichkeiten erkannt, die mich zu einem schlechten Verwaltungsbeamten gemacht hätten, und begonnen, an ihnen zu arbeiten.

Ich glaube, wenn ich nach der entscheidendsten Veränderung aufgrund der Gruppenerfahrung gefragt würde, müßte ich sagen, daß ich begann, als Person bestimmtere Formen anzunehmen. Ich bekam allmählich eine klarere Vorstellung von mir selbst. Manches von dem, was auftauchte, war gar nicht angenehm, aber es war Teil eines Ganzen, das für andere akzeptabel war und dadurch auch für mich immer akzeptabler wurde. Ich begann meine eigene Person zu besitzen; ich gehörte mir. Jene Person, die sich so häufig wie ein kleiner Junge inmitten einer Welt erwachsener Menschen vorkam, die Angst hatte und von dieser Angst daran gehindert wurde, in Beziehungen zu anderen Personen ganz lebendig und voll funktionierend zu sein, gehörte mir. Und als ich anfing, mich für diesen kleinen Jungen in mir verantwortlich zu fühlen, da begann er zu wachsen und stark zu werden; vielleicht hörte er auch nur auf, sich ständig an mir festzuhalten. Jedenfalls, ich wurde ich. Anders kann ich es nicht ausdrücken. Ich mußte auf einige der Vorteile verzichten, die man als kleiner und hilfloser Junge genießt und mehr und mehr von den Verantwortlichkeiten eines erwachsenen Mannes übernehmen, aber was war das für ein Vergnügen! Seit jener ersten Gruppenerfahrung habe ich einiges dazugelernt. Ich habe größeres Vertrauen zu Menschen. Ich weiß, daß andere Leute im Innern genauso sind wie ich selbst. Ich weiß, daß ich mit ihnen eine sehr reale, schöne und manchmal schmerzliche Existenz teile. Ich habe viel mehr Hoffnung in die Zukunft des Menschen. Denn wenn wir einander als Personen rühren und berühren können, so wie es in einer Encounter-Gruppe möglich ist, dann beginnt die >Erlösung< für uns alle wahr zu werden, und wir können die totenähnliche Existenz der Einsamkeit und der Kälte hinter uns lassen und die Möglichkeit eines vollen Lebendig-Seins erkennen. Ich kann aus vollem Herzen >ja< sagen zur Menschheit, weil ich auf sehr tiefe und persönliche Weise, die ich ebenso tief denken wie fühlen kann, entdeckt habe, daß jeder Mensch auf der Welt ein überquellendes Reservoir an Leben und Liebe für sich selbst und andere zu sein vermag. Ich weiß, daß dieses Reservoir nur allzuoft nicht genutzt wird, weil wir Angst haben und uns abschirmen, aber ich weiß auch, daß es genutzt werden kann, genutzt worden ist und genutzt werden wird. Und allein darauf kommt es an.

Ihr JOE
Die Erfahrungen dieses Mannes waren fast ausschließlich positiv, obwohl er einige sehr schmerzliche Perioden des Wachsens innerhalb dieser fünf Jahre erwähnt. Für andere waren die Veränderungen noch schmerzlicher, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden.
Aussagen von solchen Personen bestärken mich in der Überzeugung, daß während und im Anschluß an Erfahrungen mit En-counter-Gruppen tiefe persönliche und verhaltensbedingte Veränderungen auftreten können und tatsächlich auftreten. Natürlich kommt es nicht bei jeder Person zu Veränderungen von dieser Tiefe. Die bislang nur minimalen Untersuchungen sind in diesem Punkt sogar ziemlich widersprüchlich, obwohl signifikante Veränderungen des Selbst-Konzepts ziemlich sicher zu sein scheinen. Aber wenn zwei, drei oder fünf Leute nach einer Encounter-Gruppe auffallende und dauerhafte Veränderungen zeigen, Veränderungen in Richtung auf wachsendes Bewußtsein als Mensch und Person, dann werde ich von dieser Tatsache auch weiterhin beeindruckt sein, selbst wenn die Veränderungen bei anderen Gruppenmitgliedern vielleicht nicht so tiefgreifend und auffällig sind.


Beispiele für veränderte Beziehungen

Anhand von drei Beispielen soll gezeigt werden, wie sich die Beziehungen von Personen im Anschluß an eine Encounter-Gruppe verändern können. Das erste Beispiel zeigt sehr deutlich, wie Kinder Veränderungen von Gefühl und Einstellung spüren, auch wenn sich das äußere Verhalten kaum verändert zu haben scheint. Eine Mutter, die in der Gruppe eines meiner Kollegen gewesen war, schrieb kurz nach Beendigung der Erfahrung: »Wie Sie wissen, stehen die Dinge zwischen Pete, meinem Mann, und mir ziemlich gut. Aber Sie haben wahrscheinlich bemerkt, daß ich dasselbe in bezug auf die Kinder nie behauptete. Mich störten die Streitigkeiten zwischen Marie und Alice. Mich störte, daß Marie Bettnässerin war. Mich störte auch, daß ich ihnen nicht sehr viel Zuneigung entgegenbringen konnte. Und es störte mich, daß sie nie richtig mit mir sprachen. Als ich Sonntag mit meinem neuen wahren Selbst nach Hause kam, war ich auf alle möglichen Reaktionen gefaßt. Womit ich nicht gerechnet hatte, war die Schnelligkeit und Intensität der Reaktion.« Kurz nachdem sie zu Hause angekommen war, mußte Marie ins Bett. Die Mutter fragte die Zehnjährige, ob sie sie einseifen solle. »Binnen einer Stunde hatten

QU
wir über Menstruation, Gott, Teufel, Himmel, Hölle, Haß auf andere, Alpträume und Ungeheuer vor dem Fenster gesprochen. Natürlich waren diese Dinge schon früher besprochen worden, aber nie mit dieser Intensität und Vollständigkeit. Alice, die fünfzehn Monate älter ist als Marie, kam irgendwann zu uns ins Badezimmer, und es endete damit, daß ich sie auch einseifen mußte. Das war eine Überraschung, denn sie steht bereits mitten in der Entwicklung und ist, was ihren Körper betrifft, sehr eigen. Marie sagte: »Was hast du in dieser Gruppe gemacht? Hast du gelernt, wie man nett zu Kindern ist?< Ich sagte: >Nein, ich habe gelernt, ich selbst zu sein, und das ist sehr schön.<«
Das zweite Beispiel ist ein Brief, den Bill und Audrey McGaw ein Jahr, nachdem sie eine Gruppe für verlobte und verheiratete Paare geleitet hatten, von einem Ehepaar bekamen. Dieser Brief spricht für sich selbst. Der Mann schreibt:

»Diesen Brief habe ich schon hundertmal angefangen. Er geht um das, was geschehen ist und weiter geschieht. Er ist voller Liebe. Voller Tränen, Freude und Liebe.
Während ich hier sitze und schreibe, treten mir die Tränen in die Augen, und Emotionen überkommen mich. Ich war noch nie zuvor imstande, einen solchen Brief zu schreiben. Ich möchte Ihnen danken und Ihnen sagen, daß Sie es geschafft haben. Sie haben gute Arbeit geleistet. Die Zeit war richtig gewählt, und ich griff zu. Jetzt habe ich es und werde es nie wieder verlieren. Ich werde es weitergeben.
Eileen und ich sind verheiratet, Eileen und ich leben zusammen. Wir haben Probleme, wir streiten uns und wir lieben uns. All das gäbe es nicht, wenn wir Sie beide nicht getroffen hätten. Aber wir haben Sie getroffen, wir haben einige Tage mit Ihnen verbracht und den Durchbruch geschafft. Es geschah zur rechten Zeit, und wir hatten das Glück, die richtigen Leute zu treffen; wir waren bereit, und Sie änderten unser Leben. Wir wissen jetzt, was möglich und erreichbar ist. Diese Basis, diese emotionale Sicherheit in unserer Ehe stellt für mich ein Sprungbrett dar, eine Öffnung, einen neuen Ausgangspunkt. Ich kann mit Worten einfach nicht beschreiben, was wirklich mit mir geschehen ist. Sie wissen jedoch, was es ist. Ich hab's. Es ist phantastisch.
Ich weiß jetzt, weshalb ich so lange gewartet habe, ehe ich Ihnen schrieb. Jetzt bin ich sicher. Mehr als ein Jahr ist vergangen, und

RA
jetzt ist die Angst vorüber. Ich werde nie mehr verlieren, was ich habe. Und was ich habe - das weiß ich jetzt - macht es mir möglich, größere Verantwortung zu übernehmen. Und jetzt verstehe ich auch, warum Sie, Audrey, und Sie, Bill, mit jeder Gruppe das durchmachen müssen, was Sie durchmachen.«
Ich möchte noch ein drittes Beispiel von einer Lehrerin und ihren Schülern anfügen. Eine Volksschullehrerin, die einige Monate zuvor an einer Encounter-Gruppe teilgenommen hatte, wurde schriftlich gefragt, ob die Erfahrung für sie irgend etwas bedeutet habe. Sie antwortete mit einem Brief: »Sie wollen wissen, was mit mir geschehen ist . .. ganz einfach: Jemand ist zu mir gelangt, zu meinem inneren Selbst. Ich hörte zu und ich hörte Dinge, die ich früher nie angehört und nie gehört hatte  es war schön. Ergebnisse? Ich höre meinen Schülern zu. Ich habe sie gefragt, ob ich früher jemanden abgewiesen oder jemandem nicht zugehört habe, und die größten Strolche der Klasse hoben allesamt die Hand. Sie sind im Grunde die empfindlichsten. Die letzten Monate waren die aufregendsten, erfreulichsten und glücklichsten Monate meines Lebens als Lehrerin gewesen, und es sieht aus, als bliebe es so.«
Ihre Beobachtung in bezug auf den problematischen Schüler - den »Strolch«, wie sie ihn nennt - sind sehr interessant. Es trifft häufig zu, daß Schüler, die Probleme schaffen, auf interpersonale Beziehungen sensibler reagieren als andere. Waren diese Kinder »Strolche« und hatte sie demzufolge das Gefühl, es lohne sich nicht, ihnen zuzuhören, oder wurden »Strolche« aus ihnen, weil sie das Gefühl hatten, daß man sie nicht anhörte? Eine nicht uninteressante Frage, die den sogenannten problematischen Schüler in einem ganz anderen Licht erscheinen läßt.
Ich möchte mit diesen drei Beispielen nicht mißverstanden werden. Nicht jeder Mutter, nicht jedem Ehepaar und nicht jeder Lehrerin widerfahren Dinge wie diese. Aber daß sie häufig geschehen, macht die Encounter-Gruppe zu einer sehr aufregenden interpersonalen Erfahrung. Sie kann dazu beitragen, daß die Menschen frei werden, spontan reagieren und sich ihrer selbst und des Lebens bewußter werden. Kurz gesagt, sie kann dazu beitragen, daß die Menschen in ihren Beziehungen zu anderen wirklich und wahrhaftig menschlich werden.
Ein Beispiel für organisatorische Veränderung

Es gibt auch Dutzende von Fällen signifikanter Veränderung der Einstellungen, Methoden und Strukturen von Institutionen, aus denen ich einen Fall ausgewählt habe, der zu sehr gemischten Schlußfolgerungen führt. Ich wünschte, ich könnte ihn mit der gleichen Lebendigkeit erzählen, mit der mir der Fall von einem langjährigen Lehrer der Schule berichtet wurde.
Es war eine Highschool für Knaben der weißen Mittel- und Oberschicht, die von einem katholischen Orden geleitet wurde und durch ihre hohen wissenschaftlichen und moralischen Anforderungen den Ruf einer »Prestige-Schule« erlangt hatte. Im Verlauf eines Jahrzehnts veränderte sich die Gegend, in der diese Schule lag, höchst drastisch, und zuletzt bestand die Schülerschaft zu 75 °/o aus Mexikanern, zu 20 °/o aus Farbigen und zu 5 % aus Orientalen. Sie war eine Ghettoschule geworden. Die Anforderungen waren gesunken, die Moral nicht minder, und das ganze Bild wurde weitgehend von der Drogenszene beherrscht. Trotzdem gab es, soweit es den Lehrkörper betraf, keine ernsthaften Probleme mit der Schule, da die strenge Disziplin des Ordens nach außen hin die angenehme Fassade einer konventionellen Erziehung aufrechterhielt.
Diese Fassade zerbrach während und anschließend an ein Schülerfest, bei dem die Schüler - vor allem ihre Anführer - dreist Alkohol und Rauschgift mitbrachten und verteilten. Als wäre das noch nicht genug, versuchte die Schülerschaft geschlossen, diese Dinge vor den Lehrern geheimzuhalten. Die Kluft zwischen Lehrern und Schülern schien unüberbrückbar.
Die Veränderungen begannen, als der Leiter der Schule alle Klassen zu einer Versammlung berief und sinngemäß sagte: »Wir alle wissen, daß wir vor einem ernsthaften Problem stehen. Laßt uns darüber reden.« Seine eigene Offenheit und die anderer Lehrer ermunterten die Schüler zur Diskussion. Zuerst kritisierten die »guten« Schüler das Verhalten der »bösen« Schüler bei jenem Fest. Aber nach und nach tauchten tieferliegende Fragen und Probleme auf. Die Schüler fanden ihr Leben sinnlos und Rauschgift angenehm, der Unterricht langweilte sie, und der Lernstoff hatte mit ihrem Leben nichts zu tun, die Lehrer waren uninteressiert, und die Disziplin wurde als repressiv empfunden. Außerdem erschienen ihnen die Bekleidungsvorschriften sinnlos, und sie beklagten die fehlende Berücksichtigung der Geschichte und Identität von Minoritäten. All diese Themen wurden
ÖQ
leidenschaftlich diskutiert und nicht unterdrückt. Die angegriffenen Lehrer blieben offen und reagierten nicht mit Abwehr, obwohl sie eindeutig überrascht und verletzt waren. Die Versammlung schloß mit einem Anflug von Hoffnung.
Das Resultat war, daß Schüler und Lehrer die restliche Zeit des Schuljahres und den Sommer über gemeinsam an den Problemen arbeiteten. Vier Mitglieder des Lehrkörpers, die ganz besonders »unter Beschuß« geraten waren, entschlossen sich zur Teilnahme an einem Ausbildungskurs für Gruppenleiter, den das Center for Studies of the Person in La Jolla angesetzt hatte. Ihre Erfahrungen in den En-counter-Gruppen waren so bereichernd, daß sie sich ungeheuer bestärkt fühlten in ihrem Wunsch, den Schülern zu vertrauen, sie zur Beteiligung an allen erzieherischen und verwaltungstechnischen Fragen der Schule zu ermuntern und in alle schulischen Bereiche die Atmosphäre einer Encounter-Gruppe zu tragen.
Die Ergebnisse dieser Bemühungen waren überraschend. Der Lehrkörper beschloß, den Schülern in bezug auf Pünktlichkeit, Benehmen, Drogen, Kleidung und Aussehen die Verantwortung selbst zu überlassen. Siebzig ausgewählte Schüler und der gesamte Lehrkörper trafen sich für drei Tage in einem Dorf außerhalb der Stadt, um Pläne für das kommende Schuljahr zu entwickeln. Damit bewies die Schule, daß es ihr ernst war mit dem, was sie sagte.
Als sie im Herbst das neue Schuljahr eröffnete, wurde der Kontrast zu anderen Ghettoschulen deutlich sichtbar. Während anderswo in den ersten Stunden die strengen Vorschriften und die für Uberschreitungen ausgesetzten Strafen verkündet wurden, erfuhren die Schüler dieser Schule, daß man ihnen vertraute, daß sie sicherlich Fehler machen würden, daß es aber nur darauf ankäme, aus den Fehlern zu lernen.
Was ergab sich daraus?
Zunächst einmal weigerten sich andere Schulen, gegen die Mannschaften dieser Schule zu spielen, weil unter den Sportlern Jungen mit langen Haaren und Barten waren. Dann bildeten sich ethnische Gruppen, die sich einheitlich kleideten und demonstrierten, was zu Protesten aus der Gemeinde führte. Aber als diese Gruppen merkten, daß ihr kreatives Denken, ihr Einfluß und ihre Stärke an der Schule willkommen waren, ließ ihr extremes Verhalten nach.
Viele Mitglieder des Lehrkörpers sahen sich im Laufe des Schuljahres außerstande, die neuen Richtlinien und Methoden zu akzeptieren; sie gaben am Ende des Jahres ihre Stellung auf, und mancher Be

fürworter des »neuen Kurses« war zutiefst entmutigt und glaubte, alles sei falsch gemacht worden.
Aber diese Zweifel hatten keine großen Auswirkungen auf die Schüler. Da Pünktlichkeit und Erscheinen zum Unterricht nicht mehr gefordert wurden, gab es so gut wie niemanden mehr, der nicht zum Unterricht erschien oder zu spät kam. Das Rauschgiftproblem war zumindest innerhalb der Schule weitaus geringer geworden. Aber am erstaunlichsten war, daß viele Schüler der Oberklasse den Wunsch äußerten, nach Abschluß der Highschool ein College zu besuchen - und das in einer Ghettoschule, aus der so gut wie niemand jemals auf ein College ging.
Ich möchte die Probleme nicht untertreiben. Einige Lehrer versuchten zu den autoritären Methoden der Vergangenheit zurückzukehren, aber es stellte sich heraus, daß man Freiheiten kaum rückgängig machen kann. Mancher Lehrer bekam Angst vor dem neuen und unbekannten Weg, den er eingeschlagen hatte. Die wenigen weißen Schüler reagierten in vielen Fällen auf die Vorgänge abweisend und feindlich. Die Eltern reagierten auf die neuen Entwicklungen verärgert und ungehalten, und es war nicht leicht, ihnen die neue Philosophie und ihre Zweckmäßigkeit klarzumachen. Es steht außer Zweifel, daß diese Schule in jenem ersten Jahr ein weitaus chaotischeres Bild bot als in den Jahren zuvor.
Dieses Beispiel illustriert viele Dinge, die ich über selbstgelenkte institutionale Veränderung erfahren und gelernt habe. Die Erfahrung in Encounter-Gruppen und eine Atmosphäre, wie sie in Encounter-Gruppen herrscht, können innerhalb einer Institution zu höchst konstruktiven Veränderungen führen, aber auch große Uneinigkeit unter den Mitgliedern oder Angehörigen der Institution hervorrufen, die Gemeinde beunruhigen, auf traditionsgebundene Personen zutiefst beunruhigend wirken und Anlaß zu der Frage geben, ob das Ergebnis eine konstruktive Veränderung oder einen chaotischen Fehlschlag darstellt. Die Gruppe jedoch, die uns am meisten beschäftigen sollte, die Personen, denen die Schule dient, empfanden die Erfahrung überwiegend als befreiend und erlösend, als ungemein belebend und lehrreich. Daher scheint das Ergebnis positiv zu sein, auch wenn vermeidbare Fehler gemacht wurden. Auch hätte die ganze Entwicklung langsamer und weniger schmerzlich verlaufen können. Offene und ehrliche Kommunikation von Gedanken und Gefühlen, Anerkennung von Schülern und Lehrern als gleichwertige Menschen und gemeinsames Bearbeiten aller auftauchenden Probleme führen zu echten und wahrscheinlich unwiderruflichen Veränderungen.
Ich habe hier ein drastisches und strittiges Beispiel für organisatorische Veränderungen angeführt, um zu zeigen, welch starke Auswirkungen der Geist des Vertrauens haben kann. Es ließen sich natürlich auch weitaus bescheidenere Beispiele anführen.
Ich hoffe, das dargelegte Material reicht aus, um zu zeigen, daß die eingangs aufgestellten Behauptungen nicht illusorisch sind. Erfahrungen in Encounter-Gruppen können bei der einzelnen Person und ihrem Verhalten, bei einer Vielzahl von menschlichen Beziehungen und bei den Methoden und Strukturen von Organisationen tiefgreifende Veränderungen in Gang setzen.